Rezension über:

Martin Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945-1963, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 454 S., ISBN 978-3-506-76806-3, EUR 48,00
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Rezension von:
Clemens Vollnhals
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Vollnhals: Rezension von: Martin Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945-1963, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/11/18543.html


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Martin Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg

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Zu den Defiziten der Geschichtsschreibung zur Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik zählt nach wie vor die geringe Beachtung der Kirchen und konfessionellen Milieus, obwohl sie gerade in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten noch eine sehr starke Prägekraft aufwiesen. Auch innerhalb der kirchliche Zeitgeschichte, die sich längst als eigenständige Disziplin am Rande der theologischen Fakultäten etabliert hat, weist die Beschäftigung mit der jüngeren Kirchengeschichte nach 1945 noch deutliche Defizite auf, die vielfach aus einer theologisch-kirchenpolitischen Engführung der Fragestellungen herrühren.

Zu den Vorzügen der Darstellung des profilierten Kirchenhistorikers Martin Greschat zählt die breite Einbettung seines Themas in die allgemeine Zeitgeschichte und die klare Betonung der Abhängigkeit beider deutscher Teilstaaten von der jeweiligen Hegemonialmacht, die die politischen Rahmenbedingungen in unterschiedlicher Intensität vorgaben und den Handlungsspielraum definierten. Die Geschichte des deutschen Protestantismus im Kalten Krieg ist also immer eng mit dem internationalen politischen Kontext, aber auch mit sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen in beiden deutschen Teilstaaten verknüpft. Mit dem Brückenschlag von der allgemeinen zur kirchlichen Zeitgeschichte gelingt Greschat die Entfaltung eines breiten Panoramas, das die heftigen politischen und theologischen Auseinandersetzungen innerhalb des Protestantismus in die historischen Zusammenhänge ihrer Zeit rückt.

Entgegen dem im Untertitel genannten Zeitraum setzt die Darstellung allerdings mit den "heißen Jahren des Kalten Krieges" und der Gründung der beiden deutschen Staaten ein, während die kirchliche Neuordnung und die politischen Stellungnahmen während der Besatzungszeit nur gestreift werden. Dies hat seine Berechtigung, da Martin Greschat diesen formativen Abschnitt bereits in einer 2002 erschienenen Studie ausführlich behandelt hat [1].

Für den nationalkonservativ geprägten Protestantismus bedeutete die Teilung Deutschlands einen tiefen Bruch mit dem tradierten Selbstverständnis. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur die Sowjetisierung der Ostzone auf Protest stieß, sondern auch die Gründung der Bundesrepublik sehr skeptisch betrachtet wurde. Am schärfsten formulierte dies Martin Niemöller, als er im Dezember 1949 apodiktisch erklärte: "Die derzeitige westdeutsche Bundesregierung ward empfangen im Vatikan und geboren in Washington. Die Fortdauer des westdeutschen Staates bedeutet den Tod des kontinentalen Protestantismus." Die zentrale Forderung der nationalen Einheit, die um keinen Preis aufgegeben werden dürfe, war auch mit konfessionellen Ressentiments unterlegt und mündete in einer scharfen Kritik an Adenauers forciertem Kurs der Westintegration und Wiederbewaffnung. Während die katholische Kirche die Politik Adenauers aus Überzeugung mittrug, führte diese in der evangelischen Kirche zu äußerst erbitterten Auseinandersetzungen zwischen bruderrätlichen Kreisen und eher konservativen Lutheranern, die Greschat in all ihrer Härte und Destruktivität nachzeichnet.

Mit dem Scheitern der Gesamtdeutschen Volkspartei Gustav Heinemanns und der Unterzeichnung der Pariser Verträge, aber auch mit der gewaltsamen Niederschlagung des 17. Juni 1953 und des Aufstandes in Ungarn 1956 verschoben sich die Koordinaten. Die (scheinbare) politische Alternative eines zwischen den Blöcken neutralen Deutschlands war durchgespielt und faktisch erledigt. Wie Greschat überzeugend darlegt, zeigen die Debatten der frühen 1950er Jahre allerdings "nicht nur das Beharren und Fortschreiben der alten nationalistischen, autoritären und antidemokratischen Gesinnung, sondern auch Anzeichen einer Umorientierung - einer gewiss begrenzten, aber doch erkennbaren Hinwendung zu den geistigen wie auch politischen Wertvorstellungen des Westens" (156).

Zu den Vorzügen zählt weiterhin, dass die Darstellung immer auch die Vorgänge und Entwicklungen im ostdeutschen Protestantismus gleichberechtigt in den Blick nimmt, der seine Stellung gegenüber einem kämpferisch atheistischen System mühsam behaupten musste. Der offene Kampf gegen die Kirchen wie die schleichende Auszehrung der volkskirchlichen Substanz im Zuge der Jugendweihe werden ebenso behandelt wie die innerkirchlichen Debatten, die nach Jahren des Protests zur Loyalitätserklärung in dem umstrittenen Kommuniqué von Juli 1958 führten. Hierin gaben die Kirchenführer gegenüber dem SED-Staat die Versicherung ab, "als Christen die staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen [und] die Entwicklung zum Sozialismus zu respektieren". Greschat interpretiert diese Entwicklung als die letztlich unumgängliche Akzeptanz des Faktischen, weniger als einen bewussten Weg in die Anpassung. Die Verantwortung für die Bewältigung des alltäglichen Lebens als Christ erforderte Orientierungen, die der politischen und gesellschaftlichen Realität entsprachen und den Duktus der Fundamentalopposition hinter sich ließen.

Der Protestantismus musste sich in beiden deutschen Staaten erst einrichten und dazu tradierte Überzeugungen und mentale Prägungen aufgeben, wobei dies im Westen gewiss leichter fiel als im Osten. Überwog zu Beginn der 1950er Jahre auf beiden Seiten noch oftmals das Nein zum Bestehenden, so änderte sich das am Ausgang des Jahrzehnts. Die Realität unterspülte die zuvor kompromisslos vorgetragene Forderung nach nationaler Einheit und bereitete einer neuen Ostpolitik den Boden.

Ein eigenes Kapitel ist schließlich dem "protestantischen Leben" gewidmet, das das Spannungsfeld von Beharrung und Veränderung am Beispiel von Frömmigkeit und Theologie nachzeichnet, aber auch den Wandel im kirchlichen Selbstverständnis und ökumenische Neuansätze kenntnisreich thematisiert.

Die souveräne Darstellung Martin Greschats besticht durch ihr abgewogenes Urteil. Sie arbeitet die unterschiedlichen Sichtweisen der widerstreitenden kirchenpolitischen Richtungen differenziert heraus, ohne die Konflikte zu harmonisieren, und hält gleichzeitig Distanz zu den Schützengräben der Vergangenheit.


Anmerkung:

[1] Martin Greschat: Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002.

Clemens Vollnhals