Rezension über:

Susanne Schregel: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970-1985 (= Historische Politikforschung; Bd. 19), Frankfurt/M.: Campus 2011, 410 S., 25 Abb., ISBN 978-3-5933-9478-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Philipp Gassert
Augsburg
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Philipp Gassert: Rezension von: Susanne Schregel: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970-1985, Frankfurt/M.: Campus 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/20820.html


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Susanne Schregel: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür

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Die zeithistorische Forschung wendet sich seit einigen Jahren vermehrt dem Streit um den Frieden in den 1970er und 1980er Jahren zu. Die Historikerin Susanne Schregel legt mit ihrer Pionierstudie zum "Atomkrieg vor der Wohnungstür" (ihrer Darmstädter Dissertation) nicht nur eine der ersten historischen, sprich auf der Basis der Primärüberlieferung erarbeiteten Monographien zur "neuen" Friedensbewegung dieser Epoche vor. Zugleich verbindet sie mit ihrer bescheiden als eine Politikgeschichte untertitelten Arbeit den weiterführenden Anspruch, grundsätzliche Aussagen über den Wandel des Politischen im Untersuchungszeitraum zu treffen. Daher lässt sich diese erfreulich konzise Arbeit auch als eine gewichtige Analyse der Integration neuer Formen von Politik im Gefolge von "1968" und zur Transformation des Politikverständnisses und der politischen Kommunikation in den letzten beiden Jahrzehnten der alten BRD lesen. Schregels Arbeit überzeugt insofern nicht nur als empirische Mikrostudie zur politischen Geschichte und Kulturgeschichte der Friedensbewegung, sondern setzt auch vom theoretischen Zugriff her Maßstäbe.

Der analytische Zugang erfolgt über das, was die Autorin "die friedenspolitische Wendung in den Nahraum" nennt (11). Mit dieser sperrigen Vokabel rückt sie eine in den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre deutlich spürbare Aufwertung lokaler Kontexte, die damit einhergehende Hochschätzung überschaubarer lebensweltlicher Zusammenhänge sowie die positive Neuakzentuierung entsprechender Begriff wie "Heimat" ins Zentrum der Untersuchung. In theoretischer Hinsicht wird damit auch die Absicht verfolgt, einen raumzentrierten Ansatz (und damit den "spatial turn") historiographisch fruchtbar zu machen. Es gelingt Schregel durchweg, den in der Einleitung ausführlich behandelten theoretischen Rahmen auf ihren Gegenstand zu beziehen und die Darstellung von kulturwissenschaftlichem Jargon und theoretischem Ballast freizuhalten. Mit Ausnahme des 6. Kapitels (s.u.) werden theoretischer Rahmen und empirischer Gegenstand gut verzahnt.

Die in Anlehnung an soziologische Terminologien so genannte "Reskalisierung" des Politischen war in den alternativen Milieus der 1970er Jahre weit verbreitet: Sie war für Hausbesetzer, Anti-AKW-Demonstranten, aber auch für die neue Frauenbewegung typisch. Das Faszinierende dabei war, so die zentrale These der Untersuchung, dass diese lebensweltliche Orientierung in den "Nahraum" während der Kontroverse um den NATO-Doppelbeschluss auf einen Gegenstand der internationalen Politik übertragen wurde. Dies klingt überzeugend. Denn dass der weltpolitische Gegensatz des Kalten Krieges zwischen Ost und West aus lokalen Zusammenhängen heraus beeinflusst werden konnte, war neu. Allein die Vorstellung rief bei den Gegnern der Friedensbewegung Kopfschütteln hervor. Dabei stand hinter dieser "Nahraumorientierung" friedenspolitischer Anliegen ein gewandeltes Verständnis von Macht als sozialem Beziehungsgefüge, wie es zeitgenössisch ja von Foucault und anderen auch theoretisch ausformuliert worden ist. Mit dieser Lokalisierung und räumlichen Entgrenzung von Macht ging eine "Krise der Macht" im traditionellen Sinne einher. Diese wurde als zentralistisch von der neuen Friedensbewegung in den 1970er Jahren zunehmend an die Seite gedrängt, während es der alten Friedensbewegung primär um den Gewinn von Einfluss in zentralen Machtinstanzen gegangen war.

Die Nahraumorientierung der neuen Friedensbewegung wird anhand von fünf Fallstudien untersucht. Zunächst wird aber ein Überblick zur Politikgeschichte der Friedensbewegung vorgeschaltet, wobei der Fokus verständlicherweise auf deren Entwicklung aus der Anti-AKW-Bewegung heraus gerichtet wird (weshalb andere Wurzeln vernachlässigt werden). Als Brücke zwischen der Umweltapokalyptik der 1970er Jahre und der Krieg- und Friedensapokalyptik der 1980er Jahre habe eben jene Nahraumorientierung gedient, hätten doch sowohl Umweltgefahren als auch atomarer Krieg das Leben vor Ort bedroht (67). Die Fallstudien widmen sich im einzelnen "militarisierten Landschaften", wie sie in "Militarisierungsatlanten" visuell oft eindrucksvoll aufbereitet wurden (Kap. 3), lokalisierten Atomkriegsszenarios, für die u.a. Gudrun Pausewangs Roman "Die letzten Kinder von Schewenborn" (1983) steht (Kap. 4), der Re-Politisierung des Bunkerbaus - Bunkerprojekte wurden doch zeitweilig zum Fokus von Protestveranstaltungen (Kap. 5) - und dem gezielten Einsatz von Körpern durch Menschenketten, Blockaden usw. als einer Demonstration nicht-zentralisierter, individueller Machtkonzepte (Kap. 6). Dieses Kapitel liegt etwas quer zum Untersuchungsdesign, da diese Körperpolitik eher "performative" als raumzentrierte Aspekte der Friedensbewegung betroffen haben dürfte. Wie sehr dieser Körpereinsatz nun Teil der friedenspolitischen Nahraumwende war, wäre noch weiter zu diskutieren, denn Sit-ins verfügen über eine lange Vorgeschichte in der organisierten Arbeiterbewegung. Die abschließende Fallstudie beschäftigt sich mit atomwaffenfreien Zonen (Kap. 7), die Abrüstung zur lokalen Aufgabe machten - und damit gedanklich dem diplomatisch-militärischen Arkanbereich der Unterhändler der Supermächte in Genf entzog. Hervorzuheben ist, dass die Entwicklung in Deutschland durchgängig in ihre transnationalen Bezüge gestellt wird und Einflüsse vor allem aus den USA (Kartierungsprojekte) und Großbritannien (atomwaffenfreie Zonen) gut herausgearbeitet worden sind.

Die Autorin hat ihren Text redaktionell gut verdichtet. Das verstreute, aus zahlreichen, zum Teil entlegenen Bibliotheken und Archiven zusammen gesuchte Material (Flugblätter, Plakate, lokale Zeitschriften, Presseberichte, auch Korrespondenz von Mitgliedern der Friedensbewegung, zeitgenössische Publikationen) ist in einem Mosaik von lokalen Fallstudien umfassend ausgewertet worden. Auch wenn die Quellen ausführlich zur Sprache kommen, wirkt der Text nicht redundant. Vielmehr dürften die zahlreichen Zitate und Abbildungen künftigen Studien als Steinbruch dienen.

Gut sichtbar werden Querverbindungen zwischen der Politik und der Wahrnehmung soziokulturellen Wandels, auch wenn man sich noch die eine oder andere Außensicht auf die Friedensbewegung gewünscht hätte; vor allem der Frage, wie das neue Verständnis von Macht von Vertretern "etablierter" Machtzugänge perzipiert wurde, hätte man nachgehen können. Es klingt nachvollziehbar, dass sich aufgrund der Verschiebung einer zentralen Problematik des Kalten Krieges in den Raum der lokalen "Betroffenheit" vor Ort das veränderte, was als politisch sagbar verstanden wurde, was gewusst und was kommuniziert werden konnte. Dank der Nachrüstungskontroverse erhielt dieses neue, schon in den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre angelegte, demokratisierte Machtverständnis mehr Breitwirkung, als es mit anderen, stärker im alternativen Milieu verhafteten Problemstellungen möglich gewesen wäre. Der Band kann daher nicht allein Spezialisten zur Geschichte der 1980er Jahre empfohlen werden, sondern auch denjenigen, die sich mit dem Wandel der politischen Kultur und der repräsentativen Demokratie seit den 1970er Jahren beschäftigen.

Philipp Gassert