Rezension über:

Fritz J. Raddatz: Tagebücher. Jahre 1982-2001, 3. Auflage, Reinbek: Rowohlt Verlag 2010, 941 S., ISBN 978-3-498-05781-7, EUR 34,95
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Rezension von:
Florian Keisinger
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Florian Keisinger: Rezension von: Fritz J. Raddatz: Tagebücher. Jahre 1982-2001, 3. Auflage, Reinbek: Rowohlt Verlag 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/11/18783.html


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Fritz J. Raddatz: Tagebücher

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"Daß wir uns nun immer alle noch nächtens oder spätestens am nächsten Morgen per Tagebuch aufspießen wie Schmetterlinge und unter dem Glas-Sturz bösartig-lauernder Eitelkeit fixieren - hat ja auch was Komisches", schreibt der Literaturkritiker und Autor Fritz J. Raddatz in seinen nun erschienenen Tagebüchern der Jahre 1982 bis 2001. Mit der Veröffentlichung reiht er sich ein in die größer werdende Schar seiner Zeit- und Weggefährten, die sich - von Peter Rühmkorf bis Martin Walser - bereits zu Lebzeiten für eine Veröffentlichung ihrer persönlichen Aufzeichnungen entschieden haben. Raddatz erachtet dies als legitim und verweist auf Namen wie "Gide, Gombrowicz oder Jünger", deren Tagebücher ebenfalls ante mortem erschienen sind und somit selbstverständlich von diesen selbst redigiert worden seien. Gleichwohl hält ihn das nicht davon ab, seinen Kollegen Rühmkorf genau deswegen zu kritisieren, da dieser, so Raddatz, "seine [Tagebücher] zur Publikation glättet, stilisiert; bin nicht sicher, ob das ganz zulässig".

Ob Raddatz seine Tagebücher vor der Drucklegung ebenfalls glättete oder stilisierte, lässt sich schwerlich überprüfen. Er selbst versichert, dies sei nicht der Fall gewesen. Ob man ihm das so ganz glauben darf, ist hingegen fraglich. Zumal die Lektüre mehr als deutlich macht, dass die Stilisierung der eigenen Person ein wesentlicher Bestandteil der Raddatzschen Biographie ist - sowohl im beruflichen als auch privat: "Mein Grundgesetz des Ewig-beides-(alles-) Wollens: Männer und Frauen, links sein und elegant, Kritiker und Romancier, verhasst und geliebt."

Vieles von dem, was in den Tagebüchern des "FJR" auftaucht, kennt man bereits aus der 2003 erschienenen Autobiographie "Unruhestifter". Die intensive Freundschaft mit dem kürzlich verstorbenen Maler und Bildhauer Paul Wunderlich; der Austausch mit Günter Grass, der von Bewunderung und Neid gleichermaßen zeugt ("Grass ne andre Kategorie, [...] kraftvoller, weniger skrupulös [...] und von keinem Selbstzweifel geplagt [...] - selbst wenn's wie mit den Sonetten schiefgeht") und immer wieder durch Phasen der Auseinandersetzung unterbrochen wird; auch die Affäre mit Nurejew Anfang der 1960er Jahre vergisst Raddatz nicht zu erwähnen, wobei er den weltbekannten Balletttänzer zunächst gar nicht erkannt haben will ("wir waren ja Fritz und Rudolf gewesen und ich hatte mich an seinem wahrlich makellosen Körper delektiert wie an einer köstlichen Speise"); und schließlich darf auch die (rothaarige) Stiefmutter nicht fehlen, mit der der jugendlichen FJR einst - unter Anleitung des Vaters - die körperliche Liebe kennengelernt hatte; hingegen tritt ein gewisser Literaturkritiker namens Reich-Ranicki, dessen Nennung in "Unruhestifter" noch tunlichst vermieden worden war, in den Tagebüchern nun in Erscheinung: "Reich-Ranicki wollte mich zu seiner Fernseh-Quasselbude einladen!!! Und mochte garnicht verstehen, daß ich [...] nein sagte."

Wie in seiner Autobiographie pflegt Raddatz auch in den Tagebüchern das Image des brillanten Außenseiters im Kulturleben der Bundesrepublik. Doch ist er das tatsächlich?

Keine Frage, Raddatz musste sich alles in seinem Leben hart erarbeiten, worauf er zurecht stolz ist. Bereits mit Anfang zwanzig war er stellvertretender Cheflektor beim Ost-Berliner Verlag "Volk und Welt"; kurz nach seiner Übersiedelung in die Bundesrepublik 1958 wurde er stellvertretender Leiter bei Rowohlt; und zwischen 1976 und 1985 stand Raddatz dem Feuilleton der "Zeit" vor. Als wäre das nicht genug, schrieb er - quasi nebenher - zahlreiche Sachbücher ("Karl Marx - eine politische Biographie") und Romane ("Kuhauge"); zudem ist er seit rund 40 Jahren Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, dessen Werke er auch ediert und herausgegeben hat. Raddatz steht also seit mehr als einem halben Jahrhundert im Zentrum des kulturellen und geistigen Lebens in Deutschland. Er ist erfolgreich und verdient viel Geld, und hat dem entsprechend viele Neider und auch falsche Freunde; das ist nichts Ungewöhnliches, sondern wohl eher der Normalfall. Kurzum, auch wenn sich Raddatz gerne (mitunter mit einer gehörigen Portion Wehleidigkeit) als der große Außenseiter des deutschen Kulturbetriebs stilisieren möchte, er ist es nicht. Und das ist gut so, denn genau das macht seine Tagebücher zu einer so spannenden und kurzweiligen Lektüre.

In einer Zeit, in der Flugreisen noch einen besonderen Luxus darstellten und vom Hauch der Exklusivität umweht waren, flog Raddatz munter durch die Welt ("business class", wie er gerne betont): In New York feierte er mit Susan Sontag (und noch mehr mit Allen Ginsberg: "immer, wenn wir pausierten, sprachen wir, streichelten uns mit dem Hirn"); in Barcelona diskutiert er mit Gabriel García Márquez ("das Gespräch geht auf Französisch") über das Motiv der "Vergeblichkeit" in dessen Werk; in Madrid führt er ein Gespräch mit Jorge Semprún für die "Zeit"; und in London tritt er in einer Fernsehsendung zusammen mit Salman Rushdie auf ("So groß, wie er denkt, daß er sei, ist er, glaube ich, nicht"). Dazwischen immer wieder Zusammenkünfte mit dem "Who-is-Who" der deutschen Kulturschaffenden, von Grass über Enzensberger bis Schirrmacher ("bestätigt mir AUCH eine geradezu kategorische Abneigung Reich-Ranickis gegen mich"), Augstein ("eine Witzfigur jeder Party") und Dönhoff ("die Inge Meysel des deutschen Journalismus"). Die Treffen fanden mal in München oder Paris statt, mal Hamburg oder im großzügigen Feriendomizil auf Sylt.

In ehrlichen Momenten muss dann selbst Raddatz einräumen, dass es ihm in seinem Leben bislang recht ordentlich ergangenen ist: "Wenn ich doch begriffe, wie gut es mir geht: ohne Sorgen, was Hotel-Taxi-Flugzeug usw. kosten, ohne Zeitdruck, Terminhast kann ich meine selbstgewählten Themen erarbeiten." Hinzu kommen die unzähligen kostspieligen Kunst- und Einrichtungsgegenstände, die er auf seinen zahlreichen Reisen ersteht: "Sie haben ja eine formidable Kunstsammlung" (Schirrmacher). Gleichwohl knabbert Raddatz schwer daran, dass es immer Kollegen gibt, denen es vermeintlich noch besser ergeht, was dann mitunter zu Neid und Missgunst führt. Egal ob Joachim Kaiser ein höheres Honorar angeboten bekommt, Adolf Muschg einen Akademiesitz erhält, auf den Raddatz spekuliert hatte, oder ein anderer als er selbst zum Gastprofessor in Oxford ernannt wird ("Fast krank vor Wut") - stets beklagt Raddatz sich bitterlich, wie ungerecht sich doch die Mitmenschen ihm gegenüber verhielten, zumal ihm doch die meisten so viel zu verdanken hätten.

Doch trotz dieser phasenweisen Larmoyanz ist die Lektüre der Raddatzschen Tagebücher ein Lesevergnügen; obwohl knapp 1000 Seiten stark reicht dafür ein Wochenende, denn man legt das Buch einfach nicht mehr aus der Hand. Das liegt zum einen am brillanten Stil des erfahrenen Feuilletonisten und Autors; zum anderen aber auch an der detaillierten Beobachtung seiner Zeitgenossen sowie der zahllosen intellektuellen und politischen Auseinandersetzungen, in die Raddatz - wie etwa im Zuge des Einigungsprozesses 1989/90 - nicht selten aktiv und mit großer Leidenschaft eingriff. Die Raddatzschen Tagebücher sind damit nicht zuletzt auch ein lesenswertes Stück bundesrepublikanischer Geistes- und Kulturgeschichte.

Im antiken Rom gab es den Brauch, dass bei Triumphzügen hinter dem siegreichen Feldherrn ein Sklave oder Priester stand, der den Imperator an seine Sterblichkeit erinnerte. Dergleichen benötigte Raddatz sicherlich nicht (seiner Sterblichkeit ist er sich - wie man aus zahlreichen Tagebucheintragungen erfährt - nur allzu bewusst). Gleichwohl wünscht man sich hin und wieder jemanden, der ihm ganz leise zuflüstert, er möge doch die Eitelkeiten des Kulturbetriebes nicht immer ganz so ernst und persönlich nehmen.

Florian Keisinger