Rezension über:

Tim Geelhaar: Christianitas. Eine Wortgeschichte von der Spätantike bis zum Mittelalter (= Historische Semantik; Bd. 24), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 557 S., ISBN 978-3-525-36725-4, EUR 85,00
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Rezension von:
Hans-Werner Goetz
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Werner Goetz: Rezension von: Tim Geelhaar: Christianitas. Eine Wortgeschichte von der Spätantike bis zum Mittelalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28238.html


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Tim Geelhaar: Christianitas

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Nach der einzigen, auf das Papsttum zentrierten, monographischen Behandlung des Themas durch Jean Rupp von 1939 geht Tim Geelhaar in seiner Frankfurter Dissertation mit semantischem und quantitativem Ansatz erneut der Wortgeschichte des Begriffs christianitas nach, um Rupps seither weithin akzeptierte These, christianitas sei eine Chiffre für ein handlungsleitendes mittelalterliches Konzept der Christenheit, zu überprüfen und zugleich einen Beitrag zur Erforschung der politischen Sprache zu leisten. Der zeitliche Rahmen ist dabei weit enger als bei Rupp von der Spätantike (Mitte des 4. Jahrhunderts) bis zum 9. Jahrhundert (intensiv bis 815) gesteckt, der inhaltliche Rahmen dafür aber umso weiter gefasst. Die Frage nach dem Konzept ist durch die Untersuchung des Begriffsinhalts abgelöst. Dabei verteilen sich die 819 Belegstellen in 438 Schriften recht unterschiedlich, mit einer Lücke von 700 bis 740. Nach der Verteilung lassen sich bis dahin wiederum drei Phasen unterscheiden: bis zu Theodosius (493, mit 97 Belegen bei 30 Autoren), bis zu Gregor dem Großen (590, mit 109 Belegen in 51 Werken) und bis 740 (mit nur noch 48 Belegen in 39 Werken). Wie kontextabhängig der Begriffsgebrauch ist, bleibt dem Autor bewusst, der auch grammatische Anwendung (Fälle) und Bezugswörter zentral berücksichtigt, zumal der Begriff vorzugsweise im Genetiv vorkommt und somit ein Bezugswort verlangt.

Die elf Kapitel sind sowohl zeitlich wie thematisch geordnet. In der Spätantike erweist sich der zuerst bei Ambrosiaster bezeugte Begriff als eine nur von Christen gebrauchte Selbstbezeichnung, begegnet allerdings nicht im Umfeld der großen, theologischen Debatten, sondern richtet sich weniger auf die Christenheit als auf den Glauben und zielt vor allem darauf ab, was einen guten Christen ausmacht. (Aber müsste der Begriff nicht gerade dann in den Häresiedebatten auftreten?) Zu Recht erkennt Geelhaar schon in der Spätantike sowohl eine Polysemie als auch eine 'Dynamik' des Begriffs mit neuen Anwendungsbereichen wie dem tempus christianitatis (demgegenüber die orosianischen tempora christiana allerdings ungleich häufiger begegnen). Wenn Geelhaar die Beobachtung, dass Augustin den Begriff nach 395 nicht mehr verwendet, als "beredtes Schweigen" in Abgrenzung vom Sprachgebrauch der Donatisten deutet, die sich als Vertreter der wahren christianitas bezeichnen, dann muss auch eine solche Folgerung bei zwei Gegenbelegen zwangsläufig unsicher bleiben. Nicht nur Augustin, sondern fast alle Autoren bevorzugen demgegenüber den Begriff ecclesia. Kaiserliche Edikte zeigen jedoch, dass der juristische Sprachgebrauch nicht wesentlich vom theologischen abweicht; Übersetzungen aus dem Griechischen - und hier verfolgt Geelhaar auch, mit welchen anderen Wendungen dieselben griechischen Begriffe übertragen werden - haben letztlich eine beschränkte Nachwirkung. Hingegen bringt der Sprachgebrauch Gregors des Großen zwar keine Neuerung, wird über ihn aber dem Mittelalter vermittelt.

Papstbriefe entwickeln als weiteren Anwendungsbereich zudem die Anrede vestra christianitas im Einzelfall für die Kaiser, vor allem aber für andere Könige (bei Gregor allein 15mal) und verbinden mit dem Begriff sowohl Eigenschaft wie Person. Im Westgotenreich (Isidor und Gesetze) und bei den Angelsachsen (Beda und Urkunden) wirken die spätantiken Anwendungen, vor allem das nomen christianitatis, weiter, ohne weiterentwickelt zu werden. Christianitas, so fasst Geelhaar das Bisherige zusammen, ist ein Wort der Spätantike, das sich auf "christlich" und "Christlichkeit" bezieht: auf die christliche Zeit, die Nächstenliebe und das Erzählen vom Christlichen.

In der Karolingerzeit nimmt die Zahl der Belege (in Traktaten, Chroniken, Viten, Exegese, Briefen und Rechtstexten) enorm zu, das Wort wird aber weiter vorwiegend als Genetivattribut verwendet. Als päpstliche Anrede an die Frankenherrscher findet es zwischen 755 und 776, naturgemäß zu anderen Themen als bei Gregor und im Konflikt mit dem Langobardenreich, rege Anwendung, um danach wieder abzubrechen; Geelhaar deutet das als neue Distanz zu den Karolingern. Weitere Verwendung findet die Vokabel im Missionskontext der Ausbreitung des christlichen Glaubens (bei Papst Zacharias), bleibt nach Geelhaar jedoch ohne strategische Verwendung: als Pendant zur althochdeutschen christānheit bei Arn von Salzburg, aber eigentlich im Sinne eines christlichen Lebens, in Abgrenzung nach außen von den Heiden (in der Bonifatiusvita) wie auch zur 'inneren' Frömmigkeit von Mönchen und Nonnen (in der Bertilavita), wird sie aber immer noch nicht zur geläufigen Formel. In den Reichsannalen wiederum verbindet sich christianitas - anlassgemäß - mit Königstreue.

Das leitet zur Frage über, ob es eine "karolingische christianitas" gab: Die Formel imperium christianitatis findet sich zwar nicht im Zusammenhang mit der Kaiserwürde oder der Königsherrschaft, aber Cathwulfs Bindung des idealen Königs an die lex totius christianitatis, Alkuins Formel eines regnum christianitatis, die nach Geelhaar jedoch nicht zwangsläufig die Christenheit meint, und seine Abhebung der rechten Christen (nomen christianitatis habentibus) von Häretikern im Adoptionismusstreit - über eine "endzeitliche Grundstimmung" wird man allerdings weiter streiten müssen - weisen zumindest in die Richtung einer christlichen Gesellschaft, beziehen sich in erster Linie aber wieder auf den Glauben. Karl der Große selbst sah keinen Bedarf für den Begriff; seine Zielgruppe war der populus christianus. In einigen Kapitularien (nicht zuletzt für Sachsen) drückt christianitas aber eine "politische Tugend" aus und bezieht sich auf christliche Riten und Lebensweisen. Insgesamt gibt es jedenfalls nicht nur eine christianitas als typisches Merkmal. Ein Quellenanhang zitiert dankenswerterweise 421 chronologisch geordnete Belege im Wortlaut.

Geelhaar hat ohne jeden Zweifel eine äußerst gründliche Begriffsuntersuchung vorgelegt; die überschaubare Zahl an Belegen erlaubt eine ebenso genaue wie vorsichtige Besprechung und Abwägung jeder einzelnen Stelle. Zu Recht betont Geelhaar die Vielseitigkeit des Begriffs und entzieht damit Thesen über ein damit verbundenes klar strukturiertes 'Konzept' der Christianisierung mittels eines auf die römische Christenheit bezogenen christianitas-Begriffs den Boden. Das ist eine bleibende Leistung. Zwar kann er eine Politisierung des Begriffs schon gegenüber den Donatisten, ab dem 6. Jahrhundert gegenüber dem Kaisertum (auch als Kritik) und dann in den Sachsenkriegen Karls des Großen feststellen (was aber auch der Kontext bedingt) - sie ist also nicht erst durch die Sarazenen bewirkt (so Dominique Iogna-Prat) -, doch hat das alles nur eine begrenzte Reichweite. Die Grundtendenz ist vielmehr pastoral-theologisch und bezieht sich auf "Christlichkeit" und "Christentum" statt auf die "Christenheit": "Europa ist weder aus der christianitas hervorgegangen noch aus ihrem Scheitern", so der - vielleicht allzu weit reichende - Schlusssatz (354).

Es fällt allerdings auf, dass Geelhaar an einigen Stellen betonen muss, dass christianitas dort nicht zwingend als "Christenheit" zu verstehen ist (das also andererseits nicht ausschließen kann) und dass beispielsweise die im Anhang aufgeführten Belege aus dem Brieftraktat des Beatus von Liébana und Heterius von Osma gegen den häretischen Erzbischof Elipand von Toledo, in denen christianitas gleich mehrmals sehr deutlich als Gegenbegriff zu den Nichtgetauften verwendet wird, lediglich an einer Stelle kurz erwähnt werden. Am Gesamtergebnis ändert das jedoch nichts. Noch etwas anderes bleibt zu bedenken: In einer längst christlichen Gesellschaft ist eine Berufung auf eine einheitliche Christenheit zum einen überhaupt nur in der Abgrenzung nach außen zu erwarten. Diesem Aspekt müsste daher noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet, die These an entsprechenden Stellen überprüft werden. Wenn christianitas zum andern in der Regel auch nicht auf ein identifizierendes Christenheitsgefühl verweist, kann eine sich (legitimerweise) auf diesen einen, insgesamt letztlich doch vergleichsweise selten benutzten Begriff beschränkende Untersuchung die Existenz eines solchen natürlich nicht widerlegen (und das war auch nicht ihr Anspruch). Ein 'Konzept' des Christentums würde sich daher erst bei einer umfassenden Betrachtung aller einschlägigen Begriffe und Kontexte erschließen.

Hans-Werner Goetz