Rezension über:

Alex J. Kay: The Making of an SS Killer. Das Leben des Obersturmbannführers Alfred Filbert 1905-1990, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 253 S., eine Kt., 24 s/w-Abb., 2 Tabl., ISBN 978-3-506-78693-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Henning Pieper
Uelzen
Empfohlene Zitierweise:
Henning Pieper: Rezension von: Alex J. Kay: The Making of an SS Killer. Das Leben des Obersturmbannführers Alfred Filbert 1905-1990, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31635.html


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Alex J. Kay: The Making of an SS Killer

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Bei den Männern, die als Führer der Einsatzgruppen und -kommandos der Sicherheitspolizei und des SD den Holocaust in der Sowjetunion initiierten, finden sich die unterschiedlichsten Berufe und Nachkriegswerdegänge. Keiner von ihnen vereinte jedoch in seinem Leben eine so bizarr anmutende Kombination von Umständen wie Alfred Filbert. Er verlor seinen eigenen Bruder an das NS-Regime und radikalisierte sich während des Krieges zu einem äußerst brutalen Täter. Nach 1945 wurde er als einer von wenigen Einsatzkommandoführern juristisch zur Rechenschaft gezogen und wirkte außerdem in einem Film über NS-Verbrecher mit, wobei er sich selbst spielte.

Mit The Making of an SS Killer hat der Historiker Alex J. Kay nun die Biographie eines Mannes vorgelegt, der zwar bereits in der Fachliteratur erwähnt, dessen Leben jedoch bisher nicht detailliert untersucht worden ist. Zu Recht wird eingangs darauf verwiesen, dass trotz der Fülle an Werken gerade über führende Nazis bisher erst zu drei der mindestens 75 Männer, die im Sommer 1941 Einsatzgruppen oder ihre Teileinheiten anführten, Biographien erschienen sind (8). In zehn Kapiteln entsteht ein dichtes Lebensbild auf der Basis einer guten Quellenlage, die vor allem auf den Ergebnissen umfangreicher Nachkriegsermittlungen beruht.

Alfred Filbert wurde durch den Vater, einen Beamten und ehemaligen Berufssoldaten, autoritär geprägt und wuchs in Rheinhessen, einer nach dem Ersten Weltkrieg zeitweilig französisch besetzten Grenzregion des Reiches, auf. Nach einer Banklehre studierte er Jura und engagierte sich bereits vor der Machtübernahme Adolf Hitlers für die Nationalsozialisten: 1932 trat er der SS und der NSDAP bei. Filbert entschied sich schließlich gegen eine juristische Karriere, trat stattdessen in den Sicherheitsdienst (SD) der SS ein und brachte es bis zum stellvertretenden Chef des SS-Auslandsgeheimdienstes.

Ende 1939 wurde sein Bruder Otto Filbert nach dem misslungenen Attentat Georg Elsers auf Hitler wegen einer abfälligen Bemerkung über den Diktator denunziert und inhaftiert. Heinrich Himmler persönlich befahl die Einweisung in ein Konzentrationslager nach Verbüßung der Haft; ein Punkt, dem Kay größte Bedeutung beimisst: die Strafe war zugleich eine Maßregelung Alfred Filberts, die ihn weiter radikalisierte. Nicht nur war er im Frühjahr 1941 einer von nur wenigen Männern aus der Führung der SS, die in die Planung der Vernichtung der sowjetischen Juden eingeweiht wurden; er meldete sich auch freiwillig für den Einsatz bei den aufzustellenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD.

Filberts Rolle als Führer des Einsatzkommandos 9 wird von Kay besonders detailliert nachgezeichnet. Die Einheit tötete innerhalb von vier Monaten in Litauen, Weißrussland und Russland Zehntausende vor allem jüdischer Menschen. Alfred Filbert verfügte dabei über enormen Handlungsspielraum: Er beteiligte sich nicht nur selbst an den Morden, sondern koordinierte sämtliche Abläufe, unterstützt von Untergebenen, die von ihrer radikalen Aufgabe ebenfalls völlig überzeugt waren. Als Schlüsselmomente sind dabei Massenexekutionen in den weißrussischen Städten Wilejka und Surash zu sehen. Ersteren fielen Ende Juli 1941 neben jüdischen Männern und Frauen auch erstmals Kinder zum Opfer, während in Surash wahrscheinlich erstmals eine komplette jüdische Gemeinde von Angehörigen einer Einsatzgruppe ausgelöscht wurde. [1]

In der zweiten Kriegshälfte erfuhr Alfred Filberts Karriere einen Bruch: Er wurde fälschlicherweise der Unterschlagung beschuldigt und entlassen. Nach zwei Jahren wurde er rehabilitiert und erhielt einen Posten bei der Kriminalpolizei, den er bis Kriegsende beibehielt. Sein Bruder Otto wurde nach Verbüßung der Haft 1943 in das Konzentrationslager Buchenwald eingewiesen und Ende 1944 von der Brigade "Dirlewanger", einer Strafeinheit der SS, zwangsrekrutiert. Er musste an Kampfeinsätzen in der Slowakei und Ungarn teilnehmen. Sein weiteres Schicksal ist unklar; 1951 wurde er für tot erklärt.

Die Gegenüberstellung der beiden ungleichen Brüder ist eine besondere Stärke des Werkes. Geschickt arbeitet Kay heraus, wie Alfred zunächst auf eine Stagnation seiner eigenen Karriere nach Ottos Verhaftung mit besonderem persönlichem Einsatz im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion reagierte (84). Nach dem Krieg instrumentalisierte er das Schicksal des Bruders, um auf sein eigenes Leid aufmerksam zu machen und sich zu rechtfertigen.

Alfred Filbert gelang es 1945 zunächst, unerkannt zu bleiben. Später stieg er sogar zum Direktor einer Bankfiliale in West-Berlin auf. Im Jahr 1959 jedoch wurden Ermittlungen gegen ihn und andere ehemalige Angehörige des Einsatzkommandos 9 eingeleitet. Drei Jahre später verurteilte das Landgericht Berlin ihn wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Filbert, der sich stets auf Befehlsnotstand berufen und versucht hatte, seinen eigenen Tatbeitrag herunterzuspielen, zeigte sich während der Haft uneinsichtig und stellte sich als Justizopfer dar.

Wenige Jahre vor seinem Tod war er als Schauspieler in Thomas Harlans Film "Wundkanal" und der zugehörigen Dokumentation "Nôtre Nazi" zu sehen. Damit war er der einzige verurteilte NS-Täter, der in einem Film einen Massenmörder spielte. "Wundkanal" stellt einen Zusammenhang zwischen der Roten Armee Fraktion einerseits und Filbert bzw. seinem Alter Ego "Dr. S." andererseits her. Mit diesem Projekt verfolgte Harlan das Ziel, die Fortdauer von NS-Täterbiographien in der Bundesrepublik aufzuzeigen und die Selbstmorde der RAF-Gefangenen in Stammheim als "im Namen des Staates" verübte Morde anzuprangern (132).

Kay hat eine beeindruckende Studie vorgelegt, die auf eingehenden Recherchen in Archiven und umfassender Nutzung der aktuellen Fachliteratur beruht. Seine These, in der Person Alfred Filberts hätten sich Weltanschauung und Karrierestreben zur Motivation für schreckliche Verbrechen verbunden, entspricht nicht nur dem gegenwärtigen Forschungsstand. [2] Sie ordnet außerdem durch die Einbeziehung des Schicksals von Otto Filbert die Stilisierung Alfreds als Opfer in den Kontext der Selbstwahrnehmung von NS-Tätern nach 1945 ein. Zur Erforschung des Holocaust anhand von Täterbiographien leistet das vorliegende Buch einen außerordentlich wertvollen Beitrag.


Anmerkungen:

[1] Noch ausführlicher hat Kay die Taten und den Entscheidungsprozess innerhalb des Kommandos in einem Aufsatz dargelegt: Alex J. Kay: Transition to Genocide, July 1941: Einsatzkommando 9 and the Annihilation of Soviet Jewry, in: Holocaust and Genocide Studies 3 (2013), 411-442. Der genaue Zeitpunkt der Ausweitung der Exekutionen auf jüdische Frauen und Kinder ist umstritten; siehe hierzu auch Martin Cüppers: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939-1945, Darmstadt 22011.

[2] Donald Bloxham: Motivation und Umfeld. Vergleichende Anmerkungen zu den Ursachen genozidaler Täterschaft, in: Naziverbrechen: Täter, Taten, Bewältigungsversuche, hg. von Martin Cüppers, Darmstadt 2013, 62-74.

Henning Pieper