Rezension über:

Ernst Peter Fischer / Klaus Wiegandt (Hgg.): Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens (= Forum für Verantwortung; Bd. 1), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 382 S., ISBN 978-3-596-15905-5, EUR 13,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Manfred Laubichler
School of Life Sciences, Arizona State University
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Laubichler: Rezension von: Ernst Peter Fischer / Klaus Wiegandt (Hgg.): Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/04/3341.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Ernst Peter Fischer / Klaus Wiegandt (Hgg.): Evolution

Textgröße: A A A

Der hier vorliegende erste Band der neuen von Ernst Peter Fischer und Klaus Wiegandt im Fischer Verlag herausgegebenen Reihe "Forum für Verantwortung" ist der gegenwärtigen Evolutionsforschung sowie ihren Konsequenzen und Perspektiven gewidmet. Die Reihe "Forum für Verantwortung" basiert auf einer von den beiden Herausgebern initiierten Veranstaltungsserie der "Stiftung für nachberufliche wissenschaftliche Bildung", einem durchaus notwendigen Versuch aktuelle und brisante Themen der Wissenschaft einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das von den Organisatoren gewählte Format eines interdisziplinären Symposiums mit einer Vielzahl von Referenten, die sich alle durch wichtige Beiträge um ihr jeweiliges Fachgebiet verdient gemacht haben, ist diesem Vorhaben angemessen, wie auch das Thema "Evolution" als das theoretische Fundament der "Leitwissenschaft" Biologie einen logischen Ausgangspunkt für das Anliegen einer umfassenden nachberuflichen Bildung darstellt.

Das Vorhaben darf im großen und ganzen als geglückt bezeichnet werden. Die Beiträge geben eine sachlich kompetente Einführung in eine Vielzahl von Themen und Forschungsschwerpunkten der modernen Evolutionsforschung, von der Frage nach den Prozessen und Abläufen der Stammesgeschichte, zu Fragen des Alterns, der Biotechnologie und ihren auch evolutionären Konsequenzen, wie zum Beispiel durch die Reproduktionsgenetik, der Biodiversität, den biologischen Voraussetzungen der Kultur und des Erkennens, und schließlich zu wissenschaftshistorischen Überlegungen zur Geschichte des Evolutionsgedankens und seiner kulturellen Wirksamkeit. Der vorliegende Band ist somit kein historisches Werk im engeren Sinn, jedoch befassen sich die Beiträge mit der Geschichte und Zukunft des Lebens, also mit Geschichte in einem weiteren, biologischen Rahmen.

Eine der wesentlichen Herausforderungen der modernen Biologie und Biotechnologie ist eindeutig die Reproduktionsgenetik und die damit eng verbundene Stammzellenforschung. Diesen Fragen widmet sich im vorliegenden Band Lee Silver, der seine Ideen von der sich abzeichnenden genetischen Differenzierung der Menschen hier noch einmal ausführt. Silvers "Utopie" geht von der These aus, dass alles was machbar ist auch gemacht wird. Die biologische Veränderung des Menschen zum "Superman" wird hier allerdings nicht von finsteren Diktatoren betrieben, sondern ergibt sich aus den Gesetzen des Kapitalismus und dem (zutiefst menschlichen) Bedürfnis seinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Folglich werden die, die es sich leisten können, ihre Kinder "genetisch verbessern" was nach Silver auch evolutionäre Konsequenzen hat, da solch eine neue genetische Grundausstattung, ob nun auf einem eingeschleusten Extra-Chromosom oder anderswo verankert, biologisch "rein" bleiben muss. Der Klassenkampf der Zukunft wird somit auch zu einem biologischen "struggle for existence".

Artbildungsprozessen herkömmlicher Natur ist Axel Meyers Beitrag gewidmet. Meyers widmet sich in seinem Beitrag sowohl neuen Erkenntnissen, wie zum Beispiel der Frage nach "Speziationsgenen" als auch der Geschichte (und Zukunft) dieses Forschungsgebietes, dem er innerhalb Deutschlands eine begrüßenswerte Wiederbelebung bescheinigt. In diesem Zusammenhang ist seine Beobachtung, dass eine solide Ausbildung in moderner Evolutionsbiologie auch in anderen Forschungsgebieten vor allem der Genomik und Bioinformatik erforderlich ist, besonders interessant. Damit wird die Evolutionsbiologie, die nicht nur konzeptuelles, sondern auch methodisches Gerüst der Biologie ist, eine auch wissenschaftspolitisch nicht unbedeutende Tatsache.

Für Geisteswissenschafter besonders interessante Fragen der Evolutionsbiologie, wie die Evolution der Kultur und des Erkenntnisvermögens werden in den Beiträgen von Gerhard Vollmer und Wolf Singer dargestellt. Beiden Beiträgen ist gemein, dass sie eine strikt materialistische, allerdings keineswegs naive Auffassung von Kultur und Erkenntnisvermögen vertreten. Wie Gerhard Vollmer bemerkt, muss man bei den Diskussionen um evolutionäre Ansätze in Erkenntnistheorie und Kulturentwicklung zwischen historisch gewachsenen Reflexen und an der Sache orientierten Überlegungen unterscheiden. Akzeptiert man die Tatsache, dass alle lebenden Systeme ein Produkt der Evolution sind, dann können auch die Eigenschaften und Produkte dieser Lebewesen nicht grundsätzlich außerhalb einer evolutionären Betrachtung stehen. Die Eigenheiten der menschlichen (wie auch der tierischen) "Kultur" stellen somit eine Herausforderung auch für die Evolutionstheorie dar, die wohl am besten im interdisziplinären Dialog gelöst wird.

Hans-Jörg Rheinbergers Beitrag skizziert die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen des Evolutionsgedankens in den letzten 150 Jahren. Ausgehend von drei Hauptthemen der Evolution, der Abstammung der Organismen, der Frage nach dem evolutionären Fortschritt und der Frage nach der im Zuge der Evolution entstehenden Differenzen analysiert Rheinberger die vielfältigen Interaktionen zwischen biologischer Theorie und gesellschaftlicher Interpretation. Seine Schlussfolgerung, einer Idee des französischen Wissenschaftstheoretiker Georges Canguilhem folgend, dass die Evolutionstheorie immer ein Erklärungssystem darstellte, das Geltungsansprüche erhob, die durch den gegenwärtigen Stand des Wissens nicht gedeckt waren, regt zu einer weiteren Beschäftigung mit der Frage nach der Rolle von "wissenschaftlichen Ideologien" an.

Da hier nun bei weitem nicht auf alle in diesem Band angesprochenen Themen eingegangen werden kann sei abschließend noch auf einige allgemeinere Fragen verwiesen, die sich nach der Lektüre der Aufsätze aufdrängen und die in den einzelnen Beiträgen zwar anklingen, aber nicht explizit behandelt werden. Wie bereits erwähnt wird in dem Band ein detailliertes Bild von der Reichweite des evolutionären Ansatzes und der wissenschaftlichen Perspektiven, die sich dadurch in vielen Gebieten ergeben, vermittelt. Die Idee der Evolution der Organismen hat aber auch weit reichende philosophische und weltanschauliche Konsequenzen und zwingt sowohl die Biologen, wie auch die Geistes-, Sozial-, und Kulturwissenschaftler, und auch jeden einzelnen zu einer Stellungnahme. Führen die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie zu einer Annäherung der Natur- und der Geisteswissenschaften (wie in den Beiträgen von Singer und Vollmer angedeutet) oder schicken sich Biologen an Psyche und Kultur zu biologischen Epiphänomenen zu degradieren (wie von vielen gefürchtet)? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Kenntnis der grundsätzlichen Veränderlichkeit des Lebens auf Erden für die Zukunft des Menschen? Wie sollen wir auf Veränderungen in Ökosystemen ("Sixt mass extinction") und auf die Möglichkeit unsere eigene biologische Ausstattung in noch nie da gewesener Weise zu manipulieren reagieren? Dieser Band regt zum Nachdenken an.

Manfred Laubichler