Rezension über:

Christoph Lorke: Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt/M.: Campus 2015, 469 S., ISBN 978-3-593-50268-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Meike Haunschild
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Meike Haunschild: Rezension von: Christoph Lorke: Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt/M.: Campus 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/27194.html


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Christoph Lorke: Armut im geteilten Deutschland

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In den letzten Jahren haben sich bereits mehrere Studien mit dem Thema Armut beschäftigt. In diese Reihe fügt sich Christoph Lorkes Münsteraner Dissertation ein und setzt zugleich einen neuen Akzent. Lorke versucht nicht, sozialpolitische und sozialgesetzliche Entwicklungen deutscher Wohlfahrtsstaatlichkeit zu beleuchteten. Er konzentriert sich vielmehr auf die weit abstraktere Ebene der Vorstellungswelten. Ziel seiner Studie ist es, die jeweils vorherrschenden "Images" von Armut in Bundesrepublik und DDR von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zum Wendejahr 1989 herauszuarbeiten und miteinander zu vergleichen. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf das Aufeinanderbezogensein beider Gesellschaften.

Eine systematische Untersuchung von Armutsvorstellungen nach 1945 stand bislang noch aus - zumal im innerdeutschen Vergleich. In Anlehnung an den Kommunikationswissenschaftler Günter Bentele entwickelt der Autor dabei das Konzept der "sozialen Images". Damit meint er gesellschaftlich geprägte Vorstellungsbilder, die durch sich wiederholende, öffentliche Äußerungen sogenannter opinion leader geformt werden. Im Unterschied zum Klischee oder Stereotyp seien sie wertneutraler und zugleich wandelbarer. Sie geben gerade bei komplexen Sachverhalten Orientierung hinsichtlich Normen und erwünschten Verhaltensweisen und markierten die Trennlinie zu "den Anderen". Dadurch bringen sie die Gesellschaft in eine überschaubare Ordnung und seien wichtig für ihre Stabilität. Den Erkenntniswert seiner Untersuchung sieht Christoph Lorke darin, aus den Armutsimages Rückschlüsse auf das jeweilige gesellschaftliche Selbstbild zu ziehen.

Eine eigene Definition von Armut gibt Lorke bewusst nicht. Allerdings verweist er auf die Relativität des Begriffs und betont mit Georg Simmel den Faktor "Hilfsbedürftigkeit" als Kern von Armut. Bei der Quellenauswahl ließ sich der Autor daher von den Interpretationsangeboten der Akteure leiten, die in seinen Beispielen vor allem aus den Bereichen Wissenschaft, Medien und Politik stammen. Das ist durchaus legitim, führt jedoch zu einer gewissen Unschärfe. Ein grundsätzliches Problem besteht nämlich dann, wenn die Akteure selbst weder den Begriff "Armut" verwenden, noch der Meinung sind, die Menschen, über die sie urteilen, seien hilfsbedürftig, sondern müssten vielmehr diszipliniert werden, notfalls auch mithilfe des Strafgesetzbuchs.

Die Arbeit ist in drei thematisch gefasste Zeitabschnitte eingeteilt. Der erste Block widmet sich den zeitlich weit gefassten "Nachkriegsjahren" bis einschließlich 1961. Das zweite übergeordnete Kapitel beleuchtet die von Anfang der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre währenden "Jahre des Wachstums". Der dritte Teil wird im Einklang mit der aktuellen Forschung als die Zeit "nach dem Boom" zusammengefasst. Die Anordnung der Unterkapitel ist jeweils ähnlich: Zunächst werden west- und ostdeutsche Armutsimages vorgestellt, woraufhin die Fäden in einem letzten Unterkapitel zusammengeführt werden. Wie der Autor in der Einleitung betont, zeigt sich hierbei eine starke Asymmetrie zugunsten der Bundesrepublik gegenüber der DDR. Diese Asymmetrie erklärt sich aus der Verschiedenheit der politischen Systeme und der daraus folgenden unterschiedlich gearteten Quellenlage. Nichtsdestotrotz wird die Untersuchung vor allem durch die wenigen, innerhalb der einzelnen Abschnitte direkt gezogenen Vergleiche mit dem jeweils anderen Land bereichert. Vor allem an diesen Stellen scheint der Autor seinem Anspruch gerecht zu werden, eine "integrierte deutsch-deutsche Kommunikationsgeschichte über 'Armut'" zu erzählen (23).

Insgesamt erkennt Lorke eine Tendenz, Armut mit steigendem Wirtschaftsaufschwung zu individualisieren. Diese Imagekonstruktion traf vor allem auf die vermeintlich "unwürdigen Armen" zu. Die Folge davon waren vor allem Rufe nach disziplinierenden Maßnahmen. Dabei schöpften west- wie ostdeutsche Sozialkommentatoren in den ersten beiden Jahrzehnten gleichermaßen "aus einem gemeinsamen Reservoir national-kulturell etablierter Systeme mitsamt (Re)Etikettierungen, Stereotypisierungen und diffamierender Sozialklischees" (379).

Bezüglich der moralisch-pädagogischen Sicht auf Armut entwickelten sich Bundesrepublik und DDR ab den ausgehenden 1960er-Jahren jedoch auseinander. Den zunehmend liberaleren Umgang mit Randgruppen in der Bundesrepublik erklärt Lorke mit Liberalisierungsprozessen in der bundesdeutschen Demokratie. Vorsichtige Korrekturversuche der starren Dichotomie zwischen "würdigen" und "unwürdigen" Armen erfolgten in der DDR dagegen erst in den späten 1980er-Jahren. Dennoch habe in beiden deutschen Staaten insgesamt das Verhalten vorgeherrscht, Armut zu leugnen. Dies hätte dem Wunschbild eines funktionierenden Sozialstaats gleichermaßen widersprochen wie einer als gleich vorgestellten sozialistischen Gesellschaft.

Der anspruchsvolle Sprachstil hemmt bisweilen den Lesefluss. Auch eine stärkere Loslösung von der Quellensprache sowie kurze Begriffserklärungen hätten das Verstehen an manchen Stellen erleichtert. Dennoch ist Christoph Lorke seinem innovativen Ansatz, sich dem Thema Armut mithilfe des Konzeptes der sogenannten "Images" von seiner abstrakten Seite her zu nähern, in der vorliegenden Studie konsequent nachgegangen. Die Armutsimages bewertet er dabei als wichtiges Verständigungsinstrument über das Selbstbild einer Gesellschaft und ihrer Ordnung. Zugleich betont er den exkludierenden Charakter der meisten Armutsvorstellungen. Neben der beeindruckenden Quellenfülle und -vielfalt sowie deren systematisch gekonnter Interpretation liegt die besondere Stärke der Arbeit darin, Armut in ihrer Relativität und Wandelbarkeit als politisches Instrument jenseits von Sozialhilfezahlen und Sozialstatistiken greifbar zu machen.

Meike Haunschild