Rezension über:

Marc Fehlmann / Birgit Verwiebe (Hgg.): Anton Graff. Gesichter einer Epoche, München: Hirmer 2013, 336 S., 219 Farbabb., ISBN 978-3-7774-2050-9 , EUR 39,90
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Rezension von:
Andrei Pop
Kunsthistorisches Seminar, Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Andrei Pop: Rezension von: Marc Fehlmann / Birgit Verwiebe (Hgg.): Anton Graff. Gesichter einer Epoche, München: Hirmer 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/24667.html


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Marc Fehlmann / Birgit Verwiebe (Hgg.): Anton Graff

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"Kurze, Lange, dike u. dünne Patricier, Senatoren, Pastores, Weiber und Töchteren, alles! wolte sich mahlen lassen." So beschreibt der Reisebuchautor Hans Heinrich Heidegger 1768 die Anziehungskraft des in Winterthur geborenen und nach Dresden ausgewanderten Porträtmalers Anton Graff (1736-1813). Falls Graff keine eigene Lebensskizze schicke, drohte Heidegger, würde er seine drucken. [1] Seine Unauffälligkeit tat Graffs Ruf als Porträtist der deutschen Aufklärung keinen Schaden.

Nun kommt die Kunstgeschichte. Die Ausstellung in der Nationalgalerie und in Winterthur ist seit derjenigen im Jahr 1963 in der Ostberliner Nationalgalerie Graffs erste. Die Kuratoren sprechen von der Begeisterung, mit der Leihgeber zur Ausstellung beigetragen haben. Im substanziellen Katalog wird auch nahegelegt, wie das Porträt, mit seiner individuell-sozialen Funktion und repräsentativ-klärenden Ästhetik, die Schlüsselkunst der Epoche war, was Graff zu einem ihrer führenden Künstler macht.

Hinsichtlich des Katalogs müssen Schönheit der Gestaltung sowie der Umfang gelobt werden. Jedes der 97 Ölporträts verdient eine einseitige Besprechung, knapp genug um Leserermüdung zu vermeiden, zumal auch spannend argumentiert. Ich komme zu diesen Einträgen zurück. Die Porträts werden sozial gruppiert (Selbstbildnisse; Familie und Freunde; Aristokratie und Bürgertum; Künstler; Dichter und Denker; schließlich ca. 40 Zeichnungen, nicht einzeln kommentiert). Jede Gruppierung erhält einen Aufsatz oder zwei, wie auch in den neueren Katalogen zu Nicolai Abildgaard oder John Martin, unmittelbar vor den jeweiligen Katalogeinträgen. Da Graff nach Einschätzung der Kuratorin und Herausgeberin Birgit Verwiebe (21) mehr als 80 Selbstporträts gemalt, gezeichnet, oder gestochen hat, ist sinnvolle Extrapolierung das Ziel, die von Aneignungen Graffs durch Andy Warhol (23, das eindringliche Bild Friedrich des Großen) bis zu Einblicken in die porträtreichen "Freundschaftstempel" dieser Zeit reicht (Rudolf Hiller von Gaertingens Einführung zu den 'Dichtern', 212f.).

Dabei kommen die Grundlagen nicht zu kurz: Harry Joelson-Strohbachs Untersuchung der Winterthurer Kulturszene, und Helmut Börsch-Supans Überblick der deutschen Porträtmalerei liefern eine balancierte Kulisse zwischen Lokalität und Internationalität. Wie weit sich solche einführenden Artikel erstrecken müssen, bleibt freilich kontrovers: man hätte z.B. gern mehr über Graffs im Ausland aktive Landgenossen gehört. Die von Johann Caspar Lavater vermutete Konkurrenz des deutschen Klassizisten Wilhelm Tischbein wird von dem in London lebenden Zürcher Heinrich Füssli humoristisch bestätigt: "Herr Jemerli, also ist Tischbeinius bei euch! Hast du ihn bestellet, dem armen Pfenninger das Brot vor dem Maul wegzumalen?" [2] Dass Schweizer Karriere im Ausland machten, lag also nicht nur am Abenteuergeist sondern auch an dem Druck der internationalen Kunstwelt. Graffs diverse Leistungen, vor allem seine Zusammenarbeit mit seinem gleichfalls nach Dresden übersiedelten Winterthurer Freund Adrian Zingg (dem das Kunsthaus Zürich vor kurzem eine Retrospektive gewidmet hat) an dem Mythos einer 'Sächsischen Schweiz' werden kaum erörtert. Graffs Landschaften werden nur in Marc Fehlmanns Aufsatz über die Zeichnungen, der auch viele Neuentdeckungen zu seiner Technik enthält, berücksichtigt.

Das Buch betrachtet Graff also als Porträtspezialist. Da fordern neben Verwiebes feiner Einführung zwei Aufsätze Aufmerksamkeit: Werner Busch platziert Graff in die große "europäische Porträttradition" und Ernst Osterkamp in den intellektuellen Kontext der "Anthropologie der deutschen Spätaufklärung". Busch schildert mit der ihm eigenen Sicherheit die Vertrautheit Graffs mit den Selbsterfindungspointen der Porträtmaler von Anthony van Dyck bis Joshua Reynolds - und betont den Unterschied zwischen Graffs seifenblasenden Kindern und Chardins, die noch die Vergänglichkeit verkörperten (175). Nach David Hartleys "entwicklungspsychologischen" Observations on Man (1749) sei das Kind endgültig kein kleiner Erwachsener mehr, genieße also bei Graff eine Darstellung sui generis. [3]

Wer im zweitgenannten Beitrag eine Annäherung Graffs an die Anthropologie seiner bemerkenswertesten Subjekte erwartet - etwa Lessing oder Herder, oder gar Kant, dessen Porträt von einer vermeintlichen Graff-Schülerin gemalt wurde [4] - wird enttäuscht. In Osterkamps Aufsatz geht es um die Nähe Graffs zur 'Erfahrungsseelenkunde' von Ernst Platner und Karl Philipp Moritz, empirischere Antworten auf Johan Caspar Lavaters Physiognomie, vermittelt durch die Kunsttheorie Johann Georg Sulzers, Graffs Lieblingssujet außer seiner eigenen Person.

Diese Beschränkung auf Graffs philosophische Gegenwart ist sinnvoll, lässt aber die Verbindung zwischen Porträt und Theorie unbestimmt. Osterkamps Vorschlag, Graff hätte Lavater deshalb nicht gemalt, weil ihm der "physiognomische Reduktionismus des Profilporträts" nicht gefiel (206), scheint die zwei Männer künstlich gegeneinander zu setzen: Lavaters Fragmente enthalten doch eine Mannigfaltigkeit an Strategien, unter welchen die Betrachtung des Details, des Körpers, oder der Erzählung nicht fehlen. Dass ein erfolgreicher Porträtist wie Graff Kunden aus philosophischen Prinzipien vermied, ist jedenfalls schwer annehmbar. Und warum malt Graff die klaren Polemiker Lessing und Mendelsohn, abweichend etwa vom scharf beobachteten Sulzer oder Karl dem Großen oder von Graff selbst, in diesem nebligen soft focus, den Kopf von einer leuchtenden Aura gekrönt?

Überzeugender und vorurteilsfreier malt Graff manche Frauen, von der fulminanten Kopfskizze Dorothea Schlegels (247) bis zum wehmütigen Gartenporträt Friederike von Helldorffs (165), die mit sechzehn Jahren den sächsischen Großbauern Ferdinand Heinrich von Helldorff heiratete.

In forschenden Einträgen zu dem Paar verweist Sabine Weisheit-Possél auf Parallelen zwischen Friederikes Porträt und den Werken des Davidschülers François Gérard, und zwischen Ferdinands und des Kapitalisten Sir Richard Arkwright durch Joseph Wright of Derby (1789, Derby Museum and Art Gallery). "Die Übereinstimmungen gehen hier weit: In beiden Fällen sind die Dargestellten höchst korpulent, dabei von stolzem Selbstbewusstsein, sie stützen den Arm auf dem Oberschenkel ab, beiden ist ein Zeugnis ihrer fortschrittlichen gesellschaftlichen Tätigkeit beigegeben - hier ein Buch über die moderne englische Landwirtschaft [5], dort Arkwrights Erfindung zur Effektivierung der Baumwollspinnerei - und in beiden Darstellungen findet sich oben links der nobilitierende Vorhang als klassisches Requisit." (167) Doch die Bilder divergieren auch. Arkwrights Erfindung greift aktiv in die Arbeitsverhältnisse ein, und der Urheber braucht, wie Weisheit-Possél bemerkt, keine 'nobilitierende' Landschaft hinter sich wie Helldorff - spätestens mit Ingres' Monsieur Bertin (1832) wird der triumphierende Bourgeois nichts außer sich brauchen, zumindest um sich abzubilden.

Und Unterschiede sind nicht immer in Einzelbildern sichtbar. Britische Maler wie Wright oder Reynolds haben sich in deren Kundschaft wie Maltechnik stark spezialisiert, während Graff viele von ihnen nachzumalen vermochte, um deutschen Fürsten, Dichtern, und Landherren zu dienen. Dies weist auf Unterschiede zwischen der ersten Industriemacht und dem eher geistig als wirtschaftlich vernetzten Deutschland dieser Zeit hin.

Das Buch wird, dieser theoretischen Bedenken ungeachtet, durch seine Funde, Bilder, und Vergleiche die Forschung der deutschen Kunst der Aufklärung und Romantik nähren.


Anmerkungen:

[1] Zentralbibliothek Zürich, Brief an Graaf, Zürich, 3 Xbr. 1768. Die Lebensbeschreibung wird in Anton Graff, 315ff. wiedergegeben.

[2] Brief an Lavater, London, 27. August 1781, Kunsthaus Zürich, gedruckt in Heinrich Füssli. Briefe, hg. v. Walter Muschg, Basel 1943, 197f.

[3] Dass Kinder keine Erwachsene sind, wussten schon Moralisten des 16. Jahrhunderts, und Maler wie Pieter Bruegel d.Ä.: siehe Edward Snow: Inside Bruegel. The Play of Images in Children's Games, New York 1997.

[4] Georg Diestel: Das Dresdener Kantbild - ein Werk der Elisabeth v. Stägemann?, in: Kant-Studien 6 (1. Januar 1901), 113f.; Karl-Heinz Clasen: Kant-Bildnisse, Königsberg 1923, 18.

[5] Daniel Thaers: Einleitung zur Kenntniß der englischen Landwirthschaft, 3 Bd., 1798-1804; Weisheit-Possél dankt Birgit Verwiebe für die Entzifferung dieses Bilddetails.

Andrei Pop