Rezension über:

Werner Faulstich (Hg.): Das Erste Jahrzehnt (= Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts), München: Wilhelm Fink 2006, 231 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-4269-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Tobias Becker
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Becker: Rezension von: Werner Faulstich (Hg.): Das Erste Jahrzehnt, München: Wilhelm Fink 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/11296.html


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Werner Faulstich (Hg.): Das Erste Jahrzehnt

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Mit "Das Erste Jahrzehnt" liegt nun, folgend auf die Bände über die Kultur der 1950er- bis 1980er-Jahre, der in der Chronologie erste Band einer im Wilhelm Fink Verlag erscheinenden "Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts" vor. Leitmotiv dieser von dem Medienwissenschaftler Werner Faulstich herausgegebenen Reihe ist die "besondere Berücksichtigung der neuen Kommunikationsmedien" (8 f.). Von dieser Warte aus werden vor allem zwei Merkmale als bestimmend für das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts angesehen: "Kultur primär als neue Medienkultur und ein revolutionärer Aufbruch in den meisten kulturellen Teilsystemen" (9; Hrvh. i. O.). Mit der Benennung dieser Aspekte gibt Faulstich den Rahmen für vierzehn Aufsätze vor, von denen sich sechs mit verschiedenen Medien, die übrigen acht mit den kulturellen Teilsystemen, alle aber ausschließlich mit dem deutschen Sprachraum beschäftigen.

In der Einführung verwirft Faulstich nicht nur das populäre, an politischen Wegmarken orientierte Epochenmodell eines "langen 19. Jahrhunderts", sondern auch das Konzept eines die Jahre 1880 bis 1930 überspannenden Aufbruchs in die Moderne, für das erst kürzlich Paul Nolte wieder überzeugende Argumente gefunden hat. [1] Aus medienwissenschaftlicher Perspektive lässt sich Faulstich zufolge ein revolutionärer Wandel erkennen, der mit der Jahrhundertwende zusammenfiel. Mit dem 20. Jahrhundert habe eine neue Medienkultur begonnen, deren wichtigster Bestandteil ein im Vergleich zu den vorangegangenen Epochen veränderter Umgang mit der Wirklichkeit gewesen sei: "Über Wirklichkeit wurde von nun an nicht mehr bloß berichtet, sie wurde nicht mehr nur dargestellt, sondern sie wurde visuell, auditiv, audio-visuell reproduziert." (12).

Diese These Faulstichs wird jedoch von den Beiträgen des Bandes nicht aufgegriffen. Ebenso wenig gelingt es ihnen, dessen Epochenkonzept zu untermauern. So lässt sich laut Hans-Dieter Kübler ("Zwischen Parteilichkeit und Macht: Die Presse im Kaiserreich") der Durchbruch zur Massenkommunikation nicht auf ein Jahrzehnt fixieren, sondern sei als ein mit dem Gründungsboom von Zeitungen in den 1870er-Jahren beginnender Prozess zu verstehen (24, 27). Sven Kramer hält in seinem Aufsatz "Literatur, Buchmarkt, Theater" an der traditionellen literaturhistorischen Epoche eines Fin de siècle und einer "Jahrhundertwendeliteratur" zwischen 1890 und 1910 fest (59). Gleichfalls bildet in der Musikgeschichte die Zeit zwischen 1880 und 1920 für Melanie Unseld ("Schlussakkord oder Auftakt? Musik zwischen 1900 und 1910") eine "Epoche eigenen Rechts" (136). Die Wirtschaftswerbung war nach Anfängen in der Zeit der Industrialisierung um 1890 bereits voll entwickelt (Karin Knop, "Werbung als Signum der Urbanität"). Auch die Wurzeln der Jugend- (Wilfried Ferchoff, "Wandervogel, Jugend und Jugendkultur") und Frauenbewegung (Claudia Lillge, "Frauen und Frauenkultur der Moderne") lagen vor der Jahrhundertwende, genauso wie die Ursprünge der "Debatten über Liebe, Sexualität und Geschlechterverhältnisse" (Jens Flemming) oder der Umwälzungen in "Architektur, Design und Mode", als deren Teil Ricarda Strobel Jugendstil und Arts-and-Craft-Movement begreift. Insgesamt entsteht beim Leser also eher der Eindruck, dass das Konzept eines die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930 überspannenden Aufbruchs in die Moderne auch aus medienwissenschaftlicher Sicht tragfähiger und erkenntnisfördernder ist als die Überbetonung des ersten Jahrzehnts.

Die thematische Auswahl der Aufsätze ist nicht immer verständlich. Die Grenzen zwischen Medien und dem, was Faulstich "kulturelle Teilsysteme" nennt, verschwimmen. Es bleibt fraglich, warum dem Thema "Kulturzeitschriften und intellektuelle Milieus" (Dirk Stegemann) ein eigener Aufsatz gewidmet wird, nicht aber der im Aufstieg zum Massenmedium begriffenen Illustrierten. Ebenso überrascht es, dass sich der Beitrag über die Musik von Melanie Unseld nur auf der Ebene der Hochkultur bewegt und das populäre Musiktheater genauso ausspart wie die zukunftsweisenden Erfindungen von Grammophon (1887) und Schellackplatte (1896). Ähnliches gilt für den Aufsatz "Jenseits der Knipserei, im Fahrwasser der Malerei" von Jörn Glasenapp, der die elitäre Kunstfotografie, nicht aber die Entwicklung der Fotografie zum Alltagsmedium zwischen 1890 und 1910 thematisiert. Auch das Telefon - 1900 wurde der öffentliche Münzfernsprecher eingeführt - wird mit keinem Aufsatz bedacht. Das Theater schließlich unter Literatur zu subsumieren, unterschätzt die zeitgenössische Bedeutung dieses Mediums. Es erreichte nach der Jahrhundertwende im Illusionstheater Max Reinhardts nicht nur einen künstlerischen Höhepunkt, sondern entwickelte mit Varieté, Revue und literarischem Kabarett auch neue Genres, die ein schichtenübergreifendes Massenpublikum ansprachen. Der Band tendiert insgesamt also dazu, der elitären Kunstform den Vorzug vor dem Massenmedium zu geben. Doch gerade der Durchbruch zu Massenkommunikation und Massenkultur ist für die Jahrhundertwendezeit charakteristisch. Ausnahmen bilden in dieser Hinsicht der Beitrag über die Werbung, sowie "Der Aufstieg des Sports zur Weltbewegung" von Franz X. Eder, dem auch eine sinnvolle Anbindung an die Medienkultur gelingt.

Für die Umbrüche in der Medienkultur und den "Teilsystemen" machen fast alle Autoren Industrialisierung, Modernisierung, Urbanisierung und gestiegene Mobilität verantwortlich, ohne dass diese Kausalität genauer analysiert würde. Sinnvoller wäre es gewesen, diese Voraussetzungen in der Einleitung überblicksartig zu behandeln. So hätte die stereotype Wiederholung vermieden werden können. Gleichzeitig zeigt dieser Sachverhalt, dass keine Kulturgeschichte ohne eine politik-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Unterfütterung auskommt. Gerade von einer zeitgeschichts- und politikfixierten "traditionellen Geschichtsschreibung" (als deren Exponent Faulstich ausgerechnet Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte namhaft macht) will sich Faulstich aber mit seinem medienwissenschaftlichen Ansatz und Epochenkonzept polemisch abgrenzen.

Kurz: "Das erste Jahrzehnt" enthält zu einzelnen Themen zwar brauchbare Zusammenfassungen und Überblicksdarstellungen, die von Faulstich in der Einleitung angekündigte "Überwindung [...] einzelwissenschaftlicher Ansätze" (8) leistet das Buch aber nicht. Dass Kultur ab 1900 primär neue Medienkultur war, wird nicht deutlich. Dazu hätte es einer stärkeren Konzentration auf Medien und Kommunikation, auf Ursachen und Folgen der Medienrevolution bedurft. Am Ende steht aber auch kein Gesamtbild der Kultur des ersten Jahrzehnts: vielmehr der für diese Zeit vielleicht doch charakteristische - von Faulstich aber negierte - Eindruck eines Pluralismus der kulturellen Auf- und Umbrüche. Dieser lässt sich umso schwerer vermeiden, als die Beiträge zeigen, dass die beschriebenen Entwicklungen zumeist vor 1900 begannen und im Jahr 1910 noch nicht abgeschlossen waren.


Anmerkung:

[1] Vgl. Paul Nolte: Abschied vom 19. Jahrhundert. Auf der Suche nach einer anderen Moderne, in: ders. / Jürgen Osterhammel / Dieter Langewiesche (Hg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, 103-132; zuvor: ders.: 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), 281-300; Nolte verweist vor allem auf: August Nitschke u.a. (Hg.): Jahrhundertwende: Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1990.

Tobias Becker