Rezension über:

Tilman Haug: Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage. Die französische Krone und die geistlichen Kurfürsten (1648-1679) (= EXTERNA. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 540 S., ISBN 978-3-412-22360-1, EUR 79,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Lothar Schilling
Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Lothar Schilling: Rezension von: Tilman Haug: Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage. Die französische Krone und die geistlichen Kurfürsten (1648-1679), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/28072.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Tilman Haug: Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage

Textgröße: A A A

Die französische Politik gegenüber dem Reich in den Jahrzehnten nach 1648 gehört seit geraumer Zeit zu den intensiv erforschten und kontrovers gedeuteten Feldern der Frühneuzeitforschung. Wer die vorliegende, in Bern bei Christian Windler entstandene Dissertation Tilman Haugs zur Hand nimmt, mag sich also fragen, ob sich zum Verhältnis der französischen Krone zu den geistlichen Kurfürsten zwischen dem Westfälischen und dem Nimwegener Frieden (1648-1679) noch grundlegend Neues ermitteln lässt - und wird rasch feststellen, dass derlei Bedenken unbegründet sind. Denn die Arbeit Haugs stützt sich nicht nur in großer Breite auf unpublizierte Archivalien (zumal aus dem Archiv des französischen Außenministeriums), sie verfolgt einen innovativen Ansatz und gelangt zu überzeugenden Erkenntnissen.

Ausgangspunkt der Studie ist die konsequente Abkehr von der in der Geschichtswissenschaft noch gelegentlich, in der Politikwissenschaft häufiger anzutreffenden Annahme, mit dem Westfälischen Frieden sei ein "internationales System" nach innen hin homogener, nach außen hin geschlossen agierender "Staaten" entstanden, die sich bei der Handhabung ihrer Außenbeziehungen auf rational und bürokratisch organisierte diplomatische Vertretungen gestützt hätten. Haug hält dieses Modell mit guten Argumenten nicht nur mit Blick auf das Heilige Römische Reich für unzutreffend, sondern auch für das von einem Monarchen mit absolutem Herrschaftsanspruch regierte Frankreich.

Obwohl er Professionalisierungs- und Verstaatlichungstendenzen in den Außenbeziehungen der europäischen Mächte des 17. Jahrhunderts keineswegs leugnet, fokussiert Haug vorrangig deren personal-vormoderne Grundlagen, auf die bereits Lucien Bély mit der Formel von der europäischen Mächteordnung als 'société des princes' hingewiesen hat. Anknüpfend an Arbeiten seines Lehrers Windler sowie Hillards von Thiessen bezieht er dabei ganz unterschiedliche Rollen und Ränge einnehmende Akteure, deren jeweilige Perspektiven und deren komplexe, durch grenzüberschreitende Protektions- und Patronageverhältnisse charakterisierte Verflechtungen in die Studie ein. Nicht die völkerrechtliche Fiktion "souveräner Gleichheit" (Reibstein) steht im Mittelpunkt dieser Studie, sondern die politisch-soziale Praxis asymmetrisch-ungleicher Beziehungen: zwischen der Krone Frankreich und den um Gleichstellung mit den europäischen Souveränen ringenden geistlichen Kurfürsten von Mainz und Köln sowie (ihnen zugrunde liegend) zwischen deutschen und französischen Ministern, Diplomaten und anderen an den Außenbeziehungen beteiligten Akteuren.

Im ersten Hauptteil stellt der Verfasser zunächst die Rahmenbedingungen vor: Er skizziert die Ereignisgeschichte der französisch-reichsständischen Beziehungen der betreffenden Zeit, die völkerrechtlichen und zeremoniellen Voraussetzungen des diplomatischen Verkehrs, Status und Partizipationschancen der Kurfürsten in der europäischen Mächteordnung, die konkrete Ausgestaltung der personalen Bindungen zwischen den untersuchten Akteuren sowie die sich aus konkurrierenden Patronageverhältnissen ergebenden multiplen Loyalitäten.

Haug legt etwa dar, dass der "diplomatische Dienst" auch in Frankreich nicht von bürokratisch-rationalen Grundsätzen im Sinne Max Webers, sondern von mikropolitischen Rekrutierungs- und Entlohnungsmustern geprägt war, die er treffend als auf Gabe und Gegengabe beruhende "Verdienst- und Gnadenökonomie" kennzeichnet. In diesem System existierte keine eindeutige Unterscheidung zwischen den Klienten französischer Minister im Innern und außerhalb Frankreichs - wie im Übrigen auch die Unterscheidung zwischen informellen Klienten- und formellen Gesandtenrollen nur schwach ausgeprägt war. Sie alle agierten primär als Sachwalter ihrer jeweiligen Minister-Patrone, die unter Ludwig XIV. freilich anders als noch in der ersten Jahrhunderthälfte weitgehend im Sinne des Königs agierten. Haug konstatiert hier mit Blick auf die Außenbeziehungen einen auf die Krone, ja auf die Person des Königs hin zentralisierten "politischen Klientelismus", der große Ähnlichkeit zu jener Klientelpraxis aufweist, mit deren Hilfe die Krone zur selben Zeit die Integration bis dahin königsferner oder neu eroberter Provinzen voranzutreiben suchte.

Deutlich wird freilich auch, dass die französischen Versuche, im Reich und zumal in den beiden Kurfürstentümern eine profranzösische Klientel aufzubauen und zu nutzen, immer wieder und seit den späten 1660er-Jahren zunehmend an Grenzen stießen. Dies hing fraglos mit der Unvereinbarkeit der vielfältigen Rollen zusammen, die Ludwig XIV. nach 1648 als vorgeblich unparteiischer Garant des Westfälischen Friedens, als Schirmherr habsburgskeptischer Reichsstände, als Akteur und zeitweiliger Kandidat bei der Kaiserwahl sowie schließlich als zunehmend expansiv agierender 'roi de guerre' dem Reich gegenüber einnahm. Erschwert wurden die französischen Versuche, bei Herrschaftsträgern und anderen politischen Akteuren im Reich Unterstützung zu finden, aber auch durch die konsensorientierte Mikropolitik kapitelfähiger Familien in geistlichen Territorien sowie generell durch die Tendenz adliger Akteure, sich nach mehreren Seiten hin abzusichern - was angesichts der "habsburgischen Patronagekonkurrenz" die Steuerbarkeit der französischen Klienten erheblich einschränkte. Hinzu kam persönliche Loyalität, wie sie etwa Wilhelm von Fürstenberg mit Herzog Karl von Lothringen verband - mit der Folge, dass dieser französische "Musterklient" 1662 heftig gegen die von französischer Seite angestrebte Annexion Lothringens protestierte.

Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Fragilität der Patronageverhältnisse geht der Verfasser im zweiten, streckenweise etwas theorielastigen Hauptteil der Frage nach, auf welchen Voraussetzungen dauerhafte, "vertrauensvolle" Beziehungen der untersuchten Akteure beruhten. "Höflichkeit" fungierte dabei als unverzichtbare, aber nicht ausreichende Grundvoraussetzung, die durch "Gaben" und "Gegengaben", nicht zuletzt durch die Übermittlung von Informationen, beglaubigt werden musste. Auch gemeinsame Stereotype und Feindbilder dienten der Stabilisierung von Vertrauen, wobei der Verfasser darlegt, dass konfessionellen, die Herkunft und den sozialen Rang betreffenden Wahrnehmungsmustern in den von ihm ausgewerteten Quellen eine bemerkenswert geringe Bedeutung zukam, während das "dynastische Feindbild" Habsburg zumal von französischer Seite überaus häufig aufgerufen wurde.

Der dritte Hauptteil behandelt schließlich die zur Begründung der französischen Reichspolitik im mikro- wie im makropolitischen Kontext herangezogenen Normen, die ähnlich vielfältig waren wie die Rollen, die der französische König gegenüber dem Reich einnahm. Mit Blick auf das Verhältnis von Mikro- und Makropolitik interessant, wenn auch nicht gänzlich überraschend sind hier Haugs Befunde im Hinblick auf die explizite Erwähnung persönlicher Interessen. Im makropolitischen Kontext und zumal in Bezug auf die Normvorstellungen des Adels bezeichnete der Begriff "Interesse" eindeutig einen "Anti-Wert" mit "beziehungsdestabilisierende[n] Implikationen" (460). Innerhalb von Patronagebeziehungen hingegen wurde nicht selten positiv auf persönliche Interessen Bezug genommen, denn sie galten als Garanten für Berechenbarkeit und Verlässlichkeit - ein Argument, das im Übrigen (von Haug nicht eigens erwähnt) auch von der zeitgenössischen Interessenlehre mit Blick auf die als untereinander im Naturzustand befindlich vorgestellten europäischen Mächte herangezogen wurde.

Haug beschließt seine Darstellung mit einem Abschnitt über den "Fall" eines seiner "Hauptprotagonisten", des bereits erwähnten Wilhelm von Fürstenberg, dessen vom Kaiser veranlasste spektakuläre Gefangennahme 1674 hohe Wellen schlug und die Auflösung eines nach Köln einberufenen multilateralen Friedenskongresses nach sich zog. Tatsächlich lassen sich am Beispiel dieses (neben seinem Bruder Franz-Egon) engagiertesten französischen Klienten im Reich die divergierenden und sich wandelnden Normen und Normvorstellungen im Hinblick auf grenzüberschreitende Patronage besonders deutlich aufzeigen. Vor dem Hintergrund der reichsweiten, von Autoren wie Franz von Lisola angeheizten Empörung über den Holländischen Krieg galt die Haltung der Brüder Fürstenberg, die einige Jahre zuvor selbst beim Kaiser kaum Anstoß erregt hatte, nun als Inbegriff der Korruption und des Verrats. Der Versuch des Kaisers, ein Exempel zu statuieren und Wilhelm von Fürstenberg den Prozess zu machen, scheiterte dennoch - Fürstenbergs Vergehen waren weder materiell- noch verfahrensrechtlich eindeutig fassbar. 1679 erreichte Ludwig XIV. schließlich im Nimwegener Frieden die vollständige Restituierung seines Klienten und des gesamten Hauses Fürstenberg.

Gewiss - das vorliegende Buch ist nicht frei von kleineren Versehen [1] und einigen Redundanzen, die nicht zuletzt daher rühren, dass Beispiele und Quellen unter mehrerlei Perspektive in den Blick genommen werden. Auch manche methodische und theoretische Überlegung ließe sich wohl knapper formulieren. Offen bleiben muss zudem einstweilen die Frage der Verallgemeinerbarkeit der vorgestellten Befunde. Dies ändert freilich nichts daran, dass Tilman Haug eine mustergültige Studie vorgelegt hat, die exemplarisch zeigt, in welch hohem Maße akteurszentrierte Patronageforschung zum Verständnis frühneuzeitlicher Mächtebeziehungen beitragen kann.


Anmerkung:

[1] "Endgültig gelöst" im Sinne eines Anschlusses an Frankreich war die "lothringische Frage" nicht 1670, wie auf Seite 65 behauptet wird, sondern 1766 mit dem Tod des Stanislaus Leszczyński; Haugs Aussagen zu Bodins Einschätzung der Souveränitätsproblematik im Reich (80) sind korrekturbedürftig; Philippsburg war keine "von französischen Territorien umgebene speyerische Exklave" (163).

Lothar Schilling