Rezension über:

Ian F. W. Beckett: The Making of the First World War, New Haven / London: Yale University Press 2012, XII + 263 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-16202-8, USD 28,50
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Rezension von:
Susanne Brandt
Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Brandt: Rezension von: Ian F. W. Beckett: The Making of the First World War, New Haven / London: Yale University Press 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/22827.html


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Ian F. W. Beckett: The Making of the First World War

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Der Leser wird getäuscht von Ian Beckett, der an der Universität Kent eine Professur für Militärgeschichte innehat. Denn anders als der Titel erwarten lässt, geht es nicht um die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges. Beckett zeichnet nach, wie der Große Krieg in den vergangenen 100 Jahren geführt, erinnert und gedeutet wurde. Das alles "macht" den Krieg, so der Verfasser. Folglich bindet er den Konflikt ein in die Geschichte des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Er verfolgt Entwicklungen, die in den weltumspannenden Krieg mündeten und zeigt, welche Folgen er auf militärischer, kultureller, politischer oder historischer Ebene zeitigte. Große Ereignisse, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind, stehen neben scheinbar Banalem: Die Balfour Deklaration im November 1917, so unterstreicht Beckett, habe das Streben der Juden nach einer Heimat in Palästina anerkannt. Das habe im Widerspruch zu Versprechungen gestanden, die den Arabern im Ottomanischen Reich gemacht worden waren (8). Der Konflikt - das wissen alle - lodert bis heute weiter. Vergleichsweise banal hingegen, aber tief in den Alltag eingedrungen, ist die 1916 eingeführte Sommerzeit. Die Allgemeine Wehrpflicht, in Großbritannien im selben Jahr eingeführt, nach dem Krieg abgeschafft und erneut zwischen 1939 und 1963 gültig, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der Erste Weltkrieg weit über die Jahre 1914 und 1918 hinausragt (8f.).

Nun könnte an diesem Punkt die Publikation die 10.000 Seiten Marke überschritten haben. Doch Beckett wagt es, in elf vergleichsweise kurzen Kapiteln (der Text ohne Fußnoten und weiterführende Literatur umfasst 240 Seiten) ebenso viele Ereignisse zu behandeln, die seiner Meinung nach weiterreichende Folgen hatten. Das muss nicht unmittelbar im Krieg selbst so gewertet worden sein - oder etwa in jedem Staat, zu jeder Zeit und von Laien oder Wissenschaftlern gleichermaßen. Beckett betont vielmehr, dass die Bewertung "Zäsur" je nach Perspektive und Zeitpunkt, von dem aus beurteilt wurde, ganz unterschiedlich ausfallen kann. Damit provoziert er Militärs, die möglicherweise einer Schlacht kriegsentscheidende Auswirkungen zuweisen wollen. Ebenso erteilt er engen nationalen Deutungen eine Absage. Sein Buch soll Debatten provozieren. Das muss durchaus nicht in großen Sälen stattfinden, sondern kann sich auch im Kopf eines Lesers abspielen. Beckett untergräbt sanft lieb gewonnene und vertraute Interpretationen. Das geschieht mit großer Detailkenntnis, klaren Thesen und auf der Basis einer umfangreichen Forschungsliteratur, die Beckett für den Leser auf ein Maß kondensiert, das den Leser nicht angesichts der schieren Masse verzagen lässt. Die Endnoten und die Vorschläge für die weiterführende Lektüre spiegeln wider, dass Beckett sich seit Jahren in Forschung und Lehre mit dem Thema auseinandersetzt. Er bezieht sich auf die Literatur der vergangenen Jahrzehnte, nicht nur aktuelle Publikationen finden Eingang in seine Literaturempfehlungen. Es wirkt wohltuend, dass auch 40 Jahre alte Forschungsergebnisse noch wertgeschätzt und als verlässliche Lektüre empfohlen werden können. Beckett bezieht sich auch - je nach Thema natürlich in unterschiedlichem Umfang - auf französisch- und deutschsprachige Literatur. Der Großteil der Publikationen ist jedoch englischsprachig. Seine Herkunft kann der Verfasser auch in Bezug auf seine erzählerischen Fähigkeiten nicht leugnen. Während bei der Lektüre zahlreicher deutscher Publikationen oft der Eindruck entsteht, das Lesen müsse mühsam sein und dürfe auf keinen Fall Vergnügen bereiten, erzählt Beckett anschaulich, unterhaltsam und präzise. Die Darstellung hat gegenüber der Analyse den Vorrang, doch es fehlt nicht an klaren Thesen und Urteilen.

Nicht native speaker (und Leser) müssen keine Angst vor Becketts "Making of the First World War" haben. Die einzelnen Kapitel vermitteln dem deutschen Leser, wie vielfältig die Themen und Deutungen des Weltkrieges jenseits der Grenzen sind. Noch aus einem weiteren Grund eignet sich die Darstellung auch für die Lektüre im Schulunterricht oder Einführungsseminaren: Konsequent setzt Beckett seinen Ansatz um, die Geschichte des Ersten Weltkrieges offen und eingebunden in zwei Jahrhunderte und internationale Diskurse zu behandeln. Die Kapitel können einzeln und eigentlich in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Verbindend ist der Ansatz, kurz-, mittel- und langfristig nach den Folgen und Konsequenzen der Ereignisse zu suchen. Welches Datum wurde wann und warum als Zäsur, Wende- oder Höhepunkt wahrgenommen? Beckett bietet dem Leser die Möglichkeit, selbst Antworten zu finden. Zwar bewertet er auch Deutungen, die seiner Ansicht nach wenig plausibel sind (5), doch überlässt er es weitgehend den Lesern, zu eigenen Schlüssen zu gelangen.

Bei der Auswahl der elf Ereignisse deckt er alle vier Kriegsjahre ab. Er verknüpft Bekanntes mit Neuem, auch innerhalb der jeweiligen Kapitel: Für das erste Kriegsjahr schildert Beckett die Überflutung der Gebiete um die Yser sowie den Kriegseintritt der Türkei. Für das Jahr 1915 steht die Ernennung Lloyd Georges zum Munitionsminister. Die Premiere des ersten Dokumentarfilms "The Battle of the Somme", der Tod Kaiser Franz Josephs vertreten 1916. Der Beginn des Uneingeschränkten U-Boot-Kriegs durch die Deutschen im Jahr 1917, die Abdankung des Zaren, die Bombardierung Londons sowie die Balfour Deklaration sind weitere Ereignisse. Das Jahr 1918 wird von Wilsons Rede, in der er sein 14 Punkte-Programm vorstellte und vom Beginn der 4. Flandernschlacht repräsentiert.

Am Beispiel des Kapitels zum Somme-Filme soll Becketts Vorgehensweise knapp gezeigt werden.

Der Film "The Battle of the Somme" gilt heute als erster Kriegsdokumentarfilm (88). Auch wenn die Kampfszenen nachgestellt wurden, weil es aufgrund der damaligen Filmtechnik nicht möglich war, mit den schweren Kameras, die auf Stativen standen, außerhalb der Schützengräben Aufnahmen zu machen, ohne den Kameramann sofort in Todesgefahr zu bringen. Kaum ein Film aus dem Ersten Weltkrieg ist so gut erforscht wie "Battle of the Somme". Insofern hat Beckett Recht, ihn stellvertretend für die Macht der Bilder und die Rolle der Propaganda im Ersten Weltkrieg zu behandeln. Die Tatsache, dass die Deutschen auf den auch finanziell erfolgreichen Film reagierten, indem sie "Bei unseren Helden an der Somme" drehten (103) verdeutlicht, wie sich die Kontrahenten im Krieg im Wettstreit um die internationale öffentliche Meinung aufeinander bezogen. Für den britischen Film liegen detaillierte Untersuchungen der einzelnen Sequenzen vor. Vor allem die Szenen, in denen die britischen Soldaten aus den Schützengräben stürmen - und einige fallen - wurden als nachgestellt enthüllt. Beckett argumentiert, dass es der Wirkung des Filmes bis heute keinen Abbruch getan habe. Das zeitgenössische Publikum hielt die Bilder für "echt" (100) und in zahllosen Dokumentationen wurden bis heute diese Szenen als authentisches Material verwendet, so dass die Einstellungen verwundeter Tommies, erschöpfter Soldaten und den deutschen Kriegsgefangenen Zigaretten reichender Briten fest im Bildergedächtnis verankert seien. Hier zeigt sich, wie "Making-of" des Ersten Weltkrieges gemeint ist.

In der Fülle von aktuellen Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg kann sich Beckett behaupten. Ihm gelingt - ohne großes Trommeln in eigener Sache - eine fundierte Darstellung des Ersten Weltkrieges. Sein Ansatz wird der Bedeutung des Konflikts für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gerecht. Und sie fördert Neues zutage - vor allem, wenn die Leser Becketts Empfehlung folgen und sich zum Nachdenken anregen lassen.

Susanne Brandt