Rezension über:

Gerald Lamprecht: Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg (= Schriften des Centrums für Jüdische Studien; Bd. 8), Innsbruck: StudienVerlag 2007, 318 S., ISBN 978-3-7065-4202-9, EUR 32,90
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Rezension von:
Stefan Litt
Bar Ilan University, Israel
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Litt: Rezension von: Gerald Lamprecht: Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg, Innsbruck: StudienVerlag 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 3 [15.03.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/03/13252.html


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Gerald Lamprecht: Fremd in der eigenen Stadt

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Jüdisches Leben in Österreich vor 1938 - dies ist vor allem die Geschichte der Juden in Wien. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert gab es aber neben der großen Hauptstadtgemeinde auch andernorts weitere jüdische Gemeinschaften, die in ihrer Größe und Bedeutung zwar nie an die Metropole Wien und ihre Gemeinde heranreichten, aber dennoch lokal und regional von einiger Bedeutung waren.

Eine solche Gemeinde war die in Graz in der Steiermark, die zu den Regionen Österreichs gehörte, in denen sich seit dem Spätmittelalter keine Juden mehr aufhalten durften. Auch wenn sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dieses Faktum änderte, blieb sie doch die einzig echte "Israelitische Kultusgemeinde" (IKG) - so die offizielle Bezeichnung - in der Steiermark bis zu ihrem Untergang in der NS-Zeit. Bedingt durch das Fehlen von nennenswerten und formell organisierten Nachbargemeinden sowie den Umstand, dass Graz die zweitgrößte Stadt innerhalb Österreichs (in den heutigen Grenzen) war, kam der IKG Graz regional einige Bedeutung zu.

Gerald Lamprecht, der selbst in Graz am Centrum für Jüdische Studien tätig ist, dürfte die Motivation zu seiner Untersuchung nicht nur in dem Umstand gefunden haben, dass eine monografische Darstellung der modernen Gemeindegeschichte bis zum ersten Weltkrieg bis dato nicht vorlag. Darüber hinaus sind alle Vorarbeiten, von denen es einige wenige zu Teilaspekten gibt, sicher nicht aus einem kultursoziologischen und kulturhistorischen Ansatz entstanden, wie ihn Lamprecht praktiziert. Das methodologisch-theoretische Rüstzeug dazu wird von ihm in einem längeren einleitenden Teil "Jüdische Identitäten" vorgestellt. In der Einleitung wäre eine Einordnung der eigenen Forschung in den Kontext bisheriger Untersuchungen sicher nicht fehl am Platz gewesen. Danach folgen fünf Hauptabschnitte, die stark strukturiert und teilweise dreifach untergliedert sind: "Juden - Nichtjuden", "Jüdische Zuwanderer - Jüdische Gemeinde", Konsolidierung - Jüdisches Leben", "Einheit und Vielfalt - Jüdische Vereine" sowie "Vom Leben in der Stadt". Innerhalb dieser Abschnitte wird die Gemeindegeschichte von Lamprecht umfassend vorgestellt, wobei er, ausgehend von seinem speziellen Ansatz, durchaus andere Akzente zu setzen versteht, als das von ähnlichen Lokalgeschichten sonst zu erwarten ist. Wer sich beim Lesen auf diesen ungewöhnlichen und sehr anspruchsvoll dargestellten Blickwinkel einlässt, wird einigen Gewinn aus der Lektüre ziehen. Auch wenn Lamprecht für seine Betrachtungen den lokalen Rahmen kaum verlässt, so geht er doch sehr intensiv auf die Wechselwirkungen zwischen der Gemeinde und der nichtjüdischen Umwelt ein.

Aus den ersten jüdischen Jahrmarktsbesuchern am Ende des 18. Jahrhunderts, die noch gegen den Widerstand der Stände nach Graz kamen, wurden schließlich im Verlauf der folgenden Jahrzehnte ortsansässige Juden, deren Interesse zur Errichtung einer offiziellen Gemeinschaft schließlich aus dem Bedürfnis des gemeinsamen (Er-)Lebens der Religion und Bräuche entstand. Schließlich führte der Umstand, dass in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schon mehr als 50% der Jahrmarktshändler jüdisch waren, dazu, dass das Bedürfnis nach rituell reiner (koscherer) Nahrung der Händler während ihres Aufenthaltes in der Stadt befriedigt werden musste. Ab 1861 wurde daher ganz legal ein koscheres Restaurant in Graz geführt. In diesem wurden praktischerweise auch gleich die Gottesdienste der vor allem aus dem Burgenland und Ungarn stammenden Jahrmarktsbesucher unter Mitwirkung der ersten ortsansässigen Familien abgehalten, was schließlich die Keimzelle der 1863 konstituierten Kultusgemeinde werden sollte. Die Zeit der ersten Kontakte bis hin zur Etablierung wird von Lamprecht sehr überzeugend und fundiert dargestellt. Gut ausgeführt sind ebenfalls die Debatten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zur Etablierung der Gemeinde über die Fragen der Öffnung der Gesellschaft für die Juden. Damit verharrt die Darstellung nicht in der Innen- oder Außenperspektive, sondern bezieht beide Blickwinkel in die Betrachtungen ein.

Das weitere Wachstum der IKG wird von Lamprecht vor dem Hintergrund der starken Migration und Urbanisierung der Zeit analysiert, von der keineswegs nur die Juden profitierten. Die Kultussteuerlisten ab 1900 versetzten Lamprecht in die Lage, Rückschlüsse auf die Sozialstruktur der Gemeinde zu ziehen. Danach gab es, wie andernorts auch, nur eine kleine Oberschicht, dafür aber um die 50% Angehörige der Unterschicht: Die IKG unterschied sich nicht grundlegend von der allgemeinen Bevölkerung in Graz. Auch die Wohnsituation innerhalb der Stadtviertel wird gut dargestellt, wobei an dieser Stelle einer der kleinen technischen Mängel des Buches auftritt: Die Beigabe einer größeren und im Detail erkennbaren Übersichtskarte hätte Nichtkennern der Stadttopografie von Graz die Benutzung etwas erleichtert.

Lamprecht entzieht sich auch nicht der Aufgabe, den zunehmenden Antisemitismus in der Stadt und die jüdischen Reaktionen darauf intensiv zu thematisieren. Durch die Beschränkung der Untersuchung bis zum ersten Weltkrieg bleibt freilich die in dieser Hinsicht wohl prägnanteste Epoche ausgespart. Eine Fortführung der Forschung ist in Zukunft ohne Zweifel wünschenswert.

Am Ende des Bandes findet sich eine kurze Zusammenfassung, in der spätestens noch einmal eine intensivere Verknüpfung von Methodologie und Arbeitsergebnissen hätte erfolgen müssen. Weiter sind hier die Anmerkungen zu allen Kapiteln, ein Anhang mit den Namen der Gemeindefunktionäre, sowie die Verzeichnisse der Abbildungen und benutzten Quellen und Literatur platziert. Das Fehlen eines Namensindexes ist bei einer Untersuchung dieser Art allerdings schmerzlich, wobei die Ursache hier weniger beim Autor als beim Verlag liegen dürfte.

Alles in allem ist Lamprechts Arbeit ein gelungenes Buch, das seine Leserschaft sicher sowohl in lokal- und regionalhistorisch interessierten Personen, wie auch im Fachpublikum finden wird, wofür die Aufnahme in der Schriftenreihe des Centrums für Jüdische Studien Garant ist.

Stefan Litt