sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8

Michael Fischer: Ein Sarg nur und ein Leichenkleid

Die vorliegende Dissertation, geschrieben im Grenzbereich von Frömmigkeits- und Literaturgeschichte, näherhin der Hymnologie, beleuchtet die Einstellungen zu Sterben und Tod im 19. Jahrhundert.

Im ersten Teil skizziert der Autor sozial-, kultur- und frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen. Er konstatiert eine Veränderung der Todesursachen im 19. Jahrhundert: insgesamt eine Abnahme der Sterblichkeit, bedingt vor allem durch verbesserte Hygiene und Medizin. Dadurch kam es zu einer Rationalisierung von Krankheit überhaupt. Der Diskurs darüber, so der Autor, lasse sich nach den beiden Paradigmen 'Emotionalisierung' und 'Rationalisierung' systematisieren. Beide Entwicklungen verliefen parallel, und zwar in Form einer stärkeren Betroffenheit über den Tod vor allem im Bürgertum bei gleichzeitigem Rückgang religiöser Deutungsmuster auf der einen und einer neuen Organisation der Bestattung (Entstehung von Krematorien) auf der anderen Seite. Im religiösen Brauchtum hielten sich christliche Vorstellungen noch lange. Das Sterben als "Übergangsritus" (van Gennep) wurde während des Lebens vorbereitet (memento mori), im Moment des Todes unterstützt sowie bei der Bestattung und dem Totengedächtnis erinnert. Heilige, wie Michael, Barbara, Josef und die Heilige Familie, sollten dem Toten beistehen. Volkstümliche Vorstellungen äußerten sich vor allem in populären Liedern, die durchaus zeitgenössisch moderne Bilder aufzugreifen vermögen, etwa wenn es "auf der Eisenbahn in Peters Revier" (104) geht.

Dogma, Katechese und Liturgie sind die Themen des zweiten Teils. Die katholische Eschatologie des 19. Jahrhunderts verteidigte zwar die traditionelle Theologie, griff aber etwa den Gedanken von Tugend und Lohn auf. Die Distinktionen der Neuscholastik gerieten aber in Gefahr, Himmel und Hölle zu dinglich zu verstehen, wie Fischer vor allem am Beispiel des "Höllen-Bautz" illustriert. Die Umsetzung dieser Theologie geschah in den auswendig zu lernenden Katechismen. Hier konzentrierte sich die kirchliche Praxis jedoch weitgehend auf eine Höllenverkündigung. Dagegen zeigt der Befund der Begräbnisliturgie eine erstaunliche Vielfalt. Das römische Rituale Romanum von 1614 wurde in den einzelnen Diözesen unter Verwendung muttersprachlicher Elemente umgesetzt. Doch ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Tendenz zur Vereinheitlichung zu beobachten.

Die Umsetzung der in den ersten beiden Teilen gewonnenen Erkenntnisse unternimmt Michael Fischer im dritten, hymnologisch orientierten Kapitel. Er untersucht Sterbe- und Begräbnislieder in Gebet- und Gesangbüchern der katholischen südwestdeutschen Diözesen zwischen dem Ende des 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts. In den Blick nimmt er dabei Lieder zu den Kasualien von Sterben und Tod, Messgesänge, Lieder zu Allerseelen und solche, die sich mit der Vorbereitung auf den Tod beschäftigen. Die in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entstandenen Lieder halten sich zwar lange, werden aber nach der Mitte des 19. Jahrhunderts vom aufkommenden Ultramontanismus heftig bekämpft.

In der Diözese Mainz sind die beiden Eckpunkte durch die Gesangbücher des Pfarrers Franz Xaver Turin (1787) und Bischof Kettelers (1865) markiert. Die Liedtexte vertreten in allen Büchern die traditionelle kirchliche Lehre von Fegefeuer, Hölle und Höllenstrafen. Die Erwartung des Himmels tritt dagegen zurück und wird vor allem auf dem Weg über die Marienverehrung und den Rosenkranz thematisiert.

Auch nach der Aufhebung des Bistums Konstanz wirkte die dortige Gesangbuchtradition des letzten Generalvikars Wessenberg weiter. Sein Gesangbuch von 1812 führte vor allem die Sterblichkeit des Menschen vor Augen. Ein guter Lebenswandel sollte mithelfen, beim Gericht die Seligkeit erhalten zu können. Ziel ist eindeutig der Himmel, während in Wessenbergs Gesangbuch auf besondere Fegefeuer- oder Höllenillustrationen verzichtet wird. Adressaten der Lieder sind vor allem die Menschen, weniger die göttlichen Personen.

Eine große Nachwirkung hatte die Konstanzer Liedtradition in den neu gegründeten Bistümern Rottenburg und Freiburg. Fischer analysiert vier Gesangbücher zwischen 1809 und 1865. Wie in Mainz kam es auch in Rottenburg um die Jahrhundertmitte zu Kritik an den noch von der Aufklärung bestimmten Modellen, die von bürgerlicher Religiosität bestimmt waren. Auffallend ist der Befund Fischers, dass innerhalb von 55 Jahren das gesamte Repertoire an Sterbeliedern zweimal ausgetauscht wurde, wobei das Gesangbuch von 1865 vor allem auf das Mainzer "Cantate" von Heinrich Bone (1847) und barocke Liedtradition zurückgreift.

Die Freiburger Gesangbuchtradition bleibt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Kontinuität zu Wessenbergs Vorgaben. Nach erster Kritik kommt es erst 1892 mit dem "Magnificat" zu einem neuen Diözesangesangbuch, das besonders stark das individuelle Gericht betont. Die drastischen Bilder treten zurück, doch ist nach wie vor viel von "Feuer" und von "Strafen" die Rede. Mehr als ein Drittel der Lieder stammen aus dem 19. Jahrhundert und sind von der neuscholastischen Theologie und ultramontanen Frömmigkeit geprägt.

Im Schlussabschnitt fasst der Autor seine Untersuchungen nach soziologischen Taxonomien zusammen. Er stützt sich dabei auf Klaus Feldmann (1990 und 1997), der den Sterbe- und Todesdiskurs nach der inhaltlichen Seite (normativ, kognitiv, instrumentell und expressiv), dem Todesverständnis (physisch, psychisch, sozial, geistig-kulturell) und dem Todessubjekt (der eigene Tod, der Tod des Anderen und der kollektive Tod) unterscheidet. Fischer fügt zwei weitere Interpretamente hinzu, die sich auf phänomenologische Zustandsbeschreibungen (Diesseits, Vermittlung, Jenseits) und eine strukturanalystische Verankerung im Modernisierungsparadigma (Tradition und Innovation) beziehen.

Der Schwerpunkt der Dissertation Michael Fischers liegt auf den Untersuchungen der einzelnen Diözesangesangbücher. Hier liegt seine Stärke. Die Materialfülle, die er dabei ausbreitet, ist faszinierend. Der Leser erfährt die mentalen Veränderungen in Bezug auf Sterben und Tod und bekommt sie anhand der Lieder anschaulich vorgeführt. In diesem Teil ist auch die Vernetzung der theologisch-germanistischen Gedankenführung mit dem historischen Hintergrund am besten gelungen. Fischer kann in seiner Studie aufzeigen, welche unterschiedlichen Aspekte zu einer sachgemäßen Bewertung der Frömmigkeitsgeschichte notwendig sind. Leider bleiben die herausgearbeiteten Gesichtspunkte weitgehend monolithisch stehen, ohne miteinander vernetzt zu werden. Fortgeführt werden kann die Studie von Fischer, deren Brauchbarkeit durch die Platzierung der Fußnoten als Endnoten etwas leidet, durch weitere Untersuchungen, die den kulturellen Hintergrund ausführlicher beleuchten. Für den Südwesten wäre ein Vergleich mit protestantischen und liberalen Todesdiskursen und entsprechenden Liedern ein lohnendes Unterfangen. Auch der Einfluss des württembergischen und badischen Staatskirchentums auf die innerkirchlichen theologischen und spirituellen Diskurse wäre zu untersuchen, gerade um Näheres zu Reichweite und Wirksamkeit inhaltlicher Akzentverlagerungen vor Ort zu erfahren.

Rezension über:

Michael Fischer: Ein Sarg nur und ein Leichenkleid. Sterben und Tod im 19. Jahrhundert. Zur Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte des Katholizismus in Südwestdeutschland, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, 437 S., ISBN 978-3-506-71767-2, EUR 49,00

Rezension von:
Joachim Schmiedl
Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schmiedl: Rezension von: Michael Fischer: Ein Sarg nur und ein Leichenkleid. Sterben und Tod im 19. Jahrhundert. Zur Kultur- und Frömmigkeitsgeschichte des Katholizismus in Südwestdeutschland, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/07/6254.html


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