Rezension über:

Dominik Haffer: Europa in den Augen Bismarcks. Bismarcks Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 16), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 723 S., ISBN 978-3-506-76982-4, EUR 68,00
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Rezension von:
Helma Brunck
Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Helma Brunck: Rezension von: Dominik Haffer: Europa in den Augen Bismarcks. Bismarcks Vorstellungen von der Politik der europäischen Mächte und vom europäischen Staatensystem, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/17729.html


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Dominik Haffer: Europa in den Augen Bismarcks

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Die Dissertation von Dominik Haffer widmet sich dem europäischen Verständnis Bismarcks in der Gestaltung der internationalen Beziehungen seiner Zeit. Damit will der Verfasser zu der schon breit erforschten Außenpolitik Bismarcks eine Lücke schließen, denn hier geht es um Bismarcks Bemühungen um eine berechenbare Politik im Staatensystem auf der Basis europäischen Rechts und politischer Kultur: Ideen, nicht Taten sollen hier vor allem analysiert werden.

Kaum eine Person des 19. Jahrhunderts wurde bislang im Hinblick auf Europa so kontrovers diskutiert wie Bismarck, wie Haffer in seiner Einleitung festhält. Er führt weiter aus: "Die Ansichten über sein politisches Wirken reichen von dem Vorwurf der Zerstörung einer bestehenden europäischen Ordnung bis hin zur Schaffung eines friedlichen Systems in Europa, doch nur wenige Arbeiten nehmen dabei Bezug auf ideengeschichtliche Aspekte." (11)

Die Arbeit ist in fünf Hauptkapitel gegliedert und beginnt zunächst mit "Überlegungen zum politischen Handeln Bismarcks", wobei das europäische Umfeld und der Kontakt zu den Vertretern der europäischen Großmächte beleuchtet werden. Großmachtpolitik, so Haffer, galt Bismarck mehr als die Politik der Parlamente oder der öffentlichen Meinung. Obgleich ihm die Interessen des Staates stets als Richtschnur der eigenen auswärtigen Politik dienten, lagen dieser schon früh der Wunsch nach Handlungsfreiheit und Individualität zugrunde.

Zu den "Wurzeln des Europabildes bei Bismarck" im folgenden Kapitel, worin die kulturellen und politischen Grundlagen des Bismarck'schen Europaverständnisses ("Kultureuropa" und "Mächteeuropa") gegenübergestellt werden, gehört die Tatsache, dass er unter den politischen Verhältnissen und Bestimmungen aufwuchs, die der Wiener Kongresses geschaffen hatte. Als wesentliche und Bismarcks Politik bestimmende Faktoren gelten Haffer der wirtschaftliche Aufstieg Preußens, dessen territoriale Ausdehnung nach Westen, die Nationalitätenproblematik sowie eine zunehmend stärkere Position gegenüber Österreich im Deutschen Bund, die eine Bundesreform notwendig machte. Bismarck machte schon als Bundestagsgesandter (1851-1858) aus seiner Abneigung gegenüber Österreich keinen Hehl und wollte die Gleichberechtigung Preußens, das durch den Vertrag von Olmütz erheblich geschwächt war, am Deutschen Bund durchsetzen, weshalb er schon zu Beginn seiner Karriere heftig in die Kritik geriet.

Als nächstes folgt das Kapitel "Deutschland und Europa vor und nach dem Krimkrieg". Das Auftreten Österreichs ließ das Vertrauen Bismarcks in die Arbeit der Bundesversammlung sinken. Das galt vor allem Schwarzenberg und seinen Mitstreitern, die Preußen dominieren und international ganz ausschalten wollten. Insgesamt konnte Bismarck während der Zeit des Krimkrieges und danach als Gesandter in Frankfurt am Main, St. Petersburg und Paris auf dem Gebiet der auswärtigen Politik nicht in leitender Funktion und eigenverantwortlich handeln, blieb statt dessen bis 1862 auf seine diplomatische Rolle beschränkt. Dennoch verfolgte er gerade jetzt gezielt preußische Interessen unter dem Aspekt der Großmachtpolitik, sammelte wichtige Erfahrungen zur künftigen Beurteilung europäischer Politik und einzelner Staatsmänner, vor allem Napoleons III., und setzte sich 1856/57 mit den durch den Krimkrieg entstandenen Veränderungen ebenso wie mit der Regulierung der Donauschifffahrt, dem preußisch-französischen Handelsvertrag und der Hinwendung zum Freihandel unter Berücksichtigung nicht nur deutscher, sondern auch europäischer Interessen auseinander. Ansehen, Autorität und wirtschaftliche Prosperität gehörten für Bismarck zu den Voraussetzungen machtpolitischen Einflusses in Europa.

Das Kapitel "Krisen und Kriege als Stationen europäischer Politik" rückt Bismarck als preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister in den Vordergrund. Die europäische Stellung Preußens sah er durch den Heeres- und Verfassungskonflikt im Innern gefährdet. Seine Verständigungspolitik mit Österreich und sein geschickter Umgang mit der Polenkrise beweisen seine Sorge um eine mögliche existenzielle Bedrohung Preußens nach außen. Die Einbindung Österreichs in den Konflikt um Schleswig-Holstein und die Suche nach einem preußisch-österreichischen Ausgleich in der Zollpolitik unterstreichen Bismarcks deeskalierende Bestrebungen, um eine Verhandlungsbereitschaft der Großmächte zu erzielen. Zur nationalen Neugestaltung Deutschlands wurde Bismarcks Handeln nicht von der konservativen Solidaritätsidee, sondern nur von berechtigten Interessen Preußens, auch im Hinblick auf die Einverleibung Hannovers, Kurhessens, Nassaus und der Stadt Frankfurt am Main bestimmt. Ein besonderes Gewicht kommt anschließend der Politik Bismarcks zwischen Luxemburg-Krise und der Reichsgründung zu, wobei Luxemburg als Objekt eines dauerhaften Interessenausgleichs hier besonders beleuchtet wird. Im Mittelpunkt des fünften Kapitels "Das Deutsche Reich als neue Größe im europäischen Staatensystem" stehen als Voraussetzung zur Reichsgründung 1871 die europäische Ausgangslage und der Auftakt zum Deutsch-Französischen Krieg, europäische Kollektivpolitik gegenüber staatlicher Interessenpolitik im Mittelpunkt sowie nach 1871 die Etablierung, die "Krieg-in-Sicht"-Krise und der Übergang zum Bündnissystem. Wegen der drohenden Isolation Preußens nach der Annexion von Elsaß-Lothringen und ständiger Vorbehalte Bismarcks gegenüber England, aber auch gegenüber Österreich-Ungarn erforderten die Beziehungen zu Russland höchstmögliche Sensibilität. Durch das Bündnissystem, das alle europäischen Staaten außer Frankreich einschloss, sorgte der Reichskanzler bis zu seiner Entlassung 1890 vor allem für die Vermeidbarkeit einer Zweifrontenkriegskonstellation.

In der Schlussbetrachtung kommt Haffer zu dem Ergebnis, dass Bismarck "keine antieuropäische Haltung einnahm, sondern sich um eine Stabilisierung, äußerstenfalls um eine den veränderten Verhältnissen entsprechende Anpassung des europäischen Staatensystems bemühte und für Preußen-Deutschland einen, seiner gleichberechtigten und ebenbürtigen Stellung zu den übrigen Großmächten entsprechenden Platz in Europa zu sichern suchte." (665)

Die Arbeit zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Vielfalt an gedruckten und ungedruckten Quellen und breite archivalische Basis aus, wobei schwer zugängliche Quellen ausführlich zitiert und gut kommentiert werden. Verwertet werden die Akten des politischen Archivs (PA) des Auswärtigen Amtes, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz und des Bundesarchivs in Berlin, des Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg/Brsg. und der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh. Das trägt zur Bereicherung der Bismarckforschung bei. Haffer vertieft mit seinen gründlichen Überlegungen vor allem die Ansätze von Lothar Gall, der Bismarcks Außen- bzw. Europapolitik unter dem Aspekt der "Revolution von oben" fokussierte [1], sowie von Rainer F. Schmidt, der in komprimierter Weise unterstrich, wie der Realpolitiker Bismarck in den Bedingungsrahmen und das Wirkungsgefüge seiner Zeit eingebunden war und ständig flexibel reagieren musste. [2] Außerdem belegen Haffers Thesen Bismarcks früh einsetzende Erkenntnis, dass der von ihm erstrebte Nationalstaat nur in einem europäischen Beziehungsgeflecht überleben kann, was bereits Theo Schwarzmüller überzeugend nachwies. [3] Zudem bildet dieses Buch die Kehrseite des 2006 von Klaus Hildebrand und Eberhard Kolb herausgegebenen Sammelbandes mit Aufsätzen zum Thema: "Otto von Bismarck im Spiegel Europas", worin das Urteil der europäischen Nachbarn über Bismarck zur besseren Erschließung europäischer Geschichte im Mittelpunkt steht. [4]

An manchen Stellen wirkt diese Studie jedoch etwas aufgebläht. Diskussionen werden breit angelegt und hätten durch komprimiertere Darstellung die gleiche Aussagekraft. Dennoch ist die Arbeit als wichtige Ergänzung zu den bisherigen Publikationen zur Europapolitik Bismarcks unentbehrlich und korrigiert das immer noch kritikbehaftete Bismarckbild durch die Absicht, diesem Staatsmann eine verantwortungsbewusste, ausgleichende und vor allem das Gleichgewicht der Mächte in Europa berücksichtigende Rolle zuzuschreiben.


Anmerkungen:

[1] Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980 u.a.

[2] Rainer F. Schmidt: Otto von Bismarck (1815-1898). Realpolitik und Revolution. Eine Biographie, Stuttgart 2004.

[3] Theo Schwarzmüller: Otto von Bismarck. München 1998.

[4] Klaus Hildebrand / Eberhard Kolb (Hgg.): Otto von Bismarck im Spiegel Europas, Paderborn 2006.

Helma Brunck