Rezension über:

Wolf D. Gruner: Der Wiener Kongress 1814/15 (= Reclam Sachbuch), Stuttgart: Reclam 2014, 261 S., ISBN 978-3-15-019252-8, EUR 8,00
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Wolf D. Gruner: Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart: Reclam 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/01/26033.html


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Wolf D. Gruner: Der Wiener Kongress 1814/15

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Von den Anfängen an war der Wiener Kongress lange bei einem liberal, national oder demokratisch gesinnten Publikum schlecht beleumundet: Ein Kongress, der vor allem tanze und die liberalen und nationalen Bewegungen in Europa überall unterdrücke, mit Metternich, dem Erzreaktionär, an der Spitze. Nur wenige sahen das anders und differenzierter. Gruner will das ändern. Er gibt Impulse für eine nicht grundsätzlich neue Bewertung, die jedoch von vielen gängigen Urteilen in Vergangenheit und Gegenwart abweicht. Darin ist vielleicht der größte Wert des Buches zu sehen, das wohl nicht zufällig punktgenau zum 200sten Jubiläum des Wiener Kongresses 1814/15 erscheint.

Das "Reclam Sachbuch" ist um das ca. 120 Seiten starke 5. Kapitel herum aufgebaut mit der Überschrift: "Der Wiener Kongress und die Neuordnung der europäischen Staatengesellschaft". Dieses Kapitel ist forschungsnah und stellt die unterschiedlichen Konzepte, die variantenreichen Diskussionen und schließlich die Lösungen dar, die der Wiener Kongress für die europäische Staatenordnung nach Napoleon gefunden hat. Die von Gruner mehrfach betonte große Leistung des Wiener Kongresses bestehe darin, eine Staatenordnung geschaffen zu haben, welche gerade durch die Konstruktion des Deutschen Bundes in einem friedensbewahrenden Gleichgewicht gehalten wurde. Der Verfasser referiert eingängig nicht nur die Verhandlungspositionen der Großmächte, die sich während des Kongresses andauernd veränderten, sondern auch entsprechend ihrer merklich minderen Bedeutung die Wünsche der mittleren und kleineren Mächte (darunter auch Bayerns). Der Fokus der Betrachtung liegt damit nicht nur auf den großen Mächten.

Vier einleitende Kapitel gehen voran. Sie geben einen teilweise sehr allgemeinen breiten Überblick über die Voraussetzungen und die zeitlichen und politischen Rahmenbedingungen und nehmen dabei jedoch gelegentlich Gedankengänge vorweg, die dann in den anderen Kapiteln wiederholt werden. Ein wissenschaftlicher Forschungsbericht ist nicht unter den einleitenden Kapiteln. Am Schluss findet sich jedoch ein informativer Überblick über die immer schon kontroversen Würdigungen der Leistungen des Wiener Kongresses im Laufe von zwei Jahrhunderten. Dieses Kapitel ist ausdrücklich (215) nicht auf Vollständigkeit angelegt und ersetzt damit nur zum Teil einen Forschungsbericht. In ihm werden allerdings die wichtigsten Würdigungen vorgestellt, die der Wiener Kongress erfahren hat: Von den Anfängen des 19. Jahrhunderts - da sind Arnold Hermann Ludwig Heeren (1816) und Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1826) zu nennen - bis hin zu den neueren Untersuchungen von Adam Zamoyski (2007) und David King (2008). Diese vier Autoren beurteilen den Wiener Kongress wie Gruner nicht rundweg negativ. Trotz des großen zeitlichen Abstandes untereinander rücken sie alle die friedensbewahrende Funktion des Wiener Kongresses in den Mittelpunkt. Bis zum Ersten Weltkrieg gilt eben, dass es keinen Krieg gab, an dem alle europäischen Großmächte beteiligt waren.

Jedoch überwiegen in der langen Geschichte der Beurteilungen des Wiener Kongresses eher die negativen Einschätzungen. Das trifft insbesondere für all jene Autoren zu, die nationalstaatlichen Ordnungsvorstellungen anhängen. Sie stellen nur fest, dass auf dem Wiener Kongress sich die Restauration innerstaatlich und außenpolitisch durchgesetzt hat. Selbst dies treffe nicht vollständig zu, so die Position des Verfassers. Überdies habe der Wiener Kongress auch seine Verdienste: Die Großmächte hätten - was gar nicht selbstverständlich war (Polnisch-sächsische Krise!) - schließlich erfolgreich ihre Interessen ausgeglichen und eine europäische Staatenordnung etabliert, die von allen Staaten, den großen wie den kleinen, anerkannt wurde. Des Weiteren habe der Wiener Kongress mit Auswirkungen bis heute Völkerrecht und Diplomatie erheblich weiter entwickelt.

Ein Sachbuch ist keine Monographie. Man kann von einem Sachbuch naturgemäß keine neuen Forschungsergebnisse erwarten. Es ist eben "nur" Sachbuch, das sich definitionsgemäß an ein Laienpublikum richten will. Es ist daher auch - erfreulich oder weniger erfreulich - ausgesprochen anmerkungsarm: Nur sechs Reclamseiten, obendrein gekoppelt mit einem Verzeichnis ausgewählter Quellen und Sekundärliteratur. Aber auch für das Buch als ein "Sachbuch" gibt es Probleme. Untypisch: Veranschaulichende oder erzählende Elemente fehlen vollständig. Und die diplomatiegeschichtlichen Verhandlungen auf dem Wiener Kongress werden mit ihren Wendungen und Windungen in einer Differenziertheit ausgebreitet, die einem größeren Publikum leicht zu viel werden könnte. Das kann man je nach wissenschaftlicher Erwartungshaltung wieder erfreulich oder weniger erfreulich finden.

Für den Erfolg des Buches als Sachbuch wäre ein "Weniger" und für den Erfolg des Buches als ein wissenschaftliches Werk ein "Mehr" sicherlich besser gewesen. Der Wiener Kongress war Auftakt für das ganze lange 19. Jahrhundert und nicht bloß für das Restaurationszeitalter und den Vormärz. Und doch beschäftigt sich nicht nur das breite Publikum, sondern auch so mancher Neuzeithistoriker vergleichsweise wenig mit ihm. Gruners Buch ist ideal geeignet, einem historisch vorgebildeten Leser den Zugang zu den Problemlagen des Wiener Kongresses zu erleichtern. Er kann sich jetzt ausgezeichnet informieren in einem Sachbuch, das mehr als nur ein "Sachbuch" ist.

Manfred Hanisch