Rezension über:

Johannes Paulmann (ed.): Humanitarianism and Media. 1900 to the Present (= New German Historical Perspectives; Vol. 9), New York / Oxford: Berghahn Books 2019, X + 305 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-1-78533-961-5, USD 130,00
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Rezension von:
Claudia Moisel
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Moisel: Rezension von: Johannes Paulmann (ed.): Humanitarianism and Media. 1900 to the Present, New York / Oxford: Berghahn Books 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/32639.html


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Johannes Paulmann (ed.): Humanitarianism and Media

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'March for the survival of Cambodia': Eine zunächst ungewohnte Perspektive auf die Frage nach den Menschenrechten ist es, die der vorliegende Sammelband zum Untersuchungsgegenstand gewählt und in der Folge auf den Titel gehoben hat. Denn nicht die in der Bildunterschrift genannten Experten der 1971 gegründeten Hilfsorganisation 'Médecins Sans Frontières' finden sich auf dem Cover abgebildet, auch nicht spezifische Praktiken der Erstversorgung ziviler Opfer im militärischen Konflikt der vietnamesischen Republik gegen den mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Regierungschef Pol Pot im benachbarten Kambodscha. Vielmehr sind es die Berichterstatter, die Fotografen und Bildreporter selbst, welche im Februar 1980 die Nachricht von einer Hilfsaktion prominenter Aktivisten (darunter die Sängerin Joan Baez, die Schauspielerin Liv Ullmann und der Holocaust-Überlebende Eli Wiesel) in die Welt trugen, die im Fokus der Aufnahme stehen. Dem sogenannten 'Celebrity Humanitarianism', der mit dem 'Band Aid'-Projekt von Bob Geldof in den 1980er Jahren einen neuen Höhepunkt erreichte, widmet im vorliegenden Sammelband Matthias Kuhnert ein eigenes Kapitel: ein Must-Read nicht nur für jene, die den Benefizsong (Position eins der Singlecharts unter anderem in Deutschland und Österreich, Großbritannien und den USA) 1984 eigenhändig auf einer Hörspielkassette der Marke Philips archiviert haben.

Dass die 'Agenten der Bilder' (Annette Vowinckel) ihre eigene und im vorliegenden Fall zumindest auf den ersten Blick wenig spektakulär anmutende Arbeit dokumentiert haben, ist erstaunlich genug, wenn auch die enge Verknüpfung von Heldenepos und Kriegsberichterstattung eine literarische Tradition begründet hat. [1] Nicht dem kulturellen Bildgedächtnis, seinen Konturen und Ikonen, wie sie in den vergangenen Jahren Gerhard Paul verstärkt in den Mittelpunkt historischer Analysen gestellt hat, gilt deshalb die besondere Aufmerksamkeit der im vorliegenden Band versammelten AutorInnen, vielmehr den Fotografen und Bildredakteuren (in erster Linie) als Akteuren der Zeitgeschichte eigenen Rechts und den politischen und institutionellen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit, sofern sie sich dem weiteren Kontext moderner Menschenrechtspolitik verpflichtet fühlten. Und um es gleich vorwegzunehmen: Was in diesem Zusammenhang nicht in den Blick kommt, sind nicht zuletzt Verträge und Vereinbarungen; Internationales Strafrecht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte; wie überhaupt das ganze Feld juristischer Expertise und paragraphengesättigter Gelehrsamkeit, welches seine vornehmste Aufgabe vorrangig in der umsichtigen Bearbeitung analog geführter Ermittlungsakten findet und für die große Leinwand schon immer nur bedingt geeignet war.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Überlegungen stehen vielmehr die Formenvielfalt visueller Medien sowie Nichtregierungsorganisationen, darüber hinaus Kinder als Motive ihrer Kampagnen. Wie auch die sorgfältige Problematisierung des Umstandes, dass eben jene Bildsprache, welche das Mitleid mit den Opfern größter Not als Voraussetzung zivilgesellschaftlichen Engagements begreift, diese vielfach auf stereotype Rollen reduziert hat, so dass es in der Folge schwierig bis unmöglich scheint, sie zugleich als Subjekte mit Agency zu fassen. 'Promoting Distant Children in Need': Überzeugend kann Katharina Stornig darlegen, dass die in diesem Spannungsverhältnis angelegte Problematik sich bis in die lange Jahrhundertwende und die frühe Bildpolitik christlicher Wohltätigkeit zurückverfolgen lässt (50). Und einmal mehr erweist sich der Spanische Bürgerkrieg als bedeutsame Zäsur, das Engagement der Fotografen für die republikanische Sache dort als stilbildend für das Bildprogramm der Internationalen Organisationen nach dem Krieg, wie Rose Holmes im Anschluss an jüngere Arbeiten von Heide Fehrenbach argumentiert und dabei in besonderer Weise bemüht ist, zwischen der Bildpolitik humanitärer Organisation und Pressefotografie andererseits sorgfältig zu differenzieren. "Showing photographs of dead or injured children was to declare your organization as left wing. Humanitarian agencies, operating on the principle of political neutrality, chose to represent children in a very different way", so ihr Fazit (70).

Für die Bundesrepublik hat Patrick Merzinger die Fragestellung aufgegriffen und konzentriert sich in seiner Analyse medialer Öffentlichkeiten nicht zuletzt auf die Berichterstattung zur Hungerkatastrophe im postkolonialen Biafra (1968), die er als den Beginn einer zunehmend kurzlebigen Empörungsindustrie identifiziert, auch in ihren außenpolitischen Verflechtungen: "The media could not depict aid efforts that aimed at sustainable, slow development" (240). 1968 hatte auch schon Gerhard Paul als bildpolitische Zäsur beschrieben und den Verlust an den Glauben vom authentischen Gehalt fotografischer Bilder im Kontext des Vietnamkriegs auf diese Jahre datiert. Biafra spielte in seinem Zusammenhang dagegen keine Rolle, verschwand spurlos hinter den Ikonen der Protestbewegung und vietnamesischen 'Killing Fields'. Die spezifische Stärke des gewählten Zugriffs zeigt sich bei Paulmann damit auch insofern, als sichtbar wird, welche Perspektiven, Themen und Akteure verborgen bleiben müssen, wenn die Historisierung visueller Impulse lediglich auf die bekannten und vielfach als 'Ikonen' benannten Bilder beschränkt bleibt.

Die späten sechziger Jahre identifiziert in ihrem Beitrag auch Valérie Gorin als Wendezeit, betont dabei stärker jedoch die Rolle der Fernsehsender als 'neue' Medien. 'How to Engineer an International Event': Die Öffentlichkeitsarbeit britischer und französischer NGOs in ihrer zunächst engen Anbindung an die Kampagnen der UN der vergleichenden Analyse unterziehend (und auch Heike Winters siedelt ihre Überlegungen zur 'Food and Agriculture Organization' in diesem Spannungsfeld an), analysiert Gorin den 'March on Cambodia' als Schlüssel zum Verständnis eines spezifischen Kampagnenstils, der auf die breite Einbindung prominenter Persönlichkeiten aus dem Film- und Literaturbetrieb setzte und vor klaren politischen Stellungnahmen keinen Halt machte. Auf mögliche Fragen nach vietnamesischen Reaktionen auf eine Intervention französischer Intellektueller in den vormaligen Kolonien hat sie dabei verzichtet. Wie überhaupt die humanitäre Hilfe in ihren Verflechtungen mit kolonialer Erinnerung dem Sammelband als offene Frage erhalten bleibt. Die besondere Stärke von Gorins Zugriffs erweist sich dagegen bei der Analyse der auch von Kuhnert untersuchten Kampagnen im Angesicht der äthiopischen Hungerkrise (1984). Indem sie die zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort in ihrer Vielfalt zeigt, auch in ihren gegenseitigen Wahrnehmungen und Konflikten, wird die Arbeit der Hilfssorganisationen und Hilfsprogramme als ein genuin transnationales Feld sichtbar, während die Rezeptionsgeschichten nationalen Sonderpfaden stärker verpflichtet blieben: Für die französische Öffentlichkeit der achtziger Jahre war Bob Geldof nie mehr als nur eine Fußnote, für die humanitäre Kommunikation britischer NGOs in diesem Zusammenhang dagegen die Zentralfigur.

Als 'Entangled' analysiert Paulmann in seinen einleitenden Überlegungen humanitäre Praxis und mediale Repräsentation in ihren spezifischen Verschränkungen, Wechselwirkungen und gegenseitigen Einflussnahmen. In diesem Zusammenhang hat die bereits vielfältig erforschte Fotoausstellung 'The Family of Man' (1955) weiterhin als bedeutende Zäsur zu gelten. In der Tradition französischer 'Photographie Humaniste' wie auch amerikanischer Dokumentarfotografie der Zwischenkriegszeit gleichermaßen stehend, hatte Edward Steichen am 'Museum of Modern Art' (MoMA) maßgeblich zur Kanonisierung der neuen und - zumindest im Selbstverständnis der Kuratoren - universalen Bildsprache beigetragen: 500 Bilder, Fotografen aus mehr als 80 verschiedenen Ländern, über neun Millionen Besucher lassen rückblickend zwar die Ausstellung als ein zeitgenössisch in seinen Dimensionen außergewöhnliches Medienereignis erscheinen; die Zuschauerzahlen der erfolgreichen Sissi-Trilogie mit Romy Schneider jedoch, die zeitgleich auf die Leinwand kam, bewegten sich laut Wikipedia im selben Zeitraum zwischen 20 und 25 Millionen. Ob wir also Bilder, die heute am Kunstmarkt gehandelt werden, in ihrer zeitgenössischen Wirkung möglicherweise überschätzen, hat Tobias Weidner nicht gefragt, betont in seinem Beitrag dagegen die in Selbstzeugnissen vielfach bezeugte Sprachlosigkeit der Fotografen im Angesicht nationalsozialistischer Konzentrationslager, welche in den Entwürfen der MoMA-Macher von einer besseren Welt konsequent ausgeblendet blieben: "Steichen consciously chose this optimistic bias" (158).

Gleich drei der Beiträge widmen sich den Bildern von Krieg und Nachkrieg, wobei Daniel Palmieri die vom Internationalen Roten Kreuz produzierten Filme aus den Jahren 1921 bis 1965 als ein in erster Linie der Selbstrepräsentation dienendes Medium in den Blick nimmt. Dem Bedürfnis, Zeugnis abzulegen, seien dagegen die alliierten Filme von der Befreiung der Konzentrationslager verpflichtet, so Ulrike Weckel über die ethische Dimension der zeitgenössischen Opferikonografie. Mit Paul Betts schließlich erweist sich, wie zentral die britischen Bilder vom Leben in deutschen Ruinen nach 1945 (darunter Fotografien des pazifistischen Verlegers Victor Gollancz) für den allmählichen Umschwung der öffentlichen Meinung dort und die schrittweise Annäherung der vormaligen Kriegsgegner gewesen sind.

Noch ist nicht gesagt, dass die Medienwissenschaften langfristig sich einverstanden erklären, damit als Impulsgeber fürderhin den empirischen Geschichtswissenschaften ihre unverbindlichen Theorieangebote zu unterbreiten (denn auch so ließe sich die Einleitung möglicherweise lesen). Und während die Fotografen - exemplarisch hier die Biografien von David Seymour und Robert Capa als Gründungsmitglieder der einflussreichen Fotoagentur 'Magnum' (seit 1947) - in ihrem Anspruch, die ganze Welt in den Blick zu nehmen, grundsätzlich kosmopolitisch agierten, blieb doch ihr Sehepunkt ein westlicher. Das gilt auch für die Mehrzahl der hier versammelten Beiträge, von den sehr lesenswerten Ausführungen zur palästinensischen 'Red Crescent Society' von Ilana Feldman abgesehen. Damit aber kommen koloniale und private Bildarchive nicht in den Blick (alleine Holmes macht am Rande auch das britische 'Empire' zu ihrem Thema), auch nicht spezifische Aneignungsformen der Fotografie im 'Globalen Süden', wie sie jüngst Stefanie Michels in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt hat. [2] Die Asymmetrie der Beziehungen ("the uneven relationship between European and Western societies on the one hand and large parts of the rest of the world on the other"), so dagegen Paulmann in seiner Einleitung, sei im Untersuchungszeitraum - der im Wesentlichen das 'lange' 20. Jahrhundert umfasst - das konstitutive Merkmal westlicher Menschenrechtspolitik und ihrer medialen Verarbeitung gewesen (24).

Eindimensionale Narrative von einer gewissermaßen feindlichen Übernahme des Menschenrechtssektors durch die Massenmedien und ihre vielfach kommerziellen Interessen geschuldete Logik seit den 1980er Jahren ('mediatization') hält er dagegen für widerlegt - und das ist am Ende der eigentliche argumentative Kern seiner einführenden Überlegungen. Damit aber erweisen sie sich in ihrer Reichweite als methodisch grundlegend und weisen über eine Geschichte des Humanitarismus im engeren Sinn weit hinaus. Indem die hier vorliegenden Beiträge 'die Medien' und damit Fragen nach ihrer Materialität, nach Entstehungskontext und Rezeption - 'Distant Suffering and the Question of (In)Action' analysiert für die Gegenwart Maria Kyriakidou als grundsätzliches Dilemma jeder Katastrophenhilfe - in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rücken, stellen sie zugleich etablierte Narrative einer Geschichte des 20. Jahrhunderts auf den Prüfstand. Thomas Lindenberger hat diesen Umstand zu einem sehr frühen Zeitpunkt schon einmal zum Thema gemacht, indem er audiovisuelle Quellen als methodische Herausforderung beschrieben, zugleich die damit verbundene Infragestellung politikgeschichtlicher Zäsuren thematisiert hat. Nationalsozialistische Konzentrationslager und der Luftkrieg, Hungerkatastrophen im Postkolonialismus und der Spanische Bürgerkrieg, die sich der vergleichenden Analyse aus guten Gründen entziehen, durch Ländergrenzen, sprachliche Barrieren oder fachliche Spezialisierung in der Regel getrennt bleiben, haben hier die Bilder vom 'Leiden anderer' (Susan Sontag) als gemeinsamen Bezugspunkt. Nicht nur den Spezialisten der Menschenrechte (wie auch der 'Childhood Studies') sind die vorliegenden Überlegungen deshalb zu empfehlen, auch nicht den Adepten der Fotografiegeschichte allein: Im Zeitalter visueller Kommunikation hat in Theorie und Praxis der Historischen Bild- und Medienkunde der Sammelband neue Maßstäbe gesetzt. Und keine Metatheorie der Kommunikation - das erweisen die breit gefächerten Fallstudien - kann das komplexe Wechselverhältnis zivilgesellschaftlichen Engagements, von Menschenrechtspolitik und ihrer medialen Verarbeitung abschließend erklären: Es ist kompliziert, denn - um einmal mehr mit Thomas Nipperdey zu sprechen - die Farben der Geschichte sind noch immer grau.


Anmerkungen:

[1] Zur Biografie der Kriegsfotografin Gerda Taro vgl. Helena Janeczek: Das Mädchen mit der Leica, Berlin 2019.

[2] Sissy Helff / Stefanie Michels (eds.): Global Photographies. Memory - History - Archives (=Image; 76), Bielefeld 2018.

Claudia Moisel