Rezension über:

Erik Gunderson: Declamation, Paternity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self, Cambridge: Cambridge University Press 2003, XII + 285 S., ISBN 978-0-521-82005-9, GBP 45,00
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Rezension von:
Christian Reitzenstein-Ronning
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Christian Reitzenstein-Ronning: Rezension von: Erik Gunderson: Declamation, Paternity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self, Cambridge: Cambridge University Press 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/7038.html


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Erik Gunderson: Declamation, Paternity, and Roman Identity

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Nach "Staging Masculinity: The Rhetoric of Performance in the Roman World" (Ann Arbor 2000) hat Erik Gunderson nun eine zweite Monografie vorgelegt, die dem Zusammenhang von Redekunst und Identitätsbildung im alten Rom nachspürt. Stand im früheren Werk die Analyse normativer oratorischer Schriften im Vordergrund (v. a. Ciceros de oratore), so sind es nun die römischen Deklamationen. Gunderson kann hier im Wesentlichen aus vier Corpora schöpfen: Den Controversiae und Suasoriae des älteren Seneca, den pseudo-quintilianischen Declamationes maiores, den wohl dem Umfeld Quintilians zuzurechnenden Declamationes minores und einer Sammlung von Auszügen aus Übungsreden eines ansonsten unbekannten Calpurnius Flaccus. Der Umfang dieser Zeugnisse schwankt stark, von knappen Exzerpten in wenigen Zeilen bis hin zu komplett erhaltenen Reden. Insbesondere die den Gerichtsreden nachempfundenen Controversien zeichnen sich dabei durch eine oft fantastisch-romanhaft anmutende Thematik und Motivik aus, die schon in der Antike scharf kritisiert wurde: Piratengeschichten, Menschenopfer, Orakelsprüche, verhinderte Liebende, böse Stiefmütter, Ehebruch und Vatermord tauchen immer wieder auf.

Seit geraumer Zeit versucht die Forschung, dem Charakter und der gesellschaftlichen Einbettung dieser eigentümlichen Texte beizukommen. Das Spektrum der bislang vorgelegten Interpretationen reicht hier von einer Betonung ihres angeblich rein literarischen Charakters über den Hinweis auf ihre Eignung zur Einübung rhetorischer Kunstgriffe bis hin zu Deutungen, die im Deklamationswesen eine Sozialisationsinstanz für junge Römer erblicken. [1] Gundersons Studie setzt sich hiervon zunächst durch ein striktes "literary reading" (7) ab. Dieses methodologische Bekenntnis wird allerdings durch die entscheidende Prämisse relativiert, dass es ein Interdependenzverhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft gebe und sich beide Bereiche wechselseitig durchdrängen. Gunderson sucht die soziale Realität nicht außerhalb, sondern gerade innerhalb seiner Texte. Deklamation, so stellt er zutreffend fest, war ein nahezu ubiquitäres Phänomen der römischen Kaiserzeit und zudem eine kulturelle Praxis, die, erfolgreich betrieben, die Akkumulation von Prestige erlaubte. Freilich macht er an dieser Stelle nicht halt, sondern will tiefer vorstoßen; denn der an den Deklamationen eigentlich interessierende Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit sei das "psychic life" der Römer. Eine Analyse der Texte mithilfe psychoanalytischer Begriffe und Theorien erlaube es, die Kernsymbole römischer Subjektivität herauszuarbeiten (18). Denn römische Deklamation folge derselben Rationalität wie ein moderner Zoo: die vermeintliche, bedrohliche Wildnis draußen (die Begierden und Obsessionen der Römer) wird im scheinbar geordneten Bereich der Zivilisation (der Übungs- bzw. Schaurede) unter allerhand Sicherheitsvorkehrungen (re-)konstruiert, das Grauen durch seine kunstgerechte Darstellung gebändigt (19). Grundvoraussetzung des erfolgreichen Deklamierens sei daher die bedingungslose Einpassung in ein gegebenes Ordnungsschema: die lex declamatoria, das fiktive Gesetz, das den zu bearbeitenden Fallskizzen vorangestellt wird. [2] Gesetz und Sachverhalt einer Controversie aber könnten oft nicht ohne weiteres miteinander in Einklang gebracht werden: Aufgabe des Deklamators und zumindest implizite Funktion des opus declamatorium sei es mithin "that one come to the aid of a failing law [...] in order to shore up a possible gap in the field covered by the law's sovereignty" (228). Der Redner lerne so, auch in widersprüchlichen Situationen durch das Bekenntnis zur unantastbaren Norm die verloren gegangene Ordnung wiederherzustellen. Die Deklamation biete somit Gelegenheit, den Umgang mit psychischen und sozialen Krisen einzuüben; praktischen Wert für den Auftritt als Gerichtsredner besäßen diese Kunstprodukte freilich nicht (232 f.).

Zum Aufweis dieser Thesen hat Gunderson sein Buch ist in zwei große Teile mit insgesamt sechs Kapiteln gegliedert, die von einer einleitenden Charakterisierung der zu analysierenden Texte sowie einer Zusammenfassung der Ergebnisse eingerahmt werden. Beigefügt sind ein Stellenindex und ein Sach- und Namensregister. In englischer Übersetzung findet der Leser darüber hinaus einige Musterdeklamationen, die einen Einblick in die Textgestalt dieser Gattung erlauben. Die sechs Kapitel des Buches kreisen in erster Linie um die Person des Vaters und die damit verbundenen zentralen Begriffe der Autorität und des Gesetzes. "Pater", so argumentiert Gunderson überzeugend, ist eines der Schlüsselsymbole Roms. Den ersten Abschnitt seines Buches (29-58) widmet er so dem eher unbekannten Vater eines umso berühmteren Sohnes: Seneca pater und dessen Sammlung von bemerkenswerten Fragmenten aus Deklamationen der frühen Kaiserzeit. In der Praefatio präsentiere Seneca seine Kompilation nicht nur als Unterweisung eines Vaters für seine Söhne, sondern er beziehe zugleich auch die Position des autoritativen Kritikers literarischer wie gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Die Vaterfigur spielt mithin nicht nur in den Übungsreden selbst, sondern auch in ihrem sozialen Umfeld eine entscheidende Rolle: Stets existiert eine Autorität, die das Sagbare vom Unsagbaren, das Erlaubte vom Unerlaubten scheidet. Das zweite Kapitel (59-89) führt diesen Gedanken fort: Im Schulbetrieb kommt dem Rhetoriklehrer die Verteidigung der Autorität zu; er gibt Tenor und Struktur der Deklamationen vor. Gunderson kann zeigen, dass es ein Hauptziel dieser Übungen war, nachkommenden Generationen (den "filii") die unbedingte Verteidigung der Autorität und des Gesetzes (also des "pater") einzuhämmern: Der gute Sohn steht auf der Seite des Vaters, gerade wenn dieser seine Ansprüche nicht selbst verteidigen kann. Im dritten Kapitel (90-114) lenkt Gunderson den Blick auf die gesellschaftliche Einbettung der Deklamation: Entgegen der seit der Antike immer wieder vertretenen Meinung, die Deklamationen seien reine Fantastik ohne jeden Bezug zur Gegenwart, macht er deutlich, dass die Zeitgenossen die Produkte der Deklamatoren sehr wohl "ernst" nahmen und in ihnen eine Form des "sozialen Kommentars" bzw. der Allegorie erblickten (was wiederum diesen Kunstreden politische Brisanz zu verleihen vermochte). Das vierte Kapitel (115-149) knüpft an das Zweite an: Am Beispiel der deklamatorischen actio dementiae wird entwickelt, dass gegen pater in den Deklamationen nur ein einziges Argument zulässig war: der Vorwurf des Wahnsinns, also der Vernachlässigung seiner originären Aufgaben. Nicht die Freiheit der Söhne, sondern die Idee der väterlichen Autorität wird gegen diejenigen patres verteidigt, die ihre Pflichten vergessen zu haben scheinen. Der Deklamator tritt also nicht gegen die Vaterfigur auf: er setzt sich an ihre Stelle.

Der zweite Teil des Buchs kreist um Controversien mit sexueller Thematik. Er beginnt mit einer Analyse der bekannten Deklamation vom Miles Marianus, der einen Tribunen tötet, um dessen homosexuelle Übergriffe abzuwehren (Kapitel 5, 153-190). Wie in nur wenigen römischen Deklamationen liegt dieser Controversie ein "historischer" Stoff zu Grunde: Die im Thema beinhaltete Zumutung wird damit in die sichere, da ja bewältigte Vergangenheit, die große Zeit des Marius, verlagert. Gunderson sieht in der Verdrängung der gleichgeschlechtlichen Libido ein zentrales Moment der Identitätsbildung eines römischen vir, das in der Deklamation reproduziert wird und so der Selbstvergewisserung der Römer als Römer (und "Männer") dient. Hieran schließt das letzte Kapitel, "Paterni nominis religio" (191-226) an, das eine detaillierte Interpretation der als Redepaar konzipierten Declamationes maiores 18 und 19 bietet. Ein Vater hat seinen des Inzests mit der Mutter verdächtigen Sohn im Geheimen gefoltert, verhört und schließlich getötet. Über die Erkenntnisse dieser Prozedur schweigt er; durch einen Prozess will die Mutter ihrerseits erreichen, dass er sein Wissen preisgibt. Im Mittelpunkt der Reden steht mithin der mögliche Inzest als monstrum inenarrabile. Das Schweigen des Vaters gebiert immer neue Gerüchte und Zweideutigkeiten. In einem solchen Fall die Mechanismen von Verdrängung, Verwerfung und schließlich gewalttätiger Unterdrückung der Begierden erkennen zu wollen, wie sie die Psychoanalyse nach Freud und Lacan beschreibt, mag nahe liegen. Es bleibt aber fraglich, wie weit die Ermittlung vermeintlich psychotischer Prozesse in interpretatorischer Hinsicht führt. Hier wie in den meisten vorangegangenen Kapiteln wäre den oft überzeugenden Einzeldeutungen ein größerer Dienst erwiesen worden, hätte der Verfasser sie konsequenter in ihren sozial- und kulturhistorischen Zusammenhang gestellt. Denn es ist in den Deklamationen ja ohne Zweifel angelegt, über die Rollenbilder des jungen Römers, das Auftreten von Matronen, die Aufgaben des pater familias sowie die zahlreichen Verhaltens- und Redetabus der römischen Gesellschaft zu reflektieren, Stoff genug für eine entsprechend ausgerichtete Analyse. Gundersons Verlagerung des Blickpunktes von der gesellschaftlichen auf die psychische Ebene führt jedoch angesichts der Eigenart des Materials immer wieder zu schweren hermeneutischen (bzw. meta-hermeneutischen) Unwägbarkeiten: Von hoch artifiziellen Texten biografisch kaum mehr fassbarer Autoren, von einer beinahe endlosen Reihe von Variationen zu einem begrenzten Themenrepertoire auf das Seelenleben längst verstorbener Personen oder gleich einer ganzen Gesellschaft zu schließen setzt sich dem Vorwurf der Unüberprüfbarkeit aus. Zudem drängt sich der Verdacht auf, dass die von Gunderson ermittelte "Roman subjectivity" doch eher ein Produkt des Diskurses als der Psyche ist. Wie beides zusammenhängt, ist ganz unklar. Damit bleibt die Grundfrage zu beantworten, ob das begriffliche Arsenal der Psychoanalyse wirklich das Mittel der Wahl sein kann; im Gang der Argumentation wirkt es jedenfalls wiederholt eher wie ein Fremdkörper.

Was nimmt der Leser mit, wenn er die gut 230 Seiten einer sprachlich und terminologisch äußerst anspruchsvoll formulierten Darstellung durchgearbeitet hat? Er hat gelernt, dass römische Deklamationen weit mehr sein können als eitle Fantasieprodukte eines überhitzten Literaturbetriebs. Er hat zudem einen Einblick darin gewonnen, mit welch starken Tabus die Römer einige Fragen belegten, die doch immer wieder an die Oberfläche drängten. Ist er dem Seelenleben der Römer näher gekommen? Der Rezensent hegt hier große Zweifel. Traum und Witz, Verdrängung, Spiegelstadium und Über-Ich mögen dem Freudianer adäquate Metaphern für einzelne Phänomene von Funktion und Dysfunktion der Deklamation sein; erkenntnisleitend, also in der Arbeit an und mit dem Text tatsächlich operationabel sind sie wohl nicht. Der Rückgriff auf soziologische und diskursanalytische Theorien wäre dem Material nicht nur mindestens ebenso angemessen, sondern vielfach auch ertragreicher gewesen. Das Verdienst des besprochenen Buches liegt demgegenüber in den Einzelinterpretationen und vor allem in dem engagierten und berechtigten Plädoyer, die Deklamationen als Literatur und als Quelle ernst zu nehmen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. M. Winterbottom: Schoolroom and Courtroom, in: B. Vickers (Hg.): Rhetoric Revalued, Binghampton / New York 1982, 59-78; M. Bloomer: Schooling in Persona. Imagination and Subordination in Roman Antiquity, in: Classical Antiquity 16 (1997), 57-78. Von Gunderson nicht berücksichtigt wurden der wichtige Aufsatz von R. Kaster: Controlling Reason: Declamation in Rhetorical Education at Rome, in: Y.L. Too (Hg.): Education in Greek and Roman Antiquity, Leiden / Boston / Köln 2001, 317-337, sowie die Studie von N. Hömke: Gesetzt den Fall, ein Geist erscheint. Komposition und Motivik der ps-quintilianischen Declamationes maiores X, XIV und XV, Heidelberg 2002.

[2] Gunderson setzt hier den von M. Beard: Looking (Harder) for Roman Myth: Dumézil, Declamation and the Problems of Definition, in: F. Graf ( Hg.): Mythos in mythenloser Gesellschaft: Das Paradigma Roms, Stuttgart 1993, 44-64, vorgelegten Ansatz fort, betont aber im Folgenden die innerpsychischen Prozesse.

Christian Reitzenstein-Ronning