Rezension über:

Günther Heydemann: Die Innenpolitik der DDR (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 66), München: Oldenbourg 2003, XII + 162 S., ISBN 978-3-486-55770-1, EUR 19,80
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Rezension von:
Arnd Bauerkämper
Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Arnd Bauerkämper: Rezension von: Günther Heydemann: Die Innenpolitik der DDR, München: Oldenbourg 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/3738.html


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Günther Heydemann: Die Innenpolitik der DDR

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Die Geschichte der DDR ist seit 1990 zu einem El Dorado für Historiker geworden. Die Zahl der Studien zu einzelnen Themen ist sogar für den Experten kaum noch überschaubar. Der Bedarf an griffigen Synthesen ist deshalb drängend geworden, sodass inzwischen die ersten Gesamtdarstellungen [1] und Forschungsübersichten [2] vorliegen, die auch die neueren Untersuchungen berücksichtigen. An diesen Publikationstrend schließt das von Günther Heydemann verfasste Buch an, das sich auf die "Innenpolitik der DDR" konzentriert. Der Band berührt aber auch damit zusammenhängende wirtschafts-, kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Probleme. Nach dem bewährten Gliederungsmuster der Reihe "Enzyklopädie deutscher Geschichte" folgt der inhaltlichen Darstellung ein problemorientierter Forschungsüberblick. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis schließt das durchweg informative Buch ab.

Im enzyklopädischen Überblick zeichnet Heydemann mit dem gebotenen Mut zur Reduktion den politischen Umbruch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nach: Die Durchsetzung der Alleinherrschaft der SED - vor allem durch die Verdrängung von früheren Sozialdemokraten aus dem Zentralkomitee (ZK) und die Bindung der bürgerlichen Parteien in der "Volkskongress"-Bewegung (1947/48) - und die Stalinisierung in der SBZ werden ebenso knapp und zutreffend nachvollzogen wie die Landumverteilung in der Bodenreform (1945/46). Das erste Kapitel behandelt zudem die Verstaatlichung der Industrie seit 1946 und die Folgen der 1946 erlassenen Schulreform. Allerdings ist die Darstellung analytisch auf die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 und - damit verbunden - die Durchsetzung der Planwirtschaft ausgerichtet, die von der Bildung der Deutschen Wirtschaftskommission im Juni 1947 ausging. Alternative Entwicklungswege, die in den ersten Nachkriegsjahren zumindest nicht völlig verstellt waren, werden damit unterbelichtet. Demgegenüber wird zutreffend die Schlüsselrolle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) akzentuiert, der die führenden Funktionäre der KPD und SED untergeordnet waren.

Heydemann hebt zu Recht hervor, dass der DDR grundsätzlich zwar die demokratische Legitimation fehlte, die SED-Führung die Integration der Bevölkerungsmehrheit in den neuen Staat aber keineswegs nur durch Terror und Zwang, sondern auch durch das Bekenntnis zum Bruch mit der Vergangenheit und erhöhte Ausbildungschancen erreichte. Außer dem Bekenntnis zum "Antifaschismus" banden zunächst Modernisierungs- und Reformhoffnungen die ostdeutsche Bevölkerung an die DDR. Vor allem das im Januar 1963 von der SED-Führung beschlossene "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung" (NÖSPL oder NÖS) schien den Wohlstand durch tiefgreifende Wirtschaftsreformen steigern zu können. Unter dem Eindruck des "Prager Frühlings" 1968 und der ökonomischen Krise 1969/70 beendete das Regime, das ohnehin durchweg auf der zentralen Kontrolle der ökonomischen Prozesse beharrt hatte, jedoch die Reformen, die den Betrieben - vor allem bei der Preisbildung - einen begrenzten Handlungsspielraum gewährt hatten. Hinzu traten neue politische Spannungen mit der sowjetischen Hegemonialmacht, sodass Walter Ulbricht, der in der DDR seit 1950 als Generalsekretär beziehungsweise Erster Sekretär der SED und (seit 1960) als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates zum dominierenden Politiker aufgestiegen war, am 3. Mai 1971 zurücktreten musste und durch Erich Honecker ersetzt wurde.

Die Herrschaft des neuen Ersten Sekretärs des ZK und (seit 1976) Staatsratsvorsitzenden war einerseits geprägt durch die wachsende internationale Anerkennung, andererseits durch eine ausufernde Sozialpolitik, mit der die Bevölkerung an das SED-Regime und an den zweiten deutschen Staat gebunden werden sollte. Heydemann zeigt, dass sich das Leistungsbilanzdefizit wegen der enormen Kosten der übersteigerten staatlichen Wohlfahrtspolitik, aber auch wegen der sprunghaft gewachsenen Energie- und Rohstoffpreise schon in den späten Siebzigerjahren deutlich erhöht hatte. Als die Sowjetunion 1981 ihre Erdöllieferungen an die DDR verringerte, geriet der zweite deutsche Staat in eine tiefe Verschuldungskrise. Nach Heydemanns überzeugender Interpretation hatte Honeckers sozialpolitisches Programm aber ohnehin die ökonomischen Ressourcen des zweiten deutschen Staates überspannt. Die Instabilität des SED-Regimes zeigte sich schließlich an der Herausbildung von Friedens-, Bürgerrechts- und Umweltgruppen, die in den Achtzigerjahren immer deutlicher und offener für politische Reformen eintraten. Mit der Demontage der Grenzsicherungsanlagen (Mai 1989) und der Öffnung der Westgrenze durch die ungarische Regierung (September 1989) gewannen Protest und Verweigerung schließlich eine Dynamik, die am 17. Oktober 1989 zum Rücktritt Honeckers führte, bevor am 3. Dezember das gesamte Politbüro und ZK aufgaben. Ende 1989 zeichnete sich darüber hinaus bereits die Wiedervereinigung Deutschlands ab, die nach dem Beschluss der Volkskammer zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes am 23. August 1990, der Unterzeichnung des Einigungsvertrages acht Tage später und dem Abschluss des "Zwei-plus-Vier"-Vertrages (12. September) am 3. Oktober 1990 offiziell vollzogen wurde.

Obgleich Heydemann die Entwicklung der DDR durchaus multiperspektivisch erklärt und keineswegs teleologisch als "Untergang auf Raten" [3] interpretiert, bleibt die insgesamt ausgewogene Studie unter dem Zwang zur gedrängten Darstellung auf nur 46 Seiten insgesamt etwas zu einlinig. Dieses Problem wird durch den Forschungsbericht im zweiten Kapitel entschärft, der sich keineswegs auf eine Addition einzelner Titel beschränkt, sondern diese auch inhaltlich einordnet. Freilich konnten dabei begrenzte Überschneidungen mit dem ersten, darstellenden Kapitel nicht durchweg vermieden werden. Zunächst zeichnet Heydemann Leistungen und Grenzen der DDR-Forschung in den beiden deutschen Staaten bis 1989/90 nach. Dabei werden vor allem die Defizite undifferenzierter modernisierungstheoretischer Ansätze akzentuiert. Demgegenüber fehlt hier eine kritische Auseinandersetzung mit dem Totalitarismusparadigma, das in der Bundesrepublik bis zu den Sechzigerjahren die Interpretation des zweiten deutschen Staates prägte (vergleiche aber 64). Auch überschätzt Heydemann den - vorübergehend durchaus beträchtlichen - Einfluss des "systemimmanenten" Untersuchungsansatzes, dem auch die 1978 gegründete "Gesellschaft für Deutschlandforschung" energisch entgegen trat.

Die Forschung seit 1990 ist vor allem von der Diskussion über die grundsätzliche Deutung der DDR-Geschichte bestimmt worden. Kann das SED-Regime als eine "moderne Diktatur", eine "sozialistische Partei-Diktatur" oder eine "Fürsorgediktatur" bezeichnet werden? War die DDR eine "sozialistische Ständegesellschaft", eine "Organisationsgesellschaft", ein "vormundschaftlicher Staat" oder eine "Aushandlungsgesellschaft" (60-63)? Zu Recht lehnt Heydemann eine eindeutige Interpretation mit einem dieser Begriffe ab, die ausnahmslos umstritten geblieben sind. Dies gilt auch für die Ereignisse vom September 1989 bis Oktober 1990, die in der Forschung als "Wende", "Implosion", "Umbruch", "Zusammenbruch", "Revolution" oder "Refolution" (mit jeweiligen attributiven Ergänzungen) bezeichnet worden sind. Das Buch vermittelt auch einen abwägenden Überblick über Gesamtdarstellungen zur DDR-Geschichte und über vergleichende Studien zur SED-Diktatur und zum "Dritten Reich". Ebenso werden Forschungstrends zur Beziehungsgeschichte zwischen den beiden deutschen Staaten knapp, aber präzise skizziert. Als Einzelthemen der neueren Historiografie zur DDR behandelt Heydemann besonders das Verfassungssystem, die Parteien und "Massenorganisationen" (vor allem die Freie Deutsche Jugend und den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund), Recht und Justiz sowie das Ministerium für Staatssicherheit. Darüber hinaus werden Studien zur Nationalen Volksarmee, zur ökonomischen Entwicklung des zweiten deutschen Staates, zu einzelnen gesellschaftsgeschichtlichen Problemen (besonders zum Konsum und zur Sozialpolitik), zur Bildung und Jugendpolitik, zur Rolle der Kirchen sowie zum Stellenwert von Kultur und Sport referiert. Besonders informativ ist schließlich eine knappe Zusammenfassung der Interpretation abweichenden Verhaltens in der SED-Diktatur und der Überblick über die dafür jeweils vorgeschlagenen historiografischen Konzepte und Begriffe.

Insgesamt zeigt Heydemanns gelungenes Buch, dass sich auch die neuere Forschung weitgehend auf die Frühgeschichte der DDR (bis zu den Sechzigerjahren) konzentriert hat. Obgleich die Diskussion alternativer Entwicklungsverläufe etwas zu kurz kommt, ist auch der Überblick über die Entwicklungstrends in den letzten beiden Jahrzehnten des zweiten deutschen Staates instruktiv. Das Buch enthält nur sehr wenige sachliche Fehler (zum Beispiel wurde die Kollektivierung offiziell nicht erst Ende 1961 abgeschlossen, sondern bereits im April 1960; vergleiche 89) und Ungenauigkeiten (Christoph Kleßmann prägte bewusst das Begriffspaar "Verflechtung und Abgrenzung" [4], nicht "Abgrenzung und Verflechtung"; vergleiche 67). Ebenso bleiben einzelne Interpretationen - so der Mauerbau als "defensive Maßnahme" (21) - zu diskutieren. Angesichts der nicht zu unterschätzenden Herausforderung, eine zunehmend spezialisierte Forschung zu synthetisieren, bleiben diese Unschärfen jedoch marginal. Das Buch vermittelt der weiteren Forschung die Orientierung, der sie auch nach dem Ende des Booms der Historiografie zur DDR bedarf. Heydemanns Synthese ist deshalb vor allem Lehrenden und Studierenden nachdrücklich zu empfehlen.

Anmerkungen:

[1] Vergleiche jüngst besonders Beate Ihme-Tuchel: Die DDR, Darmstadt 2002; Corey Ross: The East German Dictatorship. Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR, Oxford University Press 2002; Joachim Scholtyseck: Die Außenpolitik der DDR, München 2003; Dierk Hoffmann: Die DDR unter Ulbricht. Gewaltsame Neuordnung und gescheiterte Modernisierung, Zürich 2003.

[2] Rainer Eppelmann / Bernd Faulenbach / Ulrich Mählert (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003.

[3] Armin Mitter / Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993.

[4] Christoph Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/30, 16. Juli 1993, 30-41.

Arnd Bauerkämper