Rezension über:

Maria Wittmer-Butsch / Constanze Rendtel: Miracula - Wunderheilungen im Mittelalter. Eine historisch-psychologische Annäherung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, 387 S., 19 Abb., ISBN 978-3-412-15802-6, EUR 44,90
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Rezension von:
Kay Peter Jankrift
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Kay Peter Jankrift: Rezension von: Maria Wittmer-Butsch / Constanze Rendtel: Miracula - Wunderheilungen im Mittelalter. Eine historisch-psychologische Annäherung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/11/5855.html


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Maria Wittmer-Butsch / Constanze Rendtel: Miracula - Wunderheilungen im Mittelalter

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Wunderheilungen spielten in Berichten über das Leben und Wirken Heiliger stets eine zentrale Rolle. Solche hagiografischen Zeugnisse entstanden besonders während der mittelalterlichen Jahrhunderte in großer Zahl. Erschien die Beschäftigung mit ihnen im quellenkritischen Blick des Mediävisten lange als wenig gewinnbringend für seine Fragestellungen, so sind sie in jüngerer Zeit verstärkt in das Interesse der Forschung gerückt.

Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel haben sich zum Ziel gesetzt, dem Phänomen von Wunderheilungen anhand einer großen Zahl mittelalterlicher (und frühneuzeitlicher) Heilungsberichte im Zusammenhang mit christlichen Wallfahrten näher zu kommen. Dabei betont ihr Ansatz Interdisziplinarität. Die Autorinnen vertreten die Auffassung, dass Historiker aufgrund ihrer tiefverwurzelten Skepsis gegenüber hagiografischen Quellen und in Ermangelung von "Untersuchungsmethoden und Erklärungsmodellen für die beschriebenen Phänomene" (11) nicht zu den Kernaussagen der Zeugnisse vordringen können. "Mit psychologischen Modellen" wollen Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel "das bestehende Erklärungsdefizit" überwinden (11). Heilungsberichten aus dem Mittelalter soll mit Erklärungsmodellen aus der Tiefenpsychologie auf den Grund gegangen und die psychische Dimension des Leidens sichtbar gemacht werden. Pschyrembels "Klinisches Wörterbuch", das in keiner Arztpraxis fehlende Standardwerk, weist den Autorinnen den Weg für ihre Diagnosen der in den Quellenzeugnissen beschriebenen Krankheits- und Heilungsfälle.

Die untersuchten Fälle entstammen vor allem Berichten über Heilungswunder, die vor dem Hintergrund der Kanonisierung Elisabeths von Thüringen, König Ludwigs IX. von Frankreich, Thomas' von Aquin, Thomas' Cantilupe, Dauphines de Puimichel, Pierres de Luxembourg und schließlich Carlo Borromeos zusammengetragen wurden. Nachdem die Autorinnen kurz in die Problemstellung eingeführt (11-34) und die Entwicklung des zeitgenössischen Wunderverständnisses in den Blick genommen haben, stellen sie die von ihnen ausgewerteten Heiligendossiers nebst Leben und Wirken der Heiligen vor (35-43). Dabei erläutern sie auch die Grundzüge des Verfahrens zur Heiligsprechung. Ergänzt wird diese Einführung in die Quellentexte durch eine quellenkritische Auseinandersetzung mit den spezifischen Umständen ihrer Entstehung (46-92).

Der Hauptteil (93-326) widmet sich sozialen und medizinischen Aspekten der ausgewählten Heilungswunder. Von Behinderungen des Bewegungsapparates bis hin zu Infektionskrankheiten und Erweckung vom Tod diagnostizieren die Autorinnen die geschilderten Fälle, befassen sich mit Heilungsverläufen und erfassen Alter wie Geschlecht der Erkrankten. Der Diskussion um Wechselwirkung von Körper und Psyche, um Heilungen und Träume sowie um die Dimension des Unerklärlichen in Heilungswundern ist anschließend breiter Raum gewidmet. Innerhalb dieses Rahmens wird selbst die Frage nach paranormalen Phänomenen nicht ausgespart.

Das Werk schließt mit einer umfangreichen Bibliografie (333-362) auf neuestem Stand sowie Personen-, Orts- und Sachregister, die das Werk sehr benutzerfreundlich für die weitere Beschäftigung mit diesem oder jenem der angesprochenen Themenkreise machen.

Der Ansatz der Autorinnen ist ebenso ambitioniert und innovativ. Wie viele Gefahren der lobenswerte Versuch zur Interdisziplinarität neben vielen Chancen bereithält, wird in der Untersuchung auf exemplarische Weise deutlich. In ihrer Einführung räumen Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel ein, dass das hagiografische Textmaterial Probleme berge, "die ohne das Rüstzeug des Historikers nicht angemessen behandelt werden können" (11). Bei einer Studie, die Krankheit und (wunderbarer) Heilung im Mittelalter gewidmet ist, gilt dies aber ebenso und in besonderem Maß für medizinhistorisches "Rüstzeug". Die gegenwärtig gültigen Definitionen bestimmter Krankheitseinheiten nach Pschyrembels "Klinischem Wörterbuch" zur einer retrospektiven Diagnose heranzuziehen ist methodisch nicht nur bedenklich, sondern schlichtweg inakzeptabel. [1]

Die mittelalterliche Heilkunde unterschied sich mit ihrer Auffassung von Krankheitsbildern und Therapien grundlegend von denen der heutigen Medizin. Für die Auswertung mittelalterlicher Krankheitsbeschreibungen kommt erschwerend hinzu, dass diese auf Zeugenaussagen heilkundlicher Laien basieren und so vor allem durch individuelle Wahrnehmung geprägt sind. Heilkundige folgten bei ihren Beschreibungen der Säftelehre, die sich nicht minder von gegenwärtigen Modellen unterschied. Die "Lepra" beispielsweise, wie sie die Autorinnen auf Grundlage des Pschyrembel diagnostizieren wollen (107), ist mit den verschiedenen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit unter diesem oder ähnlichen Begriffen gefassten Erkrankungen nicht deckungsgleich. Welche Differenzen sich zwischen der Wahrnehmung von Laien zu denen spätmittelalterlicher Ärzte ergeben können, zeigen exemplarisch die erhaltenen Protokolle der Kölner Lepraschauuntersuchungen. [2]

Wie wenig sich die Autorinnen mit zeitgenössischen Krankheitsauffassungen und den daraus resultierenden Folgen für die Betroffenen auseinandergesetzt haben, zeigt sich beispielhaft an gleicher Stelle: "Seit dem Hochmittelalter trat auch in Europa die Lepra häufiger auf" (107), behaupten die Autorinnen generalisierend. Dass ein möglicherweise häufigeres Auftreten - vom frühen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit existieren teilweise erheblich unterschiedliche Schätzungen - mit dem allgemeinen Bevölkerungsanstieg während des Hochmittelalters einherging, übersehen sie dabei. Das Thema der Leprosenhäuser im Mittelalter ist viel komplexer als es die leichtfertige Reduzierung auf den Begriff der "Quarantänemaßnahme" an dieser Stelle vorspiegelt. Zur "Quarantäne" dienten die zumeist von Privilegierten belegten Einrichtungen gewiss nicht (zum Beispiel Ausschluss aus dem Haus bei Übertretung der Hausordnung, mancherorts Bettelverpflichtung für die Insassen). Ob sich auf einer solchen Grundlage auch noch tiefenpsychologische Erklärungsmodelle anlegen lassen, darf zumindest fraglich erscheinen.

Mit ihrem Werk haben Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel fraglos einen wichtigen Anstoß zu einer interdisziplinären Diskussion um ein zentrales Thema historischer Forschung geliefert. Ihr Ansatz ist ein mutiger Versuch. Das gilt es uneingeschränkt zu würdigen.


Anmerkungen:

[1] Karl-Heinz Leven: Krankheiten: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose, in: Norbert Paul / Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main / New York 1998, 153-185.

[2] Hermann Keussen: Beiträge zur Geschichte der Kölner Lepra-Untersuchungen, in: Lepra. Bibliotheca internationalis 14 (1913), 80-112.

Kay Peter Jankrift