Rezension über:

Veronika Wieser / Christian Zolles / Catherine Feik u.a. (Hgg.): Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit (= Kulturgeschichte der Apokalypse; Bd. 1), Berlin: Akademie Verlag 2013, 767 S., 39 Farbabb., ISBN 978-3-05-005797-2, EUR 128,00
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Rezension von:
Felicitas Schmieder
Historisches Institut, FernUniversität Hagen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Felicitas Schmieder: Rezension von: Veronika Wieser / Christian Zolles / Catherine Feik u.a. (Hgg.): Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit, Berlin: Akademie Verlag 2013, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/23604.html


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Veronika Wieser / Christian Zolles / Catherine Feik u.a. (Hgg.): Abendländische Apokalyptik

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Ein verstärktes Interesse an Apokalyptik lässt sich etwa seit der vergangenen Jahrtausendwende in den verschiedensten Fachgebieten verzeichnen, und das interdisziplinäre Forschungsprojekt, dem der vorliegende Band entspringt, trägt dem Rechnung. Dabei ist begrifflich allerdings deutlich zu unterscheiden: In den historischen Epochen, die die Hälfte der in diesem Band vereinigten Beiträge behandeln - von der Spätantike durch das Mittelalter, die Reformation zum Dreißigjährigen Krieg - bedeutet Apokalypse Offenbarung im biblischen Sinne und nimmt Bezug auf eine relativ konkrete Sammlung von Figuren, Szenarien und Zeitvorstellungen. Diese sind Akteuren und Denkern nach der gerade in begrifflicher Hinsicht schwer hintergehbaren Koselleckschen Sattelzeit zwar nicht unbedingt unbekannt, ihre allgemeine und geradezu verbindliche Bekanntheit kann aber auch nicht mehr vorausgesetzt werden. Apokalypse ist als Begriff einerseits verflacht, hat aber andererseits an neuer Farbigkeit gewonnen.

Deshalb geht es den Herausgebern des Bandes auch nicht so sehr um Begriffe, Bedeutung und Inhalte, sondern um die konkrete Auseinandersetzung mit den Strukturen "hinter bestimmten Reden und Bildern vom Weltende" - "auf diachroner und synchroner Ebene" werden dabei "plurale, heterogene, teils widersprüchliche Phänomene" (11f.) sichtbar. Beim Bemühen, die unterschiedlichen Sichtweisen ineinander zu verflechten, ist ein "Kompendium" herausgekommen, ein Untertitel, der die festgestellte Unmöglichkeit, die Vielfalt der Assoziationen epochenübergreifend zu synthetisieren, sehr gut wiedergibt. Die "Genealogie" ist dabei grundsätzlich chronologisch und interessanterweise in der Zeit zurückschreitend, also von unserer heutigen Sicht in die vormoderne Vergangenheit rückblickend und damit als Annäherung an das uns fremd Gewordene aufgestellt.

Diese Rezension bietet keinen Platz, um jeden einzelnen Beitrag des mit 33 Aufsätzen umfangreichen Bandes auch nur zu nennen, doch die Systematik, in die er die einzelnen Themen bringt, lässt sich charakterisieren. Nach der Einleitung zerfällt der Band in zwei große Teile: 18 neuzeitliche medien- und literaturwissenschaftliche Beiträge, die in drei systematische Kapitel aufgeteilt wurden, die sich chronologisch parallelisiert zwischen dem 18. und 21. Jahrhundert bewegen, greifen vorhandenes "Apokalyptisches Wissen", die darin eingreifenden "Medienregulative" und schließlich die typische und unfassbare Vielfalt der Moderne, "Mögliche Welten, mögliche Enden", auf.

Die folgenden 16 Aufsätze (auf die sich die Rezensentin aus fachlichen Gründen konzentriert) blicken auf die vormoderne Apokalyptik aus geschichts-, religions- und literaturwissenschaftlicher sowie kunsthistorischer Perspektive. Die drei Kapitel sind grundsätzlich rückwärts-chronologisch geordnet, wobei die auch hier ordnende Systematik große Überlappungen offensichtlich macht - und mehr noch, "Apokalyptische Gemeinschaften (15.-17. Jahrhundert)", wie sie hier für das 15. bis 17. Jahrhundert zumeist aus reformatorischen Kontexten erwachsen scheinen, hätte man auch schon im Christentum vor dieser Zeit finden können. Von der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten über die Hussiten, Luther, den Magdeburger Widerstand gegen das Interim bis zum Dreißigjährigen Krieg wird die gemeinschafts- und ordnungsstiftende Kraft endzeitlicher Vorstellungen ausgelotet. Zugleich waren apokalyptische Figuren und Zusammenhänge geeignet, das Fremde, Feindliche, Gefährliche zu identifizieren. Im in sich nicht chronologisch geordneten Kapitel "Prozesse des Othering (5.-14. Jahrhundert)" wird das an ethno- und kosmographischen Fernverortungen (im extremen Osten oder Norden) durchgespielt, wird die Notwendigkeit der Erklärung des und Hoffnung gegenüber dem Islam deutlich gemacht, und nicht zuletzt kommt die Bedeutung eschatologischer Diskurse für die Analyse von je zeitgenössischen politischen Konzepten in Zeiten der Krise zur Sprache. Unter der Überschrift "Konkurrierende Zeithorizonte (4.-12. Jahrhundert)" sind Beiträge versammelt, die sich der in manchem befremdlichen, in manchem aber auch modernen Vorstellungen näherkommenden Tatsache widmen, dass Apokalypse in Spätantike und Mittelalter nicht unbedingt endzeitlich gelesen und eingesetzt werden musste, sondern gemäß dem vierfachen Schriftsinn auch zur moralischen Mahnung, zu Ordnung von Zeit und Geschichte und zur allegorischen Zusammenschau von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingesetzt werden konnte.

Das Panorama, das aufgespannt wird, ist faszinierend, lässt aber insgesamt auch Fragen offen. So ist es sicher erlaubt, sich auf "abendländische" (was immer das heutzutage sein kann) Vorstellungen zu beschränken, auch wenn bei manchem Blick auf das Fremde dessen Blick in die andere Richtung hilfreich ist. Fraglich aber ist zum Beispiel, ob die Säkularisierung der Apokalypse tatsächlich ein "gesamtabendländisches" Phänomen ist, bedenkt man nur die Präsenz der biblischen und nachbiblischen Apokalyptik in der US-amerikanischen politischen Rhetorik - ganz abgesehen davon, dass man "abendländische" Diskurse sicher zu keiner Zeit abgetrennt von solchen des "Ostchristentums", des "Orients" (etc.) sehen kann. Man fragt sich - wenn das Ergebnis der beleuchteten modernen Prozesse tatsächlich eine geradezu unüberschreitbare Distanz zum vormodernen apokalyptischen Wissen ist - ob das Problem hier die Auswahl der Protagonisten oder Selbstgenügsamkeit der Westeuropäer ist.

Ein reines Personenregister (das wichtige Protagonisten wie Antichrist, apokalyptische Völker wie Gog und Magog oder die Magdeburger Exules nicht nachweist) und 27 Bildtafeln runden den experimentell ungewöhnlichen und insgesamt spannenden Band ab.

Felicitas Schmieder