Rezension über:

Susanne Meinl / Bodo Hechelhammer: Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND, Berlin: Ch. Links Verlag 2014, 288 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-792-2, EUR 34,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Andreas Hilger
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Hilger: Rezension von: Susanne Meinl / Bodo Hechelhammer: Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND, Berlin: Ch. Links Verlag 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/26124.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Susanne Meinl / Bodo Hechelhammer: Geheimobjekt Pullach

Textgröße: A A A

Seit einiger Zeit steht der Bundesnachrichtendienst nicht nur in der Hauptstadtpresse regelmäßig in den Schlagzeilen. Die Berichterstattung greift Aspekte auf, die zum Teil vor allem Skandalpotential besitzen, zum Teil jedoch Kernfragen nach Stellenwert und Ort des BND in der bundesdeutschen Demokratie betreffen. Derlei strukturelle Macht- und personelle Loyalitätsfragen sowie versteckte, hoch brisante innen- und außenpolitische Dimensionen einzelner Maßnahmen waren von Anfang an der Tätigkeit des Auslandsnachrichtendienstes und seiner Vorläuferorganisation, der Organisation Gehlen, inhärent. Eine historische Aufarbeitung der Geschichte des Dienstes muss neben den operativen Aktivitäten und dem konkreten Beitrag der Spionage zur angemessenen politischen und militärischen Lageeinschätzung diese Problematiken einschließen.

Für die Jahre 1945 bis 1968 erforscht derzeit eine Unabhängige Historikerkommission diesen Gesamtkomplex. [1] Daneben arbeitet eine BND-eigene Einrichtung, die Forschungs- und Arbeitsgruppe "Geschichte des BND", zur Gesamtgeschichte ihres Hauses (10). [2] Ihr Leiter, der seit 2011 mehrere Dokumentationen über den BND herausgegeben hat, widmet in Zusammenarbeit mit der einschlägig ausgewiesenen Historikern Susanne Meinl nun dem Geschichtsort Pullach ein reich illustriertes, über 270 Seiten starkes Buch. Die Monografie versteht sich als Beitrag zu der Diskussion über den Umgang mit dem Gelände, wenn der Großteil des BND tatsächlich nach Berlin umgezogen sein wird. (10). Es ist ihr erklärtes Ziel, diese Diskussion zu versachlichen und für eine Lösung zu werben, die der hohen Bedeutung des Orts für die Geschichte des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik gerecht wird. Dieses Vorhaben ist den Autoren gelungen, auch wenn sie im Bemühen, die Geschichte lebendig werden zu lassen, doch einige Plattitüden oder Nebensächlichkeiten präsentieren (49, 91, 140, 150f., 181f.). Inwieweit die zahlreichen Detailinformationen aus der Frühgeschichte des BND allesamt zutreffen bzw. vollständig sind, kann bei der gegebenen Forschungssituation im BND-Archiv nicht Gegenstand dieser Rezension sein. Hier demonstriert die Publikation indirekt, in welchem Maß der BND bereit ist, über seine Vergangenheit zu berichten. Dabei zeigt bereits ein punktueller Abgleich der vorgelegten Angaben mit US-amerikanischen Gegenüberlieferungen, dass derlei Fakten eben nicht für sich sprechen. So konnten etwa Entwicklung und Leistungsfähigkeit des Dienstes bereits in den 1940er und frühen 1950er Jahren von verschiedenen Seiten äußerst unterschiedlich interpretiert werden (142f., 157f., 193f.). [3]

Der BND bezog die Anlage im Dezember 1947. Davor hatte sich dort, nach einem sechswöchigen Intermezzo als Kriegsgefangenenlager 1945, die britisch-amerikanische Civilian Censorship Division niedergelassen. Für die nachrichtendienstliche Standortentscheidung war es wesentlich, dass es sich bei der Liegenschaft um eine "geschlossene und abgeschirmte Anlage" handelte, die, versehen mit kompletter Infrastruktur für Arbeit und Privatleben, als idealer Unterschlupf für eine Geheimorganisation erschien (150). Vor Kriegsende hatten bereits andere Deutsche diese durchaus exquisite Abgeschiedenheit vor den Toren Münchens zu schätzen gewusst. Bis 1945 bot die in den 1930er Jahren entstandene NS-Mustersiedlung zahlreichen prominenten Nationalsozialisten eine ebenso ideologisch korrekte und machtpolitisch effektive wie qualitativ hochwertige Heimstatt. Ab 1942 machte sich der NS-Staat daran, Pullach zu einem Führerhauptquartier auszubauen. Hitler selbst hielt sich in den Jahren 1939 bis 1943 immerhin jährlich mehrere Tage vor Ort auf (42f., 61f.). Es ist diese Mehrfachbelegung des "Geheimobjekts", die die historische Auseinandersetzung mit seiner Geschichte ebenso notwendig wie interessant macht.

Susanne Meinl zeichnet für die Beschreibung Pullachs bis 1945 verantwortlich. Ihr gelingt es, über die Entwicklung der Siedlung und die damit verbundene Vorstellung relevanter Biografien von Einwohnern die maßgeblichen ideologischen, außen- und innenpolitischen Perspektiven und Dimensionen des geschichtsmächtigen Orts bis 1945 greifbar werden zu lassen. Angesichts der Komplexität können die Verflechtungen und Querverbindungen hier nicht im Detail ausgeführt, sondern nur schlagwortartig benannt werden. Das Konzept der Anlage und ihre Architektur spiegeln Kernelemente der NS-Ideologie wider, während Bau- und Besiedlungsgeschichte auf die Bedeutung von persönlichen Verbindungen und Loyalitäten im NS-Staat zurück verweisen. In dieser Gemengelage war auch in Pullach kein Platz mehr für unvoreingenommene Bauplanung oder verwaltungsrechtliche Verfahren. Mit Druck und Erpressung stellten NS-Funktionäre bis 1936 sicher, dass ihrer Siedlung genügend Raum zur Verfügung stand. Der Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen für Baumaßnahmen und die Einsätze von Bewohnern in Mordprogrammen im Krieg demonstrieren auf bedrückende Weise, wie eng im NS-Staat Machtpositionen und -ausübung der Führungsspitzen mit dem allgemeinen Gewalt- und Terrorregime verwoben waren. Dass die Belegschaft der Siedlung angesichts gezielter Luftangriffe und der absehbaren Niederlage sich ab 1944 vielfach in reines Selbstmitleid flüchtete, ließ eine Einstellung erahnen, für die die unsensible Nutzung der Liegenschaften für eine geheim agierende deutsche Behörde kein Problem darstellte.

Es gab jedoch mehr als nur räumliche Anknüpfungspunkte. Umfang und Auswirkungen personeller Kontinuitäten aus NS-Organisationen und NS-Sicherheits- und Terrorapparaten in die Organisation Gehlen hinein müssen erst noch geklärt werden. Frühe qualitative Debatten der amerikanischen Aufsichtsbehörden lassen es jedoch als sehr fraglich erscheinen, ob man die Fortführung früherer Karrieren unter anderem Titel schlicht ohne weitergehende Problematisierung innen- und außenpolitischer sowie nachrichtendienstlich-technischer Dimensionen dürr als "eine der wenigen Kontinuitätslinien" beschreiben kann (125). So zierte den Garten des Präsidentenhauses eine Arbeit des auch im Dritten Reich populären Bildhauers Josef Thorack. Dieser Umstand muss nicht als Indikator einer unbelehrbaren braunen Zelle in Pullach bewertet werden, wirft aber doch Fragen nach dem Beharrungsvermögen von Denkweisen und Anschauungen sowie nach der generellen Selbstverortung von nachrichtendienstlichen Spitzenkräften in der Bonner Demokratie auf (199, 206).

Der zweite Teil der Darstellung der Liegenschaftsgeschichte verzichtet im Ganzen eher darauf, solch weitergehende Rückkopplungen und Einbindungen der Pullacher Geschehnisse zu akzentuieren. Deshalb bietet Hechelhammers Part vor allem eine Einführung in die Entwicklung personeller und organisatorischer Strukturen des Dienstes. Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die Forschung weitere Fragen: Die wirkliche Schlagkraft des Dienstes wurde schon Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre diskutiert (192-194). Das Verhältnis zur CIA war während und nach der Unterstellung der Gehlen'schen Organisation unter die Amerikaner offenbar keineswegs immer konfliktfrei oder von Vertrauen geprägt. Gehlen selbst versuchte etwa 1957, den in seinen Augen allzu engen oder häufigen Kontakt seiner Mitarbeiter mit CIA-Kollegen radikal zu beschneiden (200).

Schließlich zeichnete sich der BND auch durch seine Nähe zu Politikern aller Fraktionen aus. Auf der anderen Seite bewerteten Spitzenpolitiker die Ergiebigkeit der Pullacher Quellen durchaus kritisch. Dazu bemühten sich Regierung und Parlament um eine angemessene Kontrolle der Institution, deren Aktivitäten innen- und außenpolitischen Sprengstoff enthielten oder enthalten konnten. Das spannungsgeladene Beziehungsgeflecht zwischen Nachrichtendienst und Politik, direkte und indirekte Einflüsse des Dienstes auf politische Entscheidungsfindungen und tatsächliche Wirkungsmöglichkeiten der Spionage unter den Bedingungen des Kalten Kriegs sind Großthemen, die in der Darstellung höchstens angerissen werden. So bleibt die Monografie eine Geschichte der Liegenschaft, die Möglichkeiten und Chancen einer Auseinandersetzung mit Geschichtsorten in Teilen exemplarisch vorführt, mitunter aber eben nur andeutet.


Anmerkungen:

[1] Vgl. die Selbstdarstellung unter http://www.uhk-bnd.de/. Einen ersten Überblick der Tätigkeit vermittelt UHK (Hg.): Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945-1968. Umrisse und Einblicke. Dokumentation der Tagung am 02. Dezember 2013, Marburg 2014.

[2] Vgl. die Selbstdarstellung unter http://www.bnd.bund.de/DE/Einblicke/Geschichte/Geschichtsaufarbeitung/geschichtsaufarbeitung_node.html. Bislang hat die Forschungs- und Arbeitsgruppe insgesamt neun Einzelhefte herausgegeben, u.a. zu NS-Belasteten im BND, zur Kuba-Krise und zum Mauerfall.

[3] Kevin Ruffner (ed.): Forging an Intelligence Partnership. CIA and the Origins of the BND 1945-49, 2 Bände, Washington 1999; Kevin Ruffner (ed.): Forging an Intelligence Partnership. CIA and the Origins of the BND, 1949-56, 2 Bände, Washington 2006.

Andreas Hilger