Rezension über:

Andreas Gestrich / Steven King / Lutz Raphael (eds.): Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800-1940, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 540 S., ISBN 978-3-03910-256-3, EUR 82,40
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Eva-Maria Lerche
Seminar für Volkskunde / Europäische Ethnologie, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Eva-Maria Lerche: Rezension von: Andreas Gestrich / Steven King / Lutz Raphael (eds.): Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800-1940, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/12049.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andreas Gestrich / Steven King / Lutz Raphael (eds.): Being Poor in Modern Europe

Textgröße: A A A

Die Erfahrungen von Armen selbst sowie der gesellschaftliche, politische und administrative Umgang mit Armut stehen im Mittelpunkt dieses umfangreichen Sammelbandes. Die englischsprachige Publikation geht auf eine Tagung des Trierer Sonderforschungsbereichs 600 "Fremdheit und Armut" zurück, die Lutz Raphael und Andreas Gestrich im September 2003 in Kooperation mit Steven King von der Oxford Brookes University veranstalteten. Der größte Teil der Autoren berichtet aus aktuellen, teils inzwischen abgeschlossenen Forschungsprojekten. Behandelt wird Armut in England, Schottland, Irland und Deutschland zwischen dem späten 18. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das Konzept von Inklusion und Exklusion, das dem Sonderforschungsbereich 600 zugrunde liegt, markiert auch den theoretischen Rahmen des vorliegenden Bandes. In ihrer Einleitung weisen die Herausgeber darauf hin, dass der Ausschluss der Armen von Fürsorgeleistungen, von politischen Rechten und sozialen Handlungsmöglichkeiten auf einer Kategorisierung der Armen, etwa als unwürdig oder unverbesserlich, beruht. Eine Reihe von Beiträgen beschäftigt sich deshalb mit dem vielschichtigen Prozess, Arme als ehrbar und unterstützungsberechtigt oder als faul, kriminell, geisteskrank oder "moralisch minderwertig" zu klassifizieren. Die Definition von Armut und legitimer Bedürftigkeit durch politische und moralische Diskurse sowie administrative Entscheidungen stellt allerdings nur die eine Seite dar. Ebenso bedeutsam, wenn auch in den Quellen schwerer zu fassen, ist die Erfahrung von Armut aufseiten der Armen selbst. Im Zentrum mehrerer Aufsätze steht deshalb das Agieren von Armen innerhalb des Fürsorgesystems sowie ihre Überlebensstrategien und ihre Ökonomien des Notbehelfs.

Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie weniger die nationalen Strukturen und gesetzlichen Rahmenbedingungen untersuchen als vielmehr den Fokus auf die alltägliche Praxis in einzelnen Regionen und Kreisen, teilweise sogar in einzelnen Straßen legen. Die Herausgeber plädieren dabei in ihrem einleitenden Aufsatz für einen differenzierten Blick auf unterschiedliche Erfahrungen des "being poor". Trotz einer frühen nationalen Armengesetzgebung in England beispielsweise sei die alltägliche Praxis der Armenfürsorge in den einzelnen Regionen, zwischen Stadt und Land oder zwischen agrarischen und industrialisierten Gegenden extrem unterschiedlich gewesen. Mit einem mikroanalytischen Ansatz könne die Praxis der Fürsorge rekonstruiert werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Regionen und über nationale Grenzen hinweg herauszuarbeiten. Die vergleichende Perspektive wirke dabei der Gefahr von mikrogeschichtlichen Studien entgegen, übergeordnete Strukturen aus den Augen zu verlieren.

Die 20 Aufsätze von jeweils rund 20 Seiten sind in drei Sektionen gegliedert. Die erste Sektion unter dem Titel "The experience of being poor: networks, migration, survival strategies" ist besonders unter methodischen Aspekten interessant. Die Autoren zeigen, wie unterschiedliche Quellen aus England, Schottland und Irland, etwa amtliche Stellungnahmen zu Bittschriften, Gemeinderegister, Steuerlisten oder Fürsorgeanträge genutzt werden können, um der Erfahrung des "being poor" nachzuspüren. Die einzigartigen "Essex pauper letters", die Thomas Sokoll bereits in den 1990er-Jahren bearbeitete und edierte, gehören bei diesem Thema schon fast zum Pflichtprogramm. Anhand von drei Bittbriefen veranschaulicht Sokoll in diesem Band, wie solche Quellen als authentische Stimmen der Armen interpretiert werden können. Aufschlussreich ist auch der Ansatz von Michèle Gordon und Jens Gründler. Mit einer Mikrostudie über eine von Iren bewohnte Straße in Glasgow weisen sie die Existenz sozialer Netzwerke in einzelnen Häusern nach. Den Bogen zur Gegenwart schlägt Elizabeth Hurren mit ihrem Aufsatz über anatomische Institute und deren unwürdigen Umgang mit Leichen von Armen.

Im Mittelpunkt der zweiten Sektion "Confinement, discipline, surveillance, classification: paths to the welfare state" steht die repressive Seite der entstehenden Wohlfahrtsstaaten. Deutlich sichtbar werden Parallelen ebenso wie grundlegende Unterschiede insbesondere zwischen Irland und Deutschland. So zeigen Ina Scherder und Inga Brandes, dass die irischen "workhouses" ungeliebter, aber doch akzeptierter Teil der Armenfürsorge waren, in die sich Arme freiwillig - wenngleich ohne Alternative - begaben. Beate Althammer dagegen behandelt am Beispiel Brauweilers die preußischen Arbeitshäuser. Die "korrektionelle Nachhaft" in diesen gefängnisähnlichen Anstalten war Teil des Strafsystems, nicht der Fürsorge. In weiteren Beiträgen zeigen Katrin Marx, Jürgen Harder und Kristina Matron, wie die Klassifizierung von Armen und sozial auffälligen Jugendlichen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zunehmend von sozialdarwinistischem Denken beeinflusst wurde.

Die dritte Sektion, "The symbolism of poverty", beschäftigt sich mit der Frage, wie Armut in unterschiedlichen Medien dargestellt wurde. Anhand von Cartoons, einer illustrierten Reportage, Fotografien und Laterna-Magica-Serien rekonstruieren die Autoren zeitgenössische Wahrnehmungen und Bewertungen von Armut. Matthias Reiss beispielsweise hat Cartoons der satirischen Wochenzeitung Punch zwischen 1841 und 1939 ausgewertet. Dabei zeigt er, wie sich der Blick auf Arme veränderte: Aus den ehrbaren Armen, die Mitleid verdienten, wurden nach 1880 die Arbeitslosen, die stereotyp als Faulenzer und Landstreicher illustriert wurden. Auf die Aussagekraft einer bislang kaum beachteten Quellengattung für die Armutsforschung macht Ludwig Maria Vogl-Bienek aufmerksam. Er analysiert Bilderserien, die mithilfe der Laterna Magica, einem Vorläufer von Diashow und Film, gezeigt wurden. Armenfürsorger verwendeten diese Serien von gestellten Szenenbildern für Moralkampagnen.

Der Sammelband gibt einen hervorragenden Einblick in aktuelle Ansätze der historischen Armutsforschung. Die gut lesbaren und klar strukturierten Aufsätze gewinnen noch durch den engen gemeinsamen Forschungskontext und die vergleichende Perspektive. Die Beiträge zeigen anschaulich neue methodische Ansätze, die jenseits der normativen oder nationalen Ebene Alltagserfahrungen von Armut in den Mittelpunkt stellen. Die Mikroperspektive ermöglicht, die lokalen Praktiken der Armenfürsorge und die individuellen Überlebensstrategien von Armen mit Ergebnissen aus anderen Ländern zu vergleichen. Dabei treten mehr Gemeinsamkeiten zu Tage, als ein Blick auf die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen europäischen Ländern vermuten lassen würde. Dass die Beiträge, die sich explizit mit Leben und Handeln der Armen selbst auseinandersetzen, ausschließlich den englischsprachigen Raum behandeln, zeigt aber auch, welcher Nachholbedarf hier noch für andere Länder besteht. Zu Recht kritisieren die Herausgeber, dass Akten, die einen Zugang zum Alltag von Armen ermöglichen würden, häufig ungenutzt bleiben: "It remains a mystery, why on the European stage, the plethora of records of this type that exist remain substantially unused" (24). Zu bemängeln bleibt lediglich der hohe Preis von 82 Euro, der weder der Druck- und Bildqualität angemessen ist, noch der Tatsache Rechnung trägt, dass die Publikation und ein Großteil der dazugehörigen Forschung öffentlich gefördert wurden und deshalb auch öffentlich zugänglich sein sollten.

Eva-Maria Lerche