sehepunkte 4 (2004), Nr. 11

Eric Nelson: The Greek Tradition in Republican Thought

Nelson spielt bereits im Titel auf berühmte Publikationen von Quentin Skinner und J. G. A. Pocock an und bekennt damit seine wissenschaftliche Herkunft. Die Arbeit vertritt die These, durch die europäische und amerikanische Republiktheorie ziehe sich ein starker Strang einer "griechischen Tradition", deren Kern nicht Freiheit und politische Partizipation sei, sondern Glück und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit indessen sei nur über ein Regiment der Besten zu erzielen, und dieses wiederum sei nur zu erreichen über relativ egalitäre Besitzverhältnisse.

Die These wird einleitend gegen einen Klassiker der Geschichte der Republiktheorie konturiert, Pococks "Machiavellian Moment". Pocock habe aus den Politiktheorien von Aristoteles und Polybios als gemeinsam die Überzeugung herausgezogen, der menschlichen Natur entspreche am ehesten eine politische Ordnung, an der jeder Mensch nach Maßgabe seiner Fähigkeit aktiv teilhaben könne. Nelson hält Pococks Analyse für zu allgemein und zu einseitig (sein Kronzeuge ist Hegel), vielmehr spaltet er die antike Tradition in zwei wenig verträgliche Teile. Die ältere, griechische Tradition zeichnet sich dadurch aus - analysiert man die verfügbaren Texte (Aristoteles, Platon) sauber -, dass sie als Ziel eines guten Lebens Glück (eudaimonia, bei Nelson übersetzt als happiness) festlegt. Mittel zum Zweck ist eine im Staat herrschende Gerechtigkeit, die nach Maßgabe der Vernunft urteilt, also sinnvollerweise den Besten übertragen wird und zur Tugend erzieht. Doch Tugend ihrerseits kann nur stabilisiert werden, wenn die Verteilung von Eigentum so organisiert wird, dass sich der Gegensatz arm und reich nicht entwickeln kann. Denn beide, Armut und Reichtum, korrumpieren die Tugend und zerstören damit auch Gerechtigkeit.

Hier erreicht Nelson den Punkt der distinkten Abgrenzung gegenüber der römischen Antike: sie habe Eigentum in seiner freien Verfügbarkeit zum Angelpunkt nicht nur des Rechts, sondern auch der Politiktheorie gemacht, in der Absicht, Menschen vor der vereinnehmenden Macht der Gemeinschaft zu schützen. Zwei antike Konzeptionen, so Nelson, prägen die politischen und gesellschaftlichen Theorien der Moderne, eine von ihm so genannte greek tradition und eine neo-Roman ideology. Ersterer ist das Buch gewidmet. Elaboriert wird sie in den Werken von Morus, Machiavelli, Harrington, Montesquieu und den Gründern Amerikas mit einem schließlichen Ausblick auf Tocqueville.

An Morus' Utopia, dessen Referenz auf Platon schon immer unstrittig war, hebt Nelson hervor, dass Eigentum dort nicht geduldet wird. Folglich sei einerseits der Sinn für das Gemeinwohl und Gerechtigkeit hoch entwickelt, und andererseits die Arbeitszeit (mangels Ausbeutung) gering. Dies erlaube den Bewohnern von Utopia eine Beschäftigung mit den Wissenschaften und Künsten und führe damit zu einem glücklichen Leben (happiness).

Nelsons Analyse von Machiavellis Discorsi fokussiert auf die dort gemachte Aussage, dass Republiken selbst reich, ihre Bürger hingegen arm sein sollten. Reichtum führe zu politischer Macht in der Republik, die durch Kredite und Geschenke an eine private Klientel gesichert und vergrößert werde, mit dem Effekt, dass die Republik in den Zyklus des Polybios zurückfalle, den ewigen Kreislauf von Monarchie-Tyrannei, Aristokratie-Oligarchie und Demokratie-Anarchie. Machiavelli, der in seinen Discorsi bekanntermaßen der republikanischen Verfassung Roms seine Reverenz erweist, wird auf diese Weise für Nelsons greek tradition gewonnen. Freilich räumt Nelson ein, dass Machiavelli große Besitzungleichheit zulässt, weil er die divergierenden Interessen von Volk und Mächtigen (Adel) und ihren konfligierenden Austrag erstmals als politisch produktiv gedeutet hat.

James Harrington arbeitet stärker als Machiavelli die griechische Tradition in sein Epoche machendes Werk Oceana, nach Pocock ein Schlüsseltext aller Republiktheorie, ein. Besitz (Landbesitz) müsse gerecht, freilich keineswegs egalitär verteilt sein, solle ein Gemeinwesen in Ordnung sein und auf Gerechtigkeit fußen. Ungleichheit unter Menschen sei ein Faktum, das eine Elite ermögliche und erfordere, Elite aber definiere sich dadurch, dass sie Gerechtigkeit schaffe. Wie groß eine Elite (Aristokratie) sein darf, wird mit rund 5000 Personen von Harrington angegeben, eine Zahlenspielerei, die griechischen Vorbildern geschuldet ist. Ihr (Land-) Besitz darf einen festgelegten Betrag an jährlichen Renten nicht übersteigen; so werde übertriebener Reichtum, ihm folgend Luxus und schließlich Korruption unterbunden. Das wird schrittweise durch eine entsprechende Änderung der Erbgesetze erreicht und damit die Voraussetzung geschaffen, dass nicht die dem Reichtum innewohnende Gier, sondern die dem Menschen eigene Vernunft die Verfassung des öffentlichen Lebens prägt, "the soul of the state", wie Nelson sagt (118).

Harringtons Einfluss auf Montesquieu wird über viele, wenig bekannte Harringtoneans nachgewiesen, die Montesquieu gelesen und in seinem Werk De l'esprit des lois verarbeitet hat. Die in der Literatur übliche Trennung einer politischen Tugend und einer moralischen Tugend - Erstere verstanden als eine solche der Liebe zur Gerechtigkeit, die am Anfang aller Republiken steht, Letztere als individuell verantwortliches Handeln - sei, so Nelson, aufhebbar, wenn als deren gemeinsame Mitte das Gemeinwohl akzeptiert werde, was als Referenz auf Platon (und in dessen Tradition auf Morus und Harrington) gelesen werden könne.

"Der Welt mächtigsten Republik" (199) schließlich, den Vereinigten Staaten von Amerika, schreibt Nelson eine greek tradition zu, die aus Texten von Adams, Jefferson, Madison, Jackson, Fobes und anderen erhoben wird. Danach wird anstelle der alteuropäischen feudalen Aristokratie eine "natürliche Aristokratie" etabliert. Das soll, erstens, durch Erbgesetze erreicht werden, die verhindern, dass (durch Primogenituren) Eigentum in einzelnen Familien angehäuft werden kann, und zweitens durch eine soziale Ausweitung der Bildungschancen. Die Erbgesetze dürfen das Eigentum (Grundbesitz) nicht prinzipiell gefährden, ihre relativ gleiche Verteilung indessen ist der Garant von Freiheit wie die Voraussetzung für den Erwerb von Bildung, die erst zur Tugend befähigt. "Intellectual achievement", die modifizierte Tugend, wird dann nach Tocqueville das einzige Kriterium für Fortkommen in der modernen demokratisch organisierten Republik. Aus der Gleichheit entwickelt sich vornehmlich eine Rechtsgleichheit, anders gesprochen eine Rechtsstaatlichkeit. Damit ist Nelson im Heute und Jetzt angekommen.

Nelson bringt seine große Gelehrsamkeit mit sprachlicher Eleganz zur Darstellung und analysiert eine Fülle von Texten von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (ohne das Mittelalter). Das methodische Verfahren ist nicht frei von Eklektizismus im Herausfiltern der Belegstellen, so aber sichert er sich die Plausibilität seiner Beweisführung, wenn auch nicht immer deren Stringenz. Das aber weiß er, und so erhebt er keineswegs den Anspruch, die einzig mögliche, sondern eine mögliche Lesart der frühmodernen Republiktheorie zu liefern. Das Problem dieses Buches und jeder intellectual history dieser Art besteht darin, dass wegen der relativen Abstraktheit der Begriffe und einem nur wenig modifizierbaren Set von Normen und Werten, die jeder politischen Theorie notwendigerweise zu Grunde liegen, Rekonstruktionen von Traditionslinien wie solche einer greek tradition immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen können, aber eben auch nicht mehr.

Der Sachverhalt lässt sich gut an Rousseau darstellen. Für Nelson ist die volonté générale, die bislang unbestritten als stärkstes Belegstück für den egalitären und demokratischen Charakter von Rousseaus Republik galt, deswegen stark in der greek tradition verankert, weil sie auf das Gemeinwohl hinarbeitet, was aber wiederum relativ egalitäre Besitzverhältnissen voraussetzt; sonst entstünden Interessengruppen, welche die volonté générale, die sich in Versammlungen und Abstimmungen äußert, verfälschen würden. Ob hier die griechische Tradition nicht ein eher schwaches Argument ist, lässt sich mit Blick auf die historische Realität von Genf, viele mitteleuropäische Stadtstaaten und eidgenössische Länderorte durchaus fragen, denn nach deren Verfassungen herrschten dort im Prinzip die Verhältnisse, die Rousseau in der volonté générale zur politischen Theorie ausbaut. Die Verknüpfungen und Ableitungen können also auch anders erfolgen.

Das gilt, um bei Nelsons Rousseauinterpretation zu bleiben, auch für Rousseaus Entwurf einer Verfassung von Korsika. Nicht die römische Agrargesetzgebung muss, wie Nelson meint, dem Konzept der Landaufteilung Pate gestanden haben; nahe liegender ist es, das alteuropäische Haus als Vorlage anzunehmen, das durch die Realität des "ganzen Hauses" (Otto Brunner) - von toute la maison spricht Rousseau in seiner Économie politique - tief in der alteuropäischen Gesellschaft verankert war. Dass die Anschauung der Realität den Verfassungsentwurf für Korsika prägt, belegen Rousseaus wiederholte Hinweise auf Verhältnisse in der Schweiz.

Auf alternative Interpretationen hinzuweisen heißt nicht, der Analyse Nelsons zu widersprechen. Es ist unstreitig, dass er in einer bestechend scharfen Argumentation und mit bemerkenswerter Urteilskraft einen Strang im europäischen Denken freigelegt hat, dessen Kohärenz bislang so nicht beschrieben wurde. Die greek tradition erweist sich auch als eine starke Tradition der westlichen Kultur, über die nachzudenken den kritischen Umgang mit heutigen Problemen einer Weltgesellschaft zweifellos bereichert. Die bei Nelson eher angedeuteten als ausgearbeiteten Einflüsse der Theorie auf die politische Praxis erinnern daran, welche Verantwortung auch in der wissenschaftlichen Arbeit liegt.

Rezension über:

Eric Nelson: The Greek Tradition in Republican Thought (= Ideas in Context; No. 69), Cambridge: Cambridge University Press 2004, XV + 296 S., ISBN 978-0-521-83545-9, GBP 45,00

Rezension von:
Peter Blickle
Universität Bern
Empfohlene Zitierweise:
Peter Blickle: Rezension von: Eric Nelson: The Greek Tradition in Republican Thought, Cambridge: Cambridge University Press 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/11/6472.html


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