Rezension über:

Michael Ploetz / Matthias Peter / Jens Jost Hofmann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1988, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, 2 Bde., XCVIII + 2105 S., ISBN 978-3-11-060428-3, EUR 149,95
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Rezension von:
Jost Dülffer
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Jost Dülffer: Rezension von: Michael Ploetz / Matthias Peter / Jens Jost Hofmann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1988, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/33330.html


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Michael Ploetz / Matthias Peter / Jens Jost Hofmann (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1988

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"Mit den Jahresbänden 1988 wird zum sechsundzwanzigsten Mal eine Sammlung von Dokumenten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes unmittelbar nach Ablauf der 30jährigen Aktensperrfrist veröffentlicht", schreibt Hauptherausgeber Andreas Wirsching mit berechtigtem Stolz im Vorwort. Berechtigt; denn damit halten sich die AAPD auch im internationalen Vergleich an der Spitze der qualitätvollen Editionen.

1988 war ein Übergangsjahr: Gorbatschow war lange genug im Amt, so dass man ihn einschätzen konnte; die Ereignisse des folgenden Jahres, kulminierend mit dem Mauerfall waren nicht einmal ansatzweise absehbar, aber jeder Leser ist auf die damaligen diplomatischen Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen der Protagonisten neugierig. Der bayerische Ministerpräsident Strauß meinte im Januar, Gorbatschow wolle "nicht das kommunistische durch ein demokratisches ersetzen", sondern diese "lebensfähig und effizient" machen (in Südafrika, Nr. 28); Bundeskanzler Kohl äußerte sich bisweilen ähnlich, argumentierte aber ebenfalls schon im Januar gegenüber dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse, man sei gegenüber den "neuen Denken" offen, "wobei wir allerdings Realisten blieben und wüssten, was gehe und was nicht"; man wolle einen "neuen Anfang" machen (Nr. 22). Derartige, offene Diskussionen zogen sich im westlichen Bündnis auf vielen Ebenen, aber auch in der Bundesregierung durch das ganze Jahr hindurch. Man suchte auf dieser Basis Kooperationsmöglichkeiten auszuloten. Seit Februar (Gespräch Ministerpräsident Späth-Gorbatschow, Nr. 57) überlegte und formulierte man an einer deutsch-sowjetischen Erklärung, die jedoch die BRD in der Bündnissolidarität belassen musste.

Jedenfalls wuchs das Vertrauen in die künftigen Möglichkeiten mit dem Generalsekretär, aber es begann die Skepsis, ob Gorbatschow seine Vorhaben innenpolitisch wohl durchsetzen könne. Vor allem Botschafter A. Meyer-Landrut aus Moskau lieferte differenzierte Analysen über die inneren Entwicklungen, inklusive der in den baltischen Republiken. In ähnlicher Form finden sich mehrere Berichte über die Entwicklung in Polen, inkl. eines Gesprächs mit Lech Walesa (Nr. 249). Ähnliches lässt sich auch für die anderen ostmitteleuropäischen Staaten berichten, so dass ein dichtes Bild vom Geflecht der Entwicklungen politischer und gesellschaftlicher Strukturen entstand, ergänzt und überprüft durch sehr viele andere, bilaterale Gespräche Kohls, Genschers und anderer Diplomaten, die sich wiederum über die jeweilige Einschätzung mit ausländischen Gesprächspartnern unterhielten. Auch und gerade die DDR - hier stechen die Berichte des Ständigen Vertreters, Bräutigam, hervor - ging es um Stabilität und mögliche Entwicklungen (Kohl mit u.a. einem US-Diplomaten: "Honecker mache eine Gratwanderung: Er wolle die wirtschaftlichen Vorteile, wolle gleichzeitig die Dinge unter Kontrolle halten. Unser Ziel könne es nicht sein - so der BK weiter -, dazu beizutragen, dass die Lage in der DDR explodiere" (Nr. 170). Als neues Symptom kamen DDR-Bürger hinzu, die in der BRD-Vertretung in Ost-Berlin oder anderen Botschaften "vorsprachen", Asyl suchten. Man suchte die Zahl der ausreisewilligen DDR-Bürger zu schätzen; doch das lag völlig im Dunklen (Nr. 317: 200-300 000; Nr. 324 Kohl: 900 000).

Das neue Ost-West-Vertrauen beruhte wesentlich auf dem Ende 1987 geschlossenen Vertrag über die Begrenzung von Mittelstreckenraketen (INF). Verhandlungen setzten sich fort in den KRK-Gesprächen über konventionelle Rüstungen: angesichts großer sowjetischer Überlegenheit kamen Moratorien oder prozentuale Begrenzungen kaum infrage, man riet Moskau zu einseitigen Maßnahmen. Die NATO strickte an einem neuen Sicherheitskonzept; in der BRD machte sich vor allem Ministerialdirektor Citron an entsprechende nationale Ausarbeitungen, auch zur "kooperativen Sicherheit" zwischen Ost- und West (Nr. 308). Eine Wiedervereinigung schien weit. US-Präsident Reagan meinte seinerseits, Gorbatschow finde den deutschen Status quo "ausgezeichnet", aber die Wiedervereinigung werde kommen, worauf Genscher abwiegelte (Nr. 24). Vertrauensbildung bedeutete aber vor allem die KSZE-Folgekonferenz von Wien, von der Botschafter E. Eickhoff (bis August) luzide Zusammenfassungen komplexer Materien lieferte. Menschenrechte kamen nicht nur hier zur Sprache, sondern in noch nie dagewesener Breite und auf allen Kontinenten, auch im Ost-West-Verhältnisse spielten diese Menschenrechte eine substanzielle Rolle, so etwa, wenn Kohl brieflich gegenüber Gorbatschow deren Zentralität in einer neuen Friedensordnung betonte (Nr. 114). Das hatte es so noch nicht gegeben; dennoch blieb man in Bonn skeptisch über eine künftige internationale Menschenrechtskonferenz in Moskau, bei der man eher die innenpolitische Funktion für den Generalsekretär zu erkennen glaubte.

Naturgemäß sind die Gesprächsaufzeichnungen von Kanzler und Außenminister am nachhaltigsten; sie umfassen bisweilen an die 20 Druckseiten. Wenn nicht alles täuscht, war der Kanzler in diesem Jahr besonders aktiv, auch mit Gesprächen mit Regierungschefs aus vielen anderen Ländern. Nicht alle Gesprächsaufzeichnungen des Kanzleramtes bekam auch Genscher zu sehen (Nr.31, Nr. 83), in einem weiteren Fall erst zwei Monate später.

Kohl geriet des Öfteren mit Thatcher in Clinch, verabredete gar mit Mitterrand, ohne sie weiter zu prozedieren (Nr. 83). Parallel zu diesen Streiflichtern der weltpolitischen Entwicklung in Deutschland und Europa ist hervorzuheben: Es fehlt keine Weltregion. Besonders wichtig wurde Südafrika, aber auch die Situation um die angrenzenden Namibia, Mozambique sowie Angola und damit Apartheid- und Rassenfragen. Großes Gewicht wird auch auf Mittel- und Südamerika gelegt. Im Nahen Osten spielten Israel, Öl, Waffenlieferungen, die Frage chemischer Waffen, der iranisch-irakische Krieg untereinander verbundene Konfliktherde. Einiges Gewicht wird auf kulturelle Fragen und Vergangenheitspolitik gerichtet (jüdisches Gedenken in New York; Jenninger-Rede), der Philosoph Hans Jonas wird als intellektuelle Leitfigur gelobt (Nr. 121: Öffentlichkeit und Menschenbild - Citron); es wird eine Einschätzung Heideggers im Lichte von Victor Farias gegeben (Nr. 45). Generalkonsul Steinkühler handelt in Sachen deutscher Kriegsverbrechen in Italien einseitig (Nr. 27). Es geht um Bundesländer und deren Rolle in der Außenpolitik (Nr. 241- Pleuger). IT-Fragen, chemische Waffen kommen breit auf. Sogar mit Glyphosat in Guatemala (aufgrund der Eingabe einer Schülergruppe!) beschäftigt man sich schon einmal (Nr.319). Es ist ein Verdienst der Edition, dieses breite Panorama zu eröffnen; ob alles zwingend hineingehört, lässt sich nicht gut beurteilen. Jedenfalls: Außenpolitik ist keine Sache allein von Elitengesprächen mehr.

Die Edition ist wie immer vorzüglich gearbeitet, erschließt vor allem in den Fußnoten neben Sachverhalten noch weitere Quellen, die im PA/AA zugänglich sind, aber auch weitere ältere Verträge, Abmachungen, die bereits vorliegende US-Edition zu Teilen des Themas. Das ist ebenso eindrucksvoll wie Namen- und Sachregister hilfreich sind. Die Dokumententitel sind in vorangegangenen Besprechungen wiederholt kritisiert worden (zuletzt: http://www.sehepunkte.de/2019/07/33186.html). Hier nur abschließend ein Beispiel: Nr. 268 titelt "Botschafter Disdorn, Luanda, an das Auswärtige Amt". Im Dokument selbst heißt es als Betreff: "Gespräch BM Genscher/SWAPO Chef Nujoma". Ein Leser nimmt also zunächst einmal an, dass sich Genscher in Angola mit dem Chef der südwestafrikanischen (namibischen) Befreiungsfront getroffen habe. Weit gefehlt jedoch: Nujoma ist offenbar sauer, dass er keinen Termin mit Genscher bekommen hat und bezichtigt den westdeutschen Botschafter Disdorn in der angolanischen Hauptstadt u.a. ausführlich der Waffenzusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und der Südafrikanischen Union. Das kann man schon nutzerfreundlicher edieren. Aber das sind Petitessen.

Jost Dülffer