Rezension über:

Werner Rösener (Hg.): Tradition und Erinnerung in Adelsherrschaft und bäuerlicher Gesellschaft (= Formen der Erinnerung; Bd. 17), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 331 S., 8 Abb., 6 Karten, ISBN 978-3-525-35576-3, EUR 44,90
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Rezension von:
Joachim Schneider
Institut für Geschichte, Bayerische Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Schneider: Rezension von: Werner Rösener (Hg.): Tradition und Erinnerung in Adelsherrschaft und bäuerlicher Gesellschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/6043.html


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Werner Rösener (Hg.): Tradition und Erinnerung in Adelsherrschaft und bäuerlicher Gesellschaft

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Der zu besprechende Band versammelt neben der Einleitung des Herausgebers elf Beiträge einer Gießener Tagung des dortigen Sonderforschungsbereichs "Erinnerungskulturen" aus dem Jahre 2001, bei der Forschungsziele und Arbeitsthesen der Projekte zur bäuerlichen und adligen Erinnerungskultur des Mittelalters diskutiert wurden.

Einleitend stellt Werner Rösener mit dem Hinweis auf die Konflikthaltigkeit und den sozialen Wandel im Mittelalter jene Dichotomien in den Kultur- und Sozialwissenschaften in Frage, die zwischen modernen und traditionalen Gesellschaften unterscheiden, wobei dann Letztere oft holzschnittartig als homogen, statisch und konfliktarm beschrieben werden. Eine Annäherung an die Frage nach dem Maß von Traditionalität so genannter traditionaler Gesellschaften ist demgegenüber das Ziel des Bandes. Das so genannte alte Recht sowie Herkommen und Gedächtnis bei Adel und Bauern sind jene mit Traditionalität verbundenen zentralen Leitbegriffe, um die die meisten der folgenden Beiträge kreisen.

So zeigt zunächst Steffen Krieb in einer Fallstudie, am Beispiel von Auseinandersetzungen im Erzstift Kempten im 15. und 16. Jahrhundert, dass hier nicht nur Herrschaftsintensivierung auf bäuerlichen Widerstand traf, sondern dass sowohl die Legitimierung der Herrschaftsausdehnung wie auch die Rechtfertigung des bäuerlichen Widerstands dagegen im Wechselspiel zunehmend rationaler konzipierte Argumentationen hervorbrachte, wobei der stärkere Einsatz der Schriftlichkeit eine wichtige Rolle spielte. Im Memminger Herrschaftsvertrag von 1526 erkennt Krieb schließlich bereits Elemente einer rationalen Herrschaftslegitimierung, die auf neuzeitliche Verfassungen vorausweisen.

Solche Beobachtungen führt Werner Rösener fort in einem forschungsgeschichtlich-konzeptionellen Beitrag, der den Widerspruch zum Thema hat, dass man die Bauern des Spätmittelalters immer wieder als traditionsverhaftet und rückständig einerseits, aber als widerständig und revolutionär andererseits beschrieben hat. Gegenüber der Typologie von Günther Franz weist Rösener darauf hin, dass beide Rechtssphären - das alte und das göttliche Recht als Bezugspunkte aufständiger Bauern - nicht berührungslos nebeneinander standen, sondern dass es, zum Beispiel im weit verbreiteten Sachsenspiegel, eine Diskussion darüber gab, inwieweit die Tradition des Rechts (das "alte Recht") fraglos hinzunehmen sei oder ob nicht das tradierte Recht durch das göttliche Recht (das Evangelium) zu ersetzen sei, wie es dann im Bauernkrieg von 1525 unmittelbar gefordert wurde.

Diesen konzeptionellen Überlegungen Röseners ist der an letzter Stelle des Bandes abgedruckte Beitrag von Werner Troßbach an die Seite zu stellen, der sich anhand des Maya-Volkes auf der Halbinsel Yucatán mit den Rahmenbedingungen eines langfristigen Überlebens autochthoner Kulturen befasst. Der Autor hebt hier neben der Kodifizierung der Geschichtsphilosophie der Maya insbesondere auch deren Innovationsleistungen hervor, da sie in der Lage waren, im Akt einer "virtuosen Akkulturationsleistung" (325) Ansprüche auf Grundbesitz in einem Amalgam von autochthonen und europäischen Argumentationselementen zu dokumentieren. In einer Synthese, die im Rahmen dieses Bandes leider unterblieben ist, hätte die Möglichkeit bestanden, die Anregungen Troßbachs aus einem anderen Kulturkreis mit denen Röseners und den übrigen Beiträgen in produktive Verbindung zu bringen.

Auf Aspekte der Autonomie und des sozialen Wandels bäuerlichen Lebens machen mehrere weitere Beiträge des Bandes aufmerksam, so zunächst der Beitrag von Sigrid Schmitt zur Stellung der Bauern im Spiegel der Weistümer. In Auseinandersetzung mit den Thesen Gadi Algazis, wonach das Verhältnis zwischen Herrn und Bauern allein von Gewalt und Unterdrückung gekennzeichnet war, hebt Schmitt in fünf, aus der Weistumsüberlieferung entwickelten Thesen vor allem die spätmittelalterliche bäuerliche Gemeindebildung als bedeutenden Faktor sozialen Wandels hervor. Dass Bauern keinesfalls nur Opfer von adliger Gewalt waren, macht auch Christine Reinle deutlich. Vielmehr waren Bauern durchaus auch Akteure und Profiteure des Fehdewesens, das Reinle mit Otto Brunner noch im Spätmittelalter als ein weithin anerkanntes Instrument der Selbsthilfe versteht. Gegen Brunner aber hebt sie hervor, dass bäuerliche genauso wie adlige Fehdeführung weit verbreitet gewesen war und lediglich früher als im Fall des Adels unterdrückt und delegitimiert wurde.

Stärker als bei den beiden zuletzt genannten, vor allem auf den sozialen Wandel und die Autonomie bäuerlicher Lebensformen hinweisenden Beiträgen rückt bei den drei folgenden von Simon Teuscher, Hans Ramge und Enno Bünz die so schwierig aufzuhellende Frage nach der Funktionsweise von Erinnerung in der oral geprägten bäuerlichen Gesellschaft in den Mittelpunkt.

Den Zusammenhang von rechtlich-sozialem Wandel und der Formung von Erinnerung zur Erklärung und Ausdeutung eines aktuell erreichten Rechtszustands analysiert Simon Teuscher anhand von Kundschaftsprotokollen des 14. und 15. Jahrhunderts aus dem Berner Oberland. Sehr häufig ging es hier um Rückprojektionen von relativ jungen Rechtsverhältnissen. Teuscher beobachtet dabei das scheinbare Paradoxon, dass Anekdoten über Herrschaftsträger "erst dann in rechtliche Argumentationen einflossen, als seit Jahrzehnten kein Herr [...] mehr seinen Fuß in die Gegend gesetzt hatte". Er erklärt dies damit, "daß sich personifizierende Bilder von Herrschaft gerade dann anboten, wenn es darum ging, quasi staatliche Kompetenzen zu repräsentieren" (216 f.). Aus solchen Beobachtungen ergeben sich mit Teuscher weitere Chancen zum Verständnis kommunikativer Strategien, die mit Neuerungen im ländlichen Leben verbunden waren, andererseits allerdings auch grundlegende Zweifel daran, inwieweit man in Weistümern Zeugnisse über personale Interaktionsformen von Herrschaft vor sich hat - interessante Thesen, die weitere Diskussion verdienen.

Ein ganz anders geartetes Quellenmaterial breitet hingegen Hans Ramge aus, um Aspekten der bäuerlichen Erinnerungskultur nachzugehen: Flurnamen aus Südhessen nämlich, die Rechtsorte bezeichnen. Dabei kommen Ramges Ergebnisse denen Teuschers an einer Stelle überraschend nahe: Dass "Linde" und "Galgen" die häufigsten Gebrauchsformen sind, deutet Ramge nämlich als Tendenz einer mentalen Verarbeitungsstrategie der Bauern, Abstraktes (Gerichtsbarkeit, Rechtspflege) konkret zu fassen. Erzählungen über Gerichts- und Sühneszenen, die Ramge zufolge häufig mit diesen Gerichtsorten verbunden wurden und die die Deutung der Flurnamen und damit die Erinnerung an Gerichtsstätten präsent erhielten, bleiben in dieser sonst sehr aufschlussreichen Studie aus einer Nachbardisziplin leider ausgeklammert.

In dem material- und aspektreichen, ein weites Forschungsneuland erschließenden Beitrag zu Pfarrkirche, Friedhof und Beinhaus als Stätten bäuerlicher Erinnerungskultur zeichnet Enno Bünz unter anderem ein vielschichtiges Bild der bäuerlichen Jahrtagsstiftungen, wie sie in den weithin noch unzureichend erschlossenen Seel- und Jahrzeitbüchern der Dorfpfarreien aufscheinen. Viele weniger Wohlhabende mussten sich auf einmalige Seelmessen beschränken. Dabei darf, so Bünz, beim bäuerlichen Stiftungswesen die Kontinuität der Erinnerung nicht überschätzt werden, da in den Jahrtagsverzeichnissen nur wenige Generationen erscheinen.

Insgesamt besteht bei der Erforschung der religiösen Memorialkultur des Spätmittelalters, und hier insbesondere hinsichtlich der Bevölkerung abseits der Führungsschichten, noch ein großer Aufholbedarf gegenüber dem Früh- und Hochmittelalter, wie Bünz zu recht feststellt. Dabei liegen die Zugangschancen zur Memorialkultur des Niederadels wohl einfacher als für das Bauerntum, wie der Aufsatz von Norbert Kersken zeigt:

Denn Kerskens Durchmusterung von seit langem gedruckten Urkundenbüchern aus Mecklenburg, Pommern und Brandenburg fördert 320 spätmittelalterliche Stiftungsvorgänge in etwa 190 Stifterfamilien zu Tage. Immerhin bei 10% der Stiftungen wurden diese ausdrücklich zu Gunsten des gesamten Geschlechts begründet, was Kersken als Indiz für das Vorhandensein eines Haus- und Geschlechterbewusstseins auch im Niederadel interpretiert. Während Kersken die Formen der adligen Begräbnismemoria, also den materiellen Gehalt der Stiftungen, ausdrücklich ausklammert, widmet sich Carola Fey gerade diesem Aspekt, um Veränderungen des Gedenkens bei hochadligen Begräbnisstiftungen herauszuarbeiten. Die Analyse der einzigartig komplexen Stiftung Herzog Ludwigs des Gebarteten nimmt hier gegenüber den übrigen herangezogenen Beispielen vielleicht etwas zu viel Raum ein. Nachdem bereits ein Trend zur Verlagerung der Grablegen aus den Klöstern hin in die Residenzen der Dynastien bekannt war, arbeitet Fey unter anderem eine intensivere Einbeziehung der Pfarrgemeinde wie auch eine zunehmende Individualisierung des Gebetsgedenkens heraus.

Nur noch kurz hingewiesen werden kann auf den materialreichen realienkundlichen Beitrag von Gesine Schwarz, die Inventare und Testamente von Adligen und Bürgern daraufhin befragt, welche Gegenstände bevorzugt an die nächste Generation weitergegeben wurden - die also den Begriff der Tradition als Weitergabe in seiner ganz handfesten Bedeutung umkreist und damit eine wertvolle Ergänzung liefert.

Der Sammelband, der seinen Schwerpunkt im Bereich des bäuerlichen Lebens und der Interaktion zwischen Bauern und Adel hat, stößt mit seiner Frage nach der Traditionalität traditionaler Gesellschaften vielerorts auf Neuland vor. Obwohl man eine resümierende Zusammenfassung vermisst, wird er die künftige Forschung anregen und beeinflussen. Im Übrigen zeigt er einmal mehr, dass eine Annäherung an historische Problemstellungen nur mit den Quellen, aber nicht im Banne der Quellenterminologie erfolgen darf. Der nur auf den ersten Blick vielleicht etwas vage oder allzu plakativ erscheinende Titel "Tradition und Erinnerung" zeugt vielmehr - im Rückblick auf den Gesamt-Band - genau von dieser Bemühung um problemorientierte Quellennähe.

Joachim Schneider