Rezension über:

Klaus Kellmann: Dimensionen der Mittäterschaft. Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich, 2., durchgesehene Auflage, Wien: Böhlau 2019, 666 S., ISBN 978-3-205-20053-6, EUR 50,00
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Rezension von:
Grzegorz Rossoliński-Liebe
Freie Universität Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Rezension von: Klaus Kellmann: Dimensionen der Mittäterschaft. Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich, 2., durchgesehene Auflage, Wien: Böhlau 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 11 [15.11.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/11/32692.html


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Klaus Kellmann: Dimensionen der Mittäterschaft

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Die Kollaboration mit dem 'Dritten Reich' wird bis heute in Deutschland und auch vielen anderen Ländern als ein politisches Thema verstanden und nur unsystematisch erforscht. Auch als vor etwa 30 Jahren der Holocaust immer mehr ins Zentrum der deutschen Geschichte zu rücken begann, wurden die verschiedenen Arten der Zusammenarbeit weiter als ein marginaler Aspekt der Holocaust- und Besatzungsgeschichte verstanden und als ein Nebenthema behandelt. Aufgrund dieser Entwicklung verdient Klaus Kellmans Studie besondere Beachtung. Indem sie das Ausmaß der Kollaboration und ihre Bedeutung für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und Judenmordes zeigt, hinterfragt sie die institutionell und mental verankerten Vermeidungsmechanismen in der historischen Forschung. Gleichzeitig müssen jedoch die Grenzen der Publikation aufgezeigt werden, weil Kellmann ein komplexes und wichtiges Thema überwiegend oberflächlich und sensationalistisch bearbeitete.

Klaus Kellmanns Studie besteht aus 25 Kapiteln, von denen 24 europäischen Ländern gewidmet sind. Darunter finden sich besetzte Länder wie Litauen und Polen, politisch kollaborierende Staaten wie Rumänien und Ungarn und neutrale Länder wie die Schweiz und Schweden. Die staatenorientierte Herangehensweise an die Kollaboration wirft jedoch einige konzeptuelle Fragen auf und lässt analytische Defizite erkennen. Zwar funktionierten viele von Kellmanns berücksichtigten Länder wie Rumänien, Frankreich oder die Schweiz vor dem Zweiten Weltkrieg als Staaten, aber einige wie die Ukraine nicht. Aus einigen Staaten wie die Tschechoslowakei entstand 1939 die Slowakei und aus Jugoslawien 1941 Kroatien, die beide eine wichtige Rolle in der Geschichte der europäischen Kollaboration spielten, aber nicht in eigenen Kapiteln behandelt werden. Im Wartheland und dem Generalgouvernement lebten zwar überwiegend Polen und im Distrikt Galizien und im Reichskommissariat Ukraine überwiegend Ukrainer, aber aufgrund der politischen Umstände verlief die Kollaboration in diesen Verwaltungsgebieten grundsätzlich anders. Kellmanns staatorientierte Herangehensweise berücksichtigt diese für die Geschichte der Kollaboration wichtigen Unterschiede leider zu wenig.

Gelungener ist die theoretische Auseinandersetzung mit der Kollaboration. Kellmann versteht Kollaboration als spezifische Verhaltensweise, die Akteure in besetzten, politisch kollaborierenden und neutralen Ländern verband, ohne dass sie direkt in Kontakt miteinander kamen oder etwas voneinander wussten. Er weist auf die Asymmetrie der Kollaboration hin, die sie von der "Kooperation" unterscheidet: "Kollaboration ist immer eine Form der Zusammenarbeit, aber nie zwischen gleichberechtigten oder gleichwertigen Partnern". Er macht ebenso klar, dass Kollaboration ein moralischer und normativer Begriff ist, weshalb seine Verwendung besonderer Vorsicht und konzeptueller Überlegungen bedarf. Ebenso macht er deutlich, dass eine scharfe und funktionale Definition des Begriffs praktisch unmöglich ist, weil die Kollaboration sich auf den unterschiedlichsten kulturellen, sozialen und politischen Ebenen des alltäglichen Lebens vollzog.

Nicht weniger interessant ist die Diskussion der Kollaborationsforschung und ihre Bedeutung für die Geschichte Europas im Schlusskapitel. Wegen des globalen Aufstiegs von Populismus, Nationalismus und Neokonservatismus ist die Erforschung der Kollaboration neben der Geschichte des Holocaust, Faschismus und Gewalt zentral. Da die transnationalen und lokalen Dimensionen des Holocaust immer mehr in Vergessenheit geraten und Kollaborateure europaweit in politischen und leider immer öfter in geschichtswissenschaftlichen Diskursen zu Widerstandskämpfern oder Opfern der deutschen Besatzung uminterpretiert werden, gebührt der Kollaboration zweifellos eine besondere Aufmerksamkeit, die sie bis heute aber nur ansatzweise erhält. Die von Kellmann zusammengestellten Zahlen der in westeuropäischen Ländern stationierten Deutschen und auch der Nichtdeutschen, die in der Wehrmacht dienten, machen das Ausmaß der Kollaboration deutlich. Diese Zahlen erinnern uns daran, dass besonders 1941/42 nur wenige deutsche Soldaten, Polizisten oder Beamte nötig waren, um ein Land zu okkupieren, und ebenso daran, dass die deutsche Armee wie auch die Besatzungsverwaltungen grundsätzlich multiethnisch waren.

Die Lektüre der einzelnen Kapitel ist überwiegend enttäuschend. Alle wurden fast ausschließlich anhand deutscher und englischsprachiger Publikationen bzw. Übersetzungen geschrieben. Kellmann eignete sich zwar viel Wissen an, aber er ist leider trotzdem nicht in der Lage, zumindest bei einem Teil der untersuchten Länder wichtige Fragen zu formulieren und Ergebnisse der neueren Forschung zu präsentieren, was man von einer Überblicksstudie erwarten würde. Im Kapitel über die Ukraine finden sich mehrere falsche Angaben und sensationalistische Beschreibungen, die bestimmte Aspekte der Kollaboration mehr vernebeln als erklären. Das Kapitel über Polen enthält zwar wichtige Informationen über die politische Kollaboration und die Rolle des Antisemitismus, aber für das Verhalten von Polen im Holocaust insgesamt trägt Kellmann nur einige Beobachtungen von Historikern und Journalisten zusammen, ohne etwas Neues zu präsentieren und ohne der Leserschaft einen instruktiven Überblick über die Kollaboration in diesem Land zu präsentieren.

Die Studie ist ein wichtiger, aber nur teilweise gelungener Versuch, die Geschichte der europäischen Kollaboration zu schreiben. Das Buch deutet zwar das Ausmaß des Phänomens an und zeigt seine Relevanz für die Geschichte Europas auf, aber es bietet zu wenig vertiefende, analytische Einblicke, keinen Überblick über die neuen Forschungsfelder und arbeitet die transnationalen Dynamiken zu wenig heraus. Weil Kellmann notwendige Kenntnisse fehlen und weil er die einzelnen Forschungsfelder nicht überblickt, neigt er zu sensationalistischen und ausschweifenden Darstellungen. Die Erforschung einer breit definierten Kollaboration bedarf, wie diese Studie zeigt, eines internationalen Teams von Experten, die transnationale Dynamiken auf verschiedenen Ebenen ebenso wie Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Verwaltungsgebieten herausarbeiten könnten.

Grzegorz Rossoliński-Liebe