Rezension über:

Evgeny Finkel: Ordinary Jews. Choice and Survival during the Holocaust, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, 296 S., ISBN 978-0-691-17257-6, USD 29,95
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Rezension von:
Maximilian Becker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Maximilian Becker: Rezension von: Evgeny Finkel: Ordinary Jews. Choice and Survival during the Holocaust, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 3 [15.03.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/03/32891.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Evgeny Finkel: Ordinary Jews

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Wie erlebten die Opfer ihre Verfolgung, also ihre Entrechtung, Verdrängung aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, Ghettoisierung, Zwangsarbeit und Deportation in die Vernichtungslager? Was wussten sie zu welchem Zeitpunkt von den deutschen Absichten, die nicht von Anfang an einen Völkermord zum Ziel hatten? Und wie reagierten die Opfer darauf? Diese Fragen stehen im Zentrum einer neueren Richtung der Holocaustforschung, die die Erfahrungen, das Er- und Überleben der Opfer in den Mittelpunkt rückt. Das Buch von Evgeny Finkel, Politikwissenschaftler an der George Washington University, reiht sich hier ein, will aber zusätzlich auch einen Beitrag zur Genozidforschung leisten: "What explains the different patterns of behavior adopted by civilians targeted by mass violence?" (6), beantwortet diese Frage in seiner Darstellung aber nicht umfassend.

Der Verfasser konzentriert sich in seiner Untersuchung auf die Ghettos von Minsk, Krakau und Białystok, die anders als etwa der "jüdische Wohnbezirk" von Warschau oder das Ghetto Łódź vergleichsweise weniger intensiv erforscht sind und die, wie Finkel einleuchtend darlegt, gut vergleichbar sind. In allen drei Städten war die jüdische Vorkriegsbevölkerung mit 50 000 bis 70 000 Personen annähernd gleich groß; ebenso ihr Anteil an der jeweiligen Stadtbevölkerung. Die drei Ghettos waren durch einen Zaun bzw. (im Falle von Krakau) durch eine Mauer von der übrigen Stadt getrennt, und die jüdische Bevölkerung legte, was längst nicht auf alle Ghettos zutraf, die komplette Bandbreite möglichen Verhaltens an den Tag - von der Zusammenarbeit mit den Besatzern bis hin zu offenem Widerstand. Außerdem ist die Quellenlage einigermaßen ergiebig; ein reicher Fundus an Ego-Dokumenten der jüdischen Einwohner sind Finkels wichtigste Quellengattung, er berücksichtigt unter anderem, Interviews, publizierte Memoiren und zeitgenössische Briefe.

Der Verfasser hat sich zudem die Mühe gemacht, mehrere Fachlexika, darunter die Encyclopedia of Camps and Ghettos und die Yad Vashem Encyclopedia of Ghettos during the Holocaust sowie möglichst viele Gedenkbücher jüdischer Gemeinden systematisch und für sämtliche osteuropäische Ghettos auszuwerten. Allerdings nutzt Finkel diese Daten in seiner Studie so gut wie gar nicht - lediglich in einem im Anhang (!) untergebrachten knappen Kapitel, das der Frage nachgeht, welche Faktoren zu Ghettoaufständen führten, greift er darauf zurück. Dass Finkel diese Daten nicht intensiver genutzt hat, ist allein schon aufgrund des Aufwands, den er für deren Erschließung betrieben hat, unverständlich und aus Sicht der Untersuchung höchst bedauerlich. Die drei vom Verfasser untersuchten Ghettos hätten sich so stärker in die "Gesamtlandschaft" jüdischer Ghettos im deutsch besetzten Osteuropa integrieren lassen.

Ausgehend von der Geschichte des Konzepts "Ghetto" rekapituliert Finkel die Geschichte der drei jüdischen Gemeinden vor und während der Shoah, denn Erfahrung spielt für ihn zu Recht eine entscheidende Rolle: Jüdische Gemeinden, die schon in der Zwischenkriegszeit einer diskriminierenden Gesetzgebung oder Verfolgung ausgesetzt waren, hatten bereits Erfahrung in der Untergrundarbeit und tendierten eher dazu, Widerstand zu leisten. Anschließend geht Finkel der Frage nach, was die jüdische Bevölkerung wann von den deutschen Plänen wusste und inwieweit dieses Wissen ihr Verhalten beeinflusste.

Der größte Teil der Arbeit ist der Untersuchung der Reaktionen der Ghettobewohner auf die Maßnahmen der Besatzer gewidmet. Dazu entwickelt der Verfasser eine Typologie, die traditionelle und in jüngster Zeit zu Recht kritisierte Begriffe - wie die Dichotomie von "Widerstand" und "Kollaboration" - weiterentwickelt, allerdings ohne die dazugehörige Diskussion zu rezipieren. Dementsprechend tendiert auch Finkel dazu, seine Begriffe absolut zu setzen - sie bilden seine Kapitelüberschriften: "Cooperation and Collaboration", "Coping and Compliance", "Evasion", "Resistance". Er versteht sie als Verhaltensstrategien, und gewiss sind solche Begriffe notwendig, um die Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf die Verfolgung zu beschreiben. Doch überdecken sie gleichzeitig die Bandbreite möglichen Verhaltens, indem sie es kategorisieren. Dieses Dilemma ist kaum zu lösen, wird vom Verfasser aber auch nicht reflektiert.

Auch über andere grundsätzliche Probleme einer opferzentrierten Holocaust- und Genozidforschung macht sich der Verfasser kaum Gedanken: So blendet der Fokus auf die Überlebendenberichte die Masse derjenigen aus, die kein Zeugnis über ihre Verfolgung ablegten - entweder weil sie nicht überlebten oder weil sie aus unterschiedlichen Gründen keine Auskunft über ihre Erfahrungen geben konnten oder wollten.

Zugleich ist die Einbeziehung der Forschungsliteratur in der gesamten Studie zu kurz gekommen. Das Literaturverzeichnis ist angesichts der Breite und Diversifizität einschlägiger Studien überaus schmal - tatsächlich fehlen eine ganze Reihe wichtiger Studien, etwa Saul Friedländers bahnbrechendes Werk 'The Years of Extermination 1939-1945' oder Yitsak Arads Untersuchung 'The Holocaust in the Soviet Union'. Überhaupt hat Finkel, wahrscheinlich aufgrund fehlender Sprachkenntnisse, die deutschsprachige Holocaustforschung vollständig außen vor gelassen. Das führt auch zu Fehleinschätzungen, etwa wenn er beklagt, es gäbe zwar eine Reihe von Makro- und Mikrostudien, doch sei die Mesoebene noch nicht untersucht. Dieter Pohl, Jacek Młynarczyk, Robert Seidel oder Michael Alberti haben jedoch schon vor Jahren Studien zu einzelnen Distrikten des Generalgouvernements beziehungsweise zum Warthegau vorgelegt, sodass zwischenzeitlich schon kritisch angemerkt wurde, dass bei den Regionalstudien ein Redundanzproblem bestehe.

Das abschließende Urteil fällt zwiespältig aus: Einerseits ist Finkels Studie aufgrund der intensiven Nutzung von Überlebendenberichten und der Konzentration auf die vergleichsweise wenig untersuchten Ghettos von Minsk, Krakau und Białystok wichtig und in dieser Hinsicht lesenswert - die stärksten Stellen sind die, in denen der Verfasser die Aussagen der Opfer wiedergibt. Doch andererseits schmälern die genannten methodischen Schwächen, die letztlich ungenügende Quellenbasis und die mangelnde Rezeption der umfangreichen deutschsprachigen Forschung den Wert des Buches erheblich.

Maximilian Becker