Rezension über:

Julien Bryan: Die Farben des Krieges. Die Belagerung Warschaus in den Farbfotografien von Julien Bryan, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2011, 160 S., ISBN 978-3-422-07098-1, EUR 9,99
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Rezension von:
Miriam Y. Arani
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Miriam Y. Arani: Rezension von: Julien Bryan: Die Farben des Krieges. Die Belagerung Warschaus in den Farbfotografien von Julien Bryan, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2011, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/09/25674.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Julien Bryan: Die Farben des Krieges

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In der Nachkriegszeit präsentierten Bildbände der deutschen Öffentlichkeit zerstörte Städte wie Köln oder Dresden als Kriegsschäden. Demgegenüber zeigt die hier besprochene Buchveröffentlichung erstmals die Folgen der deutschen Angriffe auf die polnische Hauptstadt Warschau im Herbst 1939. Im Deutschen Reich verhinderte das nationalsozialistische Propagandaministerium die Veröffentlichung solcher Bilder, um die Brutalität des eigenen Angriffs auf das Nachbarland zu vertuschen. Die neue Publikation zeigt die von der deutschen Wehrmacht belagerte Stadt aus der Perspektive des US-amerikanischen Fotografen und Dokumentarfilmers Julien Bryan (1899-1974). Er war kein Kriegsberichter der Signal Corps, das heißt der Nachrichtentruppen des US-amerikanischen Militärs, sondern ein freiberuflicher Reisejournalist, der dem amerikanischen Publikum mit Fotografien und Filmen fremde Länder näherbrachte.

Deutschland und Polen hatte Bryan 1936 schon einmal bereist; aus seinen Aufnahmen ging anschließend der in den USA gezeigte Dokumentarfilm Inside Nazi Germany hervor. 1939 war er wieder in Europa und fuhr sofort nach Bekanntwerden des deutschen Überfalls auf Polen mit dem Zug über Rumänien nach Warschau. Bryan erreichte die polnische Hauptstadt, kurz bevor sie von den deutschen Truppen eingeschlossen wurde. Dort angekommen bat er den noch amtierenden Bürgermeister Stefan Starzyński um die Genehmigung von Aufnahmen in der belagerten Stadt. Starzyński sah darin eine Chance, die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit zu gewinnen, und stellte Bryan ein Auto mit Fahrer, einen Übersetzer und einen Personenschützer zur Verfügung. Der Gruppe schlossen sich noch zwei Amerikaner polnischer Herkunft an, die Bryan assistierten und mit seiner Ausrüstung fotografierten, wenn er filmte. Bryan hatte eine Filmkamera und drei Fotoapparate - zwei Leicas und eine Speed Graphic - mitgebracht. Zum Fotografieren benutzte er überwiegend die Leicas.

Seine nun veröffentlichten Aufnahmen bezeugen, wie sehr Warschau als erste europäische Großstadt durch Bombardements der deutschen Luftwaffe 1939 zerstört wurde. Sie belegen, dass sich die Angriffe der Luftstreitkräfte - entgegen der Behauptung Adolf Hitlers, es würden nur militärische Ziele angegriffen - in hohem Maß gegen die Zivilbevölkerung richteten. Bryan fotografierte von der deutschen Wehrmacht bombardierte Krankenhäuser, Wohn- und Geschäftsgebäude, flüchtende Zivilisten und Menschen, deren Existenzgrundlagen zerstört worden waren: obdachlos gemachte Kinder und Alte, die nur noch eine Habseligkeit hatten retten können, stundenlang auf Brot wartende Menschen oder auch Frauen, die in zerbombten Wohngebäuden ihren "Hausarbeiten" nachgehen.

Im Unterschied zu den "arisierten" (nach "rassischen" Kriterien selektierten) und vom Goebbels-Ministerium thematisch instruierten deutschen Fotografen der Propagandakompanien der Wehrmacht näherte sich Bryan den polnischen Zivilisten respektvoll und empathisch. Seine Aufnahmen sind frei von jeglicher verächtlichen Attitüde gegenüber den "Anderen". Es scheint, als habe er alle Fotografierten zunächst in ein freundliches Gespräch verwickelt: polnische Zivilisten ebenso wie eine Gruppe deutscher Soldaten, die vom polnischen Militär im Pawiak-Gefängnis festgesetzt worden war (122-125).

Noch 1939 publizierten mehrere Illustrierte in den USA, England und Frankreich je einen Bildbericht Bryans aus Warschau. Größte Bekanntheit erreichten seine Aufnahmen eines Mädchens, dessen Schwester beim Suchen nach Kartoffeln auf einem Feld in Warschau von der deutschen Luftwaffe erschossen wurde (103-107). Die polnische Exilregierung nutzte dieses Motiv auf den Titelseiten mehrerer Publikationen zur Versinnbildlichung einer ehrlosen deutschen Kriegsführung.

Der nun zweisprachig - in Deutsch und Englisch - veröffentlichte Bildband enthält 132 farbige Bilder Bryans, die von der Herausgeberin Aleksandra Janiszewska mit passenden Zitaten aus seinem 1940 erschienenen Buch "Siege" [1] verbunden wurden. In einer Einleitung informiert Jacek Zygmunt Sawicki über den Fotografen und den Entstehungskontext seiner Aufnahmen. Dieser Text beruht auf Rechercheergebnissen, die vom Institut für Nationales Gedenken (IPN) bereits in polnischer Sprache publiziert worden sind. [2] Die ausschließlich mit schwarzweißen Bildern ausgestattete polnische Veröffentlichung enthält unter anderem den vollständigen Text von Bryans Buch "Siege" und Berichte seiner polnischen Begleiter. Beide Buchveröffentlichungen kamen infolge der veränderten Besitzverhältnisse zustande, denen der Bildbestand nun unterliegt. 2003 übergab Julien Bryans Sohn Sam den Nachlass seines Vaters dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Die nun dort verwahrte Julien Bryan Collection umfasst 141 Filmrollen, 86 Rollen belichteter Kleinbildfilme, 164 handkolorierte Dias, 100 Hefte mit Kontaktabzügen und Vergrößerungen sowie mehrere Schachteln mit persönlichen Dokumenten Bryans. Alle seine Aufnahmen aus Warschau 1939 vertraute das amerikanische Museum dem IPN zur weiteren Bearbeitung an.

Die Veröffentlichung der farbigen Bilder aus dem belagerten Warschau verbinden Janiszewska und Sawicki mit einem ambitionierten erinnerungspolitischen Ziel: Die Aufnahmen Bryans sollen der damaligen deutschen Pressefotografie nicht nur entgegengesetzt werden, sondern an ihre Stelle treten, um den zivilen polnischen Opfern mehr Geltung zu verschaffen. Die Farbigkeit soll den Bildern die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit sichern. Sie als "Farbfotografien" zu bezeichnen, ist allerdings missverständlich, da es sich mehrheitlich um Schwarzweißfotos im Kleinbildformat handelt, die Bryan anschließend auf Glasplatten vergrößern und dann per Hand kolorieren ließ. Inmitten der sich überstürzenden Ereignisse verließ sich Bryan auf Schwarzweißfilme; ihre höhere Lichtempfindlichkeit erlaubte ihm kürzere Belichtungszeiten. Seine wenigen Farbdia-Aufnahmen sind daher in dem neuen Buch jeweils mit dem Hinweis "Kodakchrome" versehen.

Anhand einer Aufnahme von zwei orthodoxen Juden in Warschau (52) lässt sich exemplarisch verdeutlichen, wie wichtig die Urheberschaftszuweisung und Datierung einer Fotografie aus dem Kriegsgeschehen sein kann. Das Bild ist Teil einer Aufnahmeserie, die Bryan am 9. September im Stadtteil Praga anfertigte. Sie zeigt, dass die beiden Männer sich wie andere Polen am Ausheben von Panzerabwehrgräben beteiligen. Janina Struk hat nachgewiesen, wie willkürlich die Bildredaktionen mit der Beschriftung dieser Fotografie umgingen: Sie wurde der Öffentlichkeit noch zu Kriegszeiten von der polnischen Exilregierung und von der nationalsozialistischen Presse als Darstellung jüdischer Zwangsarbeiter unter deutscher Besatzungsherrschaft präsentiert. Viele Aufnahmen Bryans aus dem belagerten Warschau konnten die polnischen Forscher vor Ort genau lokalisieren. Nur ein Bruchteil seiner Fotografien konnte auf den Tag genau datiert werden, doch die Eckdaten von Bryans Aufenthalt in Warschau sind gesichert: Er begann am 8. September mit Aufnahmen eines kurz zuvor bombardierten Krankenhauses im Stadtteil Praga und verließ die Stadt am 21. September während einer kurzen Waffenruhe.

Bei der Nutzung von Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg in Bildung und Wissenschaft sollte wegen deren oft unzuverlässiger späterer Beschriftung nach der allerersten Version der Aufnahme und deren Originalbeschriftung gesucht sowie Informationen zu ihrem Entstehungskontext gesammelt werden. So gesehen bietet der hier besprochene Band eine hervorragende Einführung in einen Bildbestand, der schon in der Volksrepublik Polen genutzt wurde, um Warschau unter deutscher Besatzung zu veranschaulichen. Das großzügige Layout mit übersichtlich gegliederten Texten bringt die einzelnen Fotografien detailliert zur Ansicht und lädt zum Lesen der die Bilder umrahmenden Texte ein.


Anmerkungen:

[1] Julien H. Bryan: Siege, New York 1940.

[2] Jacek Zygmunt Sawicki / Tomasz Stempowski (eds.): Oblężenie Warszawy w fotografii Juliena Bryana/The Siege of Warsaw in the Photographs of Julien Bryan, Warszawa 2010.

[3] Janina Struk: Photographing the Holocaust. Interpretations of the Evidence, London 2004, S. 38.

Miriam Y. Arani