Rezension über:

Volker Ullrich: Deutsches Kaiserreich (= Fischer Kompakt), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006, 128 S., ISBN 978-3-596-15364-0, EUR 8,95
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Volker Ullrich: Deutsches Kaiserreich, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/12073.html


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Volker Ullrich: Deutsches Kaiserreich

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"Eine notwendig auf das Wesentliche beschränkte Einführung wie diese kann nicht alle Facetten der weitverzweigten Forschungsdiskussionen berücksichtigen. [...] Hier kommt es auf die Hauptlinien an". (3). Mit diesen Worten charakterisiert der Verfasser in der "Vorbemerkung" sein nur 128 Seiten zählendes Buch über das Deutsche Kaiserreich. Es ist in Taschenbuchreihe "Fischer Kompakt" erschienen, wie alle Bücher dieser Reihe in Kooperation mit der Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft". Diese richtet sich an ein allgemeines (nicht fachspezifisches) und trotzdem an wissenschaftlichen Fragen interessiertes Publikum. Damit ist genau der Adressatenkreis auch dieses Buches beschrieben - und auch ein möglicher Kritikpunkt.

Denn es werden in der Tat nur die Hauptlinien beschrieben. Das Buch will nicht mehr, als kompaktes Wissen zu vermitteln. Und wenn man solch einen wissenschaftlich gründlich durchleuchteten und trotzdem hoch kontrovers bleibenden Gegenstand wie das Kaiserreich kompakt darstellen will, dann geht es auch nicht anders, als holzschnittartig die Hauptlinien zu zeichnen. Da ist einfach nicht viel Platz für Nuancierung und Kontroversität. Die Frage ist nur: Stimmen die Umrisse? Die Antwort vorab: im Großen und Ganzen "Ja".

Das Buch ist wie die gesamte Reihe gegliedert: in einen gewollt knappen "Grundriss" mit wenigen ausgewählten und für das Kaiserreich zentralen Kapiteln und in so genannte "Vertiefungen", 11 Kleinkapitel. Ein Glossar erläutert knapp und gut ca. 50 Begriffe. Hinzu kommen eine auf wesentliche Ereignisse beschränkte "Zeittafel" und zwei Seiten "Literaturhinweise", in denen fast nur Werke Aufnahme fanden, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden (Darüber könnte man streiten). Für Grundriss, Vertiefungen und Glossar gilt gleichermaßen: es werden nicht nur eher traditionell politik- und sozialgeschichtliche Themen behandelt. Es finden sich auch vielfältige Ausführungen u. a. zur Mentalitäts-, Alltags- und Kulturgeschichte, selbst sexualgeschichtliche Aspekte werden in der Vertiefung "Frauen- und Frauenbewegung" thematisiert. Dieser inhaltlich sehr variantenreiche Zugriff auf die ganze Geschichte des Kaiserreiches und obendrein immer unter Einarbeitung auch neuester Forschungsergebnisse zeichnet dieses Buch aus. Dies ist noch umso höher zu veranschlagen, als der insgesamt zur Verfügung stehende Platz doch sehr beschränkt ist.

Da kann es nicht ausbleiben, dass ein Kritiker natürlich entdecken kann, dass manche Aspekte der Kaiserreichgeschichte seiner Meinung nach mit etwas zu wenig Strichen bedacht werden. Leider sind davon mehr die positiv einzuschätzenden Aspekte des Kaiserreichs betroffen. Den negativen Aspekten, "die Belastungen [...], die Keime des kommenden Unheils in sich bargen" (3), werden größere Aufmerksamkeit zuteil, und das, obwohl in der Vorbemerkung steht: "Das Kaiserreich war nicht von allem Anfang an auf Scheitern und Untergang abonniert; es lässt sich auch nicht auf eine bloße Vorgeschichte des "Dritten Reichs" reduzieren (3).

Diese Tendenz, die Belastungen, stärker zu gewichten, kann man verschiedentlich belegen, z. B. wird ausgerechnet am Schluss des Grundrisses im "Fazit" der Fregattenkapitän Bogislaw von Selchow (wer ist das?) mit seinem Tagebucheintrag 1918 zitiert: "Aber für die Juden wird auch noch die Stunde schlagen, und dann Wehe ihnen." Dann schließt der Autor seine Ausführungen mit dem letzten Satz ab: "1933 sollte diese Stunde schlagen" (65), also doch Vorgeschichte.

Oder sehr verwunderlich, wie folgende Aussage einem Ullrich durchrutschen kann: "Und nach wie vor gab es für die Risiken des Arbeiterdaseins - Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit - keine soziale Absicherung" (10). Dass es eine Bismarck'sche Sozialgesetzgebung gab (Krankheits-, Renten- und Unfallversicherung, jedoch richtig keine Arbeitslosenversicherung, die kam erst in der Weimarer Republik), steht allerdings an anderer Stelle (23) und wird mit den (etwas dürren) Worten gewürdigt: "Für die damaligen Verhältnisse war dies zweifellos ein Fortschritt." (23). Freilich war die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung - und das stellt der Verfasser dann auch deutlich heraus - verbunden mit der Absicht, die Arbeiter der SPD abspenstig zu machen. Aber war das wirklich die einzige Absicht? Das war jedenfalls schon zu Kaiserreichszeiten die hochkontroverse Frage.

Und weiter: Der Reichstag besaß nach Ullrich keine Handhabe, um die Exekutive wirksam zu kontrollieren, weil er keinen Einfluss auf die Regierungsbildung hatte. Stimmt: Bekanntlich ernannte und entließ den Kanzler allein der Kaiser. Jedoch besaß der Reichstag immerhin das Budgetrecht, und kein Gesetz konnte erlassen werden ohne seine Zustimmung. Das verschweigt Ullrich auch nicht. Aber waren das keine wirksamen Handhaben eines jeden Parlamentes - übrigens bis heute - eine Regierung an die Leine zu nehmen? Nur nutzte der Reichstag diese Möglichkeit wenig. "Es fehlte der entschiedene Wille zur Macht", so auch Ullrich (64). Und dafür trugen die Parteien im Reichstag primär die Verantwortung und nicht ein operettenhafter Wilhelm II. mitsamt seiner Regierung und seinen fragwürdigen Militärs. Ihnen schenkt Ullrich sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Zur Tendenz des Buches passt dann auch das aussagekräftige Umschlagbild: etwas verfettete, stolz-dümmliche Militärs. Einer in Pose gafft blöd aus dem Foto.

Man wundert sich auch, dass man im Glossar zwar einen Eintrag über das "Sozialistengesetz", aber keinen über die Sozialgesetzgebung findet, und einen Eintrag über das preußische "Dreiklassenwahlrecht", aber nicht über das allgemeine gleiche Wahlrecht für den Reichstag 1871 für Männer über 25, was zu der Zeit völlig unüblich war. Einordnende Vergleiche mit dem Ausland fehlen fast völlig. Die so positive zu bewertende Kompaktheit fordert eben ihren - verständlichen - Tribut.

Und trotz allem: im Großen und Ganzen stimmt das Bild. Die negativen Aspekte sind nun einmal da in der Geschichte des Kaiserreichs. Sie werden von Ullrich wirklich nicht verschwiegen. Sie werden stattdessen stark akzentuiert. Und auch das ist vertretbar. Denn eine solche Akzentuierung ist bei vielen Historikern üblich, die nach 1945 bis heute immer und immer die quälende Frage umtreibt: Wie war Hitler möglich? Aber wie Ullrich selbst konstatiert: Das Kaiserreich lässt sich nicht auf eine Vorgeschichte des "Dritten Reiches" reduzieren. Der Verfasser hätte seine eigene Feststellung - bei allen Platzzwängen - vielleicht etwas mehr mit nachdenklich machenden Ausführungen füllen können.

Fazit: Ullrichs Buch ist eine gelungene, trotz aller Kompaktheit immer noch viele Facetten berührende Darstellung des deutschen Kaiserreichs, mit starkem, allerdings durchaus vertretbarem Akzent auf negative Faktoren. Die Aussage auf dem Einband stimmt im Wesentlichen: "ein vorzüglicher Überblick", der "auf dem neuesten Erkenntnisstand" aufbaut - übrigens exzellent geschrieben und eingängig strukturiert.

Manfred Hanisch