Rezension über:

Jens Bruning / Ulrike Gleixner (Hgg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576-1810 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; Nr. 92), Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2010, 325 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-447-06210-7, EUR 39,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Thomas Töpfer
Historisches Seminar, Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Töpfer: Rezension von: Jens Bruning / Ulrike Gleixner (Hgg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576-1810, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/07/19091.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Jens Bruning / Ulrike Gleixner (Hgg.): Das Athen der Welfen

Textgröße: A A A

Die Geschichte der Universität Helmstedt wurde lange Zeit von ihrem unrühmlichen Ende her betrachtet, das nicht selten teleologisch ins 18. Jahrhundert zurückprojiziert und als schleichender Verfall und Bedeutungsverlust betitelt wurde. Die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel hat es sich anlässlich des 200. Jahrestages der Schließung der Universität zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der Academia Julia im Rahmen eines Forschungsprojekts und einer Ausstellung einer Neubetrachtung zu unterziehen.

Wie bereits die im Titel vorgenommene Kennzeichnung Helmstedts als "Reformuniversität" zeigt, geht es den Herausgebern vor allem darum, die innovativen und zukunftsweisenden Elemente der Geschichte der Universität zu würdigen. Dabei steht die bislang vernachlässigte Stellung der Hochschule im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert im Mittelpunkt. Die Leitlinie des Bandes wird bereits in den einführenden Beiträgen skizziert, in denen die Bedeutung Helmstedts als "Wegbereiterin der Universität der Aufklärung" (Helwig Schmidt-Glintzer, 10) hervorgehoben und - in der Einführung von Notker Hammerstein - nach dem "Besonderen an Helmstedt" gefragt wird. Hammerstein verortet dieses "Besondere" einerseits in dem offenen "Geist der Statuten" und andererseits bei herausragenden Gelehrten des ersten Jahrhunderts: so Johannes Caselius und Cornelius Martini sowie Hermann Conring und Georg Calixt.

Die 28 Beiträge des Bandes sind in fünf Abteilungen gegliedert, von denen die erste (6 Beiträge) einen teils generalisierenden, teils personenbezogenen Charakter hat. So werden die chronologischen Eckdaten der Universität - Gründung (Brage Bei der Wieden) und Untergang (Dietrich Weiß) - ebenso behandelt wie wichtige Gelehrte und deren europäische Vernetzung (Inge Mager), die Bedeutung der Universität in der wissenschaftlichen geschichtlichen Entwicklung (Detlef Döring) sowie Aspekte der studentischen Inszenierung und Memoria (Ulrich Rasche und Werner Wilhelm Schnabel). Die Beiträge von Bei der Wieden und Mager zeigen, dass die von Herzog Julius mit der Universitätsgründung vorgenommenen Ausrichtung am orthodoxen Luthertum bereits unter seinem Sohn Heinrich Julius zugunsten einer größeren Eigenständigkeit und Wertschätzung der Philosophie sowie überkonfessioneller Kontakte zum Calvinismus aufgegeben wurde. Detlef Döring macht darauf aufmerksam, dass die verbreitete Geringschätzung der Rolle Helmstedts für das 17. und 18. Jahrhundert nicht isoliert betrachtet werden darf, da diese negative Sichtweise lange Zeit gegenüber fast allen Universitäten praktiziert wurde. Das Nebeneinander von "Überkommenem" und den "Ansätzen zum Neuen" (47) - beispielsweise in Gestalt gelehrter Gesellschaften sowie neuartiger Zeitschriften - sollte ernster genommen werden. Ulrich Rasche beschreibt anhand der Helmstedter Disziplinargesetze studentischen Alltag und Konfliktaustrag und kombiniert dies mit Bildquellen zur akademischen Memoria, deren Quellenwert er besonders hervorhebt. Bildquellen präsentiert auch Werner Wilhelm Schnabel in seinem Beitrag über Stammbücher.

Die innere Funktionsweise der Universität und deren Stellung in der städtischen Öffentlichkeit behandelt die von Marian Füssel eingeführte zweite Sektion des Bandes. Diese verdient Beachtung, weil hier unter anderem Ergebnisse des erwähnten Wolfenbütteler Forschungsprojekts zur Entwicklung der Lehre an der Universität Helmstedt präsentiert werden. Franziska Jüttner und Kristina Steyer geben einen Überblick zu den Vorlesungsverzeichnissen, an denen sich die Veränderungen des Lehrprofils ablesen lassen. Die Entwicklung der Dissertationen, Disputationsprogramme und anderer einschlägiger Quellen, in denen sich etwa der auch an anderen Universitäten zu beobachtende Bedeutungsverlust des Bakkalaureats niedergeschlagen hat, spiegelt die sich wandelnde gesellschaftliche Nachfrage nach akademischen Graduierungen (Timo Steyer). Matthias Asche legt eine umfassende prosopographische Analyse des Helmstedter Lehrpersonals vor und vermag das Ausmaß des Phänomens "Familienuniversität" genauer zu bestimmen, das im Kontext der territorialen Elitenbildung betrachtet und nicht nur negativ konnotiert werden sollte. Dass sich diese "akademische Gemeinschaft" vielfältiger Repräsentationspraktiken bediente, um in der städtischen Öffentlichkeit präsent zu sein, hat die neuere Universitätsgeschichtsforschung in allen Facetten gezeigt. Entsprechende Befunde für Helmstedt fasst hier Richard Kirwan zusammen.

Der soziale Kontext der Universität erschöpfte sich aber nicht darin, wie in der dritten Sektion anhand der Professorenhaushalte gezeigt wird. Auf innovative Weise fragen Ulrike Gleixner, Marita Sterly, Heide Wunder und Cornelia Niekus Moore nach der Präsenz der Lehrenden im Helmstedter Stadtbild und beleuchten die sozialgeschichtliche Stellung und Funktionsweise der Familien und Haushalte der durch akademische Privilegien geschützten Professoren. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf den weiblichen Mitgliedern, deren Aufgaben und Bildungsprogrammen.

Disziplinengeschichtlichen Aspekten ist die vierte Sektion des Bandes gewidmet. Unter der Überschrift "Helmstedter Neuerungen" sollen dabei innovative Aspekte im 17. und 18. Jahrhundert herausgearbeitet werden, auch "jenseits von Calixt und Conring" (170). Jens Bruning benennt in einem dichten Überblick für die Philosophische Fakultät verschiedene Innovationsfelder - die historischen Wissenschaften, die Historia Literaria, das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Geschichte sowie die Lehrerausbildung. Ähnlich wie an anderen Universitäten trugen die überlieferten Reglements der Differenzierung der philosophischen Disziplinen kaum Rechnung, woraus Konflikte erwuchsen. Ungeachtet der Aufforderung Brunings, gerade die "zweite Reihe" der Helmstedter Gelehrten zu betrachten, stehen in den Beiträgen zu Theologie (Martin Mulsow) und Jurisprudenz (Michael Stolleis) vor allem die berühmten Autoritäten von Conring bis Mosheim im Mittelpunkt. Mulsow wie Stolleis betonen dabei die Bedeutung Hermann Conrings, der als Empiriker nicht nur eine neue "politische Religionsforschung" (Mulsow, 183), sondern als Begründer der akademischen Politik auch der Statistik die Tore der Universität öffnete, wie Sina Rauschenbach zeigt. Während diese Entwicklungen von "enormer wissenschaftshistorischer Bedeutung" (203) gewesen seien, spiegeln die juristische Spruchpraxis (Claudia Kauertz), die Anatomie (Karin Stukenbrock) und die Hebräischstudien (Asaph Ben-Tov) in Helmstedt - so die Autoren - eher allgemeine, von anderen Universitäten bekannte Tendenzen wieder. Zum Teil gilt dies auch für den sukzessiven Bedeutungsverlust Aristoteles' im 17. und 18. Jahrhundert, den Ulrike Zeuch schlüssig als Reduktions- und Selektionsprozess beschreibt, sowie für den Aufstieg der Historia Literaria (Frank Grunert). Das materielle Erbe einer aufgelösten Universität sind neben Bauten vor allem Büchersammlungen. Der Band schließt deshalb mit einer fünften Sektion, in dem anschaulich die Entwicklung der Helmstedter Universitätsbibliothek vor und nach der Schließung behandelt wird.

Der vorzüglich ausgestattete und illustrierte Band lenkt anschaulich den Blick auf eine der wichtigsten protestantischen Universitäten der Frühen Neuzeit und wird als allgemeinverständliche Einführung ganz ohne Zweifel gute Dienste leisten. Ungeachtet des sehr modernen Epithetons "Reformuniversität" benennen die Beiträge ausgewogen auch jene Bereiche und Disziplinen, in denen Helmstedt weniger das Singuläre als vielmehr das allgemein Anerkannte vertrat und die deshalb in einem solchen Überblick nicht fehlen dürfen.

Thomas Töpfer