Rezension über:

Olivier Ventroux: Pergame. Les élites d'une ancienne capitale royale à l'époque romaine (= Collection "Histoire"), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2017, 380 S., eine Kt., 8 Farb-, 4 s/w-Abb., 9 Tbl. , ISBN 978-2-7535-5524-2, EUR 26,00
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Rezension von:
Helmut Halfmann
Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Helmut Halfmann: Rezension von: Olivier Ventroux: Pergame. Les élites d'une ancienne capitale royale à l'époque romaine, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/06/30957.html


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Olivier Ventroux: Pergame

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Das besondere Interesse der Altertumswissenschaft an der Architektur und Geschichte von Pergamon lässt sich zweifellos mit der exzeptionellen Lage und der besonderen historischen Kontinuität dieser Stadt erklären: Die Residenzstadt der attalidischen Dynastie, eine der drei noch im 2. Jahrhundert v. Chr. mächtigen hellenistischen Reiche, geriet nach 133 v. Chr. nahtlos unter das Regime Roms und wurde Hauptstadt der neu geschaffenen Provinz Asia. Eine relativ gute archäologische, literarische und epigraphische Quellenlage lassen demnach Untersuchungen zu Kontinuität, Brüchen, Veränderungen im Stadtbild, in der städtischen Gesellschaft und ihrer Mentalität besonders lohnend erscheinen. Die an der Universität Nantes im Jahre 2013 eingereichte Dissertation von O. Ventroux möchte diese Entwicklung von einer königlichen Residenz zur römisch- kaiserzeitlichen Großstadt am Beispiel der lokalen Eliten nachzeichnen. Konkret geht es um die Frage, ob, und wenn ja, welche attalidischen Traditionen verschiedener Art sich auch in den nachfolgenden Epochen der römischen Republik und Kaiserzeit im politischen und sozialen Verhalten der lokalen Oberschicht nachweisen lassen und dieser ein spezifisches Gepräge verliehen.

Als Folie dienen dem Autor, wie er gleich zu Beginn des Buches hervorhebt, die Ergebnisse einer Untersuchung des Rezensenten aus dem Jahre 2001. [1] Darin wurde nachzuweisen versucht, dass die pergamenische Oberschicht von einem Konservativismus, begründet in dem Bewusstsein besonderer Exklusivität dank der Vergangenheit als königliche Residenz, geprägt war, das sich konkret in der baulichen Ausgestaltung der Stadt und deren Finanzierung manifestierte. Dieses Profil gewann an Schärfe durch den direkten Vergleich mit Ephesos, welches den Typus "Hafenstadt" mit anders strukturierter Oberschicht und verschiedenen Phasen öffentlicher Bautätigkeit verkörperte.

Nach methodischen Vorbemerkungen eröffnet der Autor die Darstellung mit einem historischen Überblick, den "grossen Phasen der Integration der Notablen", in dem er geschichtliche Einschnitte, städtebauliche Entwicklung und die Involvierung der lokalen Oberschicht im Großen und Ganzen gemäß den seinerzeit vom Rezensenten beschriebenen Phasen präsentiert: Diese werden markiert von dem Niedergang der Stadt als Folge des Ersten Mithridatischen Krieges, einer anschließenden Regenerierungsphase und dem katapultartigen Aufschwung, der mit Kaiser Trajan einsetzte und bis über die Mitte des 2. Jahrhundert n. Chr. andauerte. Es folgt je ein Kapitel über die öffentlichen Funktionen und die freiwilligen Leistungen (Euergetismus), die das Engagement der Notablen markierten. Eine Teilsynthese der ersten bietet das vierte Kapitel, das der sozialen Typologie und der bürgerlichen Identität der Oberschicht gewidmet ist. So vielfältig die Kriterien sind, die eine Identität zu definieren helfen, so bunt reihen sich die Unterthemen dieses Kapitels aneinander. Es geht um das römische Bürgerrecht und dasjenige anderer griechischer Städte, den Aufstieg in den Senatoren- und Ritterstand, die die Stadt prägenden Hauptkulte für Asklepios, Athena Nikephoros und Dionysos Kathegemon, um die den Notablen verliehenen Ehrentitel wie "Gründer", "Retter", "Wohltäter", und schließlich um die regionale Herkunft der Eliten, bei der zwei Stränge zurückverfolgt werden: die Verbindung zu den galatischen Königen und Fürsten der späten Republik und zu den aus Italien zugewanderten Familien. Am Schluss stehen eine ergebnisorientierte Zusammenfassung und zwei Anhänge mit einer Präsentation (Text, Übersetzung, Kommentar) der dem Autor wichtig erscheinenden Ehreninschriften, eine Liste von Pergamenern ohne und mit römischem Bürgerrecht und eine Prosopographie der aus Pergamon stammenden römischen Senatoren und Ritter. Das Ganze wird, sehr lobenswert, mit einem detaillierten Register erschlossen.

Die Ausführungen bestechen mit einer breiten, soliden Quellen- und Literaturkenntnis, die naturgemäß weit über den lokalen Horizont hinausreicht und dank derer der Autor immer wieder Parallelen oder Abweichungen zu in Pergamon vertretenen Institutionen, Ämtern, Kulten usw. aufzeigen kann. Er profitiert dabei von neueren Forschungsergebnissen wie der Neudefinition von Teilen der Asklepieionbauten durch V.-M. Strocka und hat sich völlig zu Recht nicht auf eine nochmalige vollständige Präsentation der von lokalen Stiftern initiierten Bautätigkeit eingelassen, sondern sich vielen weiteren Sektoren gewidmet, die seiner Meinung nach eine Identität der lokalen Oberschicht zu erfassen helfen. Das Ergebnis ist eine hervorragend aufgearbeitete Dokumentation städtischer Institutionen, Ämter und Kulte und aller Bereiche, in denen die Notablen sich profilieren und die Erfüllung ihres Engagements, etwa in der Diplomatie, finden konnten. Damit ist zugleich angedeutet, dass die Ausführungen sich nicht entlang der Vertreter der lokalen Eliten selbst bewegen, wie der Titel des Buches vermuten lässt, sondern entlang der Bereiche, in denen dieselben sich öffentlich betätigten.

Durch diese Gliederung kommt es leider häufiger zu Wiederholungen, sei es zu einzelnen Ämtern, sei es zu einzelnen Personen: Die Prytanie wird einmal unter den Magistraturen abgehandelt (90), dann unter den Tätigkeitsfeldern vornehmer Frauen (137); der untere Rundbau des Asklepieions und sein Stifter Pactumeius Rufinus werden unter dem Euergetismus des 2. Jahrunderts n. Chr. (155-156), dann noch einmal unter der Überschrift "Asklepioskult" (210-213) vorgestellt, die Familie des Tullius Cratippus einmal ausführlich unter dem Stichwort "Kaiserkult" (120-121), dann unter "Euergetismus" (166-167). Der vornehme, aus Ancyra gebürtige C. Iulius Severus erhält zwei längere und inhaltlich sich überschneidende Behandlungen (187-189, 233-237), obwohl er - zwar verwandt mit pergamenischen Senatoren - ansonsten aber ohne nachweisbare Beziehungen zu der Stadt war. Hier und an anderen Stellen wäre eine Straffung des Inhalts vorteilhaft gewesen. Dank der ansonsten sorgfältigen Arbeitsweise sind dem Rezensenten kaum inhaltliche Versehen aufgefallen; in der Prosopographie der Ritter und Senatoren ist nachzutragen unter Ti. Claudius Sacerdos Iulianus (293-294) ein gleichnamiger Prokurator von Thracia (AE 2005, 1374), vielleicht der Vater des Senators.

Der Autor entwirft also ein Kaleidoskop aller Bereiche öffentlicher Betätigung der Pergamener Notablen und ihres familiären und wirtschaftlichen Fundaments. Leider widmet er der Hauptfrage, was nun die "Identität" dieser Oberschicht ausmacht und was sie gegebenenfalls von derjenigen anderer Städte unterscheidet, kein eigenes Kapitel, obgleich die Frage an sich klar formuliert wird (198). Im Wesentlichen schließt er sich, wie über das Buch verstreute Äußerungen vermuten lassen, der seinerzeit vom Rezensenten entworfenen Typologie der pergamenischen Notablen unter römischer Herrschaft an; deutlich wird dies, wenn auch er die Unter- oder besser: Nicht-Repräsentation von Freigelassenen bei der städtebaulichen Gestaltung (im Gegensatz zu Ephesos) feststellt (175-176) und wenn er den starken Einfluss des attalidischen Erbes auf das soziale und politische Verhalten zugesteht (240). In diesem Sinne sollte auch der Begriff "Konservatismus" der Pergamener verstanden werden und nicht, wie der Autor (204), im Sinne einer Abschottung. Selbstverständlich öffneten sich die Vornehmen Pergamons, wie fast in der ganzen griechischen Welt, den Bedingungen und Angeboten der römischen Vormacht, Politik zu betreiben. Das schließt aber nicht aus, dass sie dies in vollem Bewusstsein einer Rom ebenbürtigen großen Vergangenheit und entsprechend voller Stolz "auf Augenhöhe" praktizierten. Mit der quasi monarchischen Stellung eines A. Iulius Quadratus in Pergamon ist nicht diejenige eines herausragenden Bürgers einer beliebigen anderen griechischen Stadt vergleichbar (der Autor führt auf S. 245 einen Epameinondas aus Akraiphia in Böotien an), sondern allenfalls eines Mannes vom Typ des Atheners Herodes Atticus, der dem Kaiser in direkter Unterredung Paroli bieten konnte.

Wenn auch das Ergebnis keine wesentlich neuen Aspekte mit Blick auf die pergamenische Elite unter römischer Herrschaft bietet, so entwirft der Autor ein anschauliches, breit aufgestelltes und damit wertvolles Panorama des "Funktionierens" einer historisch und politisch herausragenden griechischen Polis in den Koordinaten römischer Herrschaftspraxis.


Anmerkung:

[1] H. Halfmann, Städtebau und Bauherren im römischen Kleinasien. Ein Vergleich zwischen Pergamon und Ephesos. Ist. Mitt. Beih. 43. Tübingen 2001. Französische Übersetzung: Éphèse et Pergame. Urbanisme et commanditaires en Asie Mineure romaine. Ausonius éditions, Scripta Antiqua 11. Bordeaux 2004.

Helmut Halfmann