Rezension über:

Klaus Krüger / Alessandro Nova (Hgg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz: Philipp von Zabern 2000, 194 S., 121 s/w-, 4 Farb-Abb., ISBN 978-3-8053-2716-9, DM 148,00
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Rezension von:
Gerald Schröder
Kunstgeschichtliches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Gerald Schröder: Rezension von: Klaus Krüger / Alessandro Nova (Hgg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz: Philipp von Zabern 2000, in: sehepunkte 1 (2001), Nr. 1 [15.01.2001], URL: https://www.sehepunkte.de
/2001/01/2303.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Klaus Krüger / Alessandro Nova (Hgg.): Imagination und Wirklichkeit

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Der Band "Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit" versammelt die überarbeiteten elf Vorträge einer gleichnamigen Tagung, die im Sommer 1997 vom Kunsthistorischen Institut der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt a.M. veranstaltet wurde. Das Thema ist weit gefasst, zumal der im Titel angegebene historische Rahmen in beide Richtungen überschritten wird. Doch nicht nur die geschichtliche Bandbreite, sondern auch die Vielfalt der untersuchten europäischen Kulturräume und nicht zuletzt das weite semantische Spektrum der Allgemeinbegriffe, die den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung abstecken sollen, verleihen der Einleitung der beiden Herausgeber Klaus Krüger und Alessandro Nova besonderes Gewicht. Denn sie ermöglicht es, das heterogene Material der einzelnen Fallbeispiele mit Bezug auf eine Konkretisierung der leitenden Fragestellung zusammenzuführen. So machen die Herausgeber hier deutlich, dass der Fokus ihres Interesses auf dem Bild als Artefakt liegt, wobei dieses genauer als Medium begriffen wird, das im "Zwischenfeld von sinnlicher Erfahrung und mentalen Vorstellungsbildern" angesiedelt ist. Mit anderen Worten, in der Medialität des Bildes finden die beiden Komponenten des im Titel anvisierten Untersuchungsgegenstandes "Imagination und Wirklichkeit" zusammen. Im impliziten Rekurs auf das Projekt einer mediengeschichtlichen Bildwissenschaft von Hans Belting gehen die Herausgeber nicht nur der Frage nach, inwiefern das materialisierte Bild von der Warte des Produzenten her als Entäußerung der Imagination verstanden werden kann, sondern auch, wie die Imagination des jeweiligen Betrachters an der Konstitution des Bildes beteiligt ist und wie das materielle Bild wiederum auf die Imagination des Betrachters einwirken kann.

Krüger und Nova unterstreichen des weiteren ihr diachronisch und interdisziplinär orientiertes Untersuchungsinteresse, das sich zum einen in der Anordnung der Aufsätze und zum anderen in der Auswahl der Autoren widerspiegelt. Neben einer Mehrzahl von KunsthistorikerInnen sind zumindest mit Jean-Claude Schmitt ein Historiker, mit Thomas Lentes ein Religionswissenschaftler und mit Mieke Bal eine Literaturwissenschaftlerin vertreten.

Die ersten drei Aufsätze werden von den Herausgebern als Block zusammengefasst, weil sie aus einer mediävistischen Perspektive den Umbruch vom Mittelalter zur frühen Neuzeit thematisieren. So stellt Jean-Claude Schmitt die Funktion der Imagination als Gelenkstelle zwischen Seele und Körper heraus, die mit der Spirituslehre aristotelisch geprägter Wissenschaften im Mittelalter ihr theoretisches Fundament gefunden hat. Dabei kann er nicht nur auf den biblischen und antiken Topos von der Einwirkung der Imagination auf die Schwangerschaft, sondern auch auf das Motiv der Stigmatisation des hl. Franziskus zurückgreifen. Neben solchen Beispielen, die die Wirkung äußerer Bilder über die Imagination auf den Körper verdeutlichen, liefert Schmitt auch historische Belege dafür, wie die Einbildungskraft eines Betrachters die Sichtweise äußerer Bilder verändern konnte. Abschließend kann Schmitt am Beispiel des Stundenbuches Marias von Burgund deutlich machen, wie die Instrumentalisierung der Imagination im Rahmen christlicher Andacht im Artefakt des Bildes selbst reflektiert wurde.

Thomas Lentes untersucht die Funktionsweise innerer und äußerer Bilder mit Blick auf die veränderte Konzeption des Gedächtnisses im Zeitalter der Reformation. So unterscheidet er idealtypisch das mittelalterliche Sachgedächtnis, dem insofern ein ontologischer Zeichenbegriff zugrunde liegt, als es von einer Präsenz des Heiligen im materiellen Bild ausging, von einem neuzeitlichen Gedächtnis der Menschen, die im materiellen Bild nur noch ein Zeichen erblickten, das im Modus der Erinnerung und in didaktischer Funktion auf vergangenes Heilsgeschehen verweist. Entgegen der verbreiteten Meinung religionswissenschaftlicher und kunsthistorischer Forschung, dass die Theologie seit dem 2. Konzil von Nicäa vor allem mit der Festschreibung des Repräsentationsmodells sakraler Bilder der Idolatrie entgegenwirken wollte, vertritt Lentes die Auffassung, dass auch die Kirche indirekt zur verbreiteten Bilderverehrung beigetragen habe, indem sie in der Sakramentstheologie auf der Transsubstantiationslehre bestanden und damit die Voraussetzung für die Präsenz des Heiligen im materiellen Bild geschaffen habe. Abschließend stellt Lentes die These auf, dass mit zunehmender Illusionskraft sakraler Bilder um 1500 die Bildandacht seitens der Theologie verstärkt unter Verdacht geraten musste, was schließlich zu einem Bruch zwischen ästhetischer und theologischer Erfahrung bei den Reformatoren führte.

Genau an diesem Punkt setzt auch Jeffrey F. Hamburger mit seinen Überlegungen an, wenn er am Beispiel der Gemälde Jan van Eycks zeigt, dass sie trotz der neuen mimetischen Bildsprache ihre religiöse Funktion nicht verlieren. Indem der Illusionismus einer Nachahmung empirischer Wirklichkeit auch immer wieder bewusst gebrochen wird, verweisen die sakralen Bilder van Eycks letztlich auf eine höhere Form der Realität. Mit den neuen ästhetischen Mitteln wird also nicht nur das Zeitalter einer selbstreferentiellen Kunst eingeleitet, sondern zugleich eine neue und intensivere Form religiöser Andacht ermöglicht.

Nachdem mit den Bildern van Eycks bereits die frühe Neuzeit erreicht ist, untersucht Daniel Arasse die Zeichnungen und Gemälde Leonardo da Vincis im Spannungsfeld visuell erfahrbarer und intellektuell erkennbarer äußerer Wirklichkeit und zeigt darüber hinaus, welche Rolle die projektive Imagination im Prozess der "inventio" künstlerischer Formen spielte. So nutzte Leonardo die Umrisslinie in seinen anatomischen Zeichnungen, um - vergleichbar rhetorischer "enargeia" mit dem Ziel der "persuasio" - etwas sichtbar zu machen, was so in der Realität nicht zu sehen ist. Andererseits versuchte er in seinen Gemälden gerade durch die Auflösung der Konturen im Sinne des "sfumato", das wahrnehmbare Kontinuum empirischer Wirklichkeit zur Darstellung zu bringen. Den Gemälden ging allerdings ein zeichnerischer Findungsprozess voraus, in dem die Umrisslinie nun dafür genutzt wurde, in der chaotischen Struktur graphischer Formen das Ergebnis projektiver Imagination zu fixieren.

Alessandro Nova wendet sich mit seiner Interpretation der Fresken Correggios in der Camera di San Paolo in Parma zu Recht gegen die Lesarten Panofskys und Gombrichs, die dem Zyklus ein semantisch eindeutiges Programm zuschreiben. Demgegenüber plädiert Nova für eine "Polyphonie" der Bedeutung und stellt die plausible These auf, dass gerade die Opazität der Lektüre als Instrument der Machtausübung fungieren konnte. Die Anspielungen auf den Mythos von Diana und Aktäon lassen den Betrachter selbst zum Gejagten werden und setzen damit gleichsam eine Metamorphose in Gang, die Parmigianino mit der Inszenierung seiner Fresken in Fontanellato noch stärker in den Vordergrund rückte. Mit der leitenden Frage, wie ein sakrales Bild im System mimetischer Repräsentation in der Nachfolge der Definitionen Albertis zugleich eine metaphysische Realität sichtbar machen kann, knüpft Klaus Krüger implizit an die Überlegungen Hamburgers an. Dabei kann er unterschiedliche Bildstrategien ausfindig machen, die für eine Lösung dieses Problems in Anspruch genommen wurden: Etwa das "Schema einer bifokalen Raumordnung", welche die Nähe einer himmlischen Erscheinung dadurch erzielt, dass sie mit der perspektivisch evozierten Ferne eines Landschaftsprospekts kontrastiert wird, oder die quasi selbstreflexive Thematisierung des Bildes als Schleier oder Malerei, wodurch zugleich auf ein letztlich nur imaginativ erfahrbares Jenseits des Bildes verwiesen wird.

Während Krüger noch einmal das Thema des sakralen Bildes im Zeitalter der Kunst aufgegriffen hat und dem damit verbundenen Problem einer religiösen Instrumentalisierung der Imagination nachgegangen ist, untersucht Tanja Michalsky am Beispiel der profanen Ikonographie der Gemälde Pieter Bruegels d.Ä., wie diese Bilder Prozesse individueller Imagination beim Betrachter in Gang setzen können und damit reflexiv die subjektive Erfahrung von Welt als eine Möglichkeit ihrer Erkenntnis beschreiben. Im Anschluss daran zeigt Daniela Hammer-Tugendhat am Beispiel des Gemäldes "Die Pantoffeln" von Samuel van Hoogstraten, wie die hoch selbstreflexive Bildsprache dieses Interieurs zugleich an die Imagination des Betrachters appelliert, wobei der als "Bild im Bild" eingeblendeten weiblichen Rückenfigur diesbezüglich eine besondere Rolle als Projektionsfläche zukommt. Während Michalsky und Hammer-Tugendhat primär die Leistung der Imagination des Betrachters zum Thema machen, untersuchen Victor Stoichita und Anna Maria Coderch Goyas "Caprichos" als Imaginationsleistung des Künstlers, deren Funktion letztlich in einer Form der Selbsttherapie bestanden habe.

Die letzten beiden Aufsätze überschreiten bereits die Schwelle zur Moderne. So unterstreicht Stefan Germer gerade die Modernität der französischen Salonmalerei, weil sie im Unterschied zur zeitgleichen Avantgardekunst die "Industrialisierung der Phantasie mit handwerklichen Mitteln" als Massenmedium antizipiert und darüber hinaus als "Mittel der Disziplinierung psychischer Strebungen" fungiert habe. Dabei stellt Germer die These auf, dass die Historienbilder letztlich die spannungsvolle soziale Wirklichkeit der eigenen Zeit in eskapistischer Weise verstellt hätten. Ausgehend vom Bild des "Narziss" Caravaggios geht Mieke Bal schließlich der Frage nach, wie die hier aufscheinende psychoanalytische Erkenntnis, dass das Ich seine ursprünglich fragmentarische Beschaffenheit im Spiegelbild eines vermeintlich ganzen Körpers letztlich nicht überwinden kann, auch in der zeitgenössischen Kunst produktiv gemacht wird.

Die ganz unterschiedlich perspektivierten Fragestellungen der einzelnen Aufsätze machen deutlich, wie komplex das Verhältnis von realen und mentalen Bildern allein im Hinblick auf das Medium der Malerei - das hier vorrangig zum Gegenstand gemacht wurde - gedacht werden kann. Eine genauere Berücksichtigung der Einbildungskraft in ihren historisch zu differenzierenden Modellierungen zeichnet sich diesbezüglich als Forschungsdesiderat ab.

Gerald Schröder