Rezension über:

Sonja Köntgen: Gräfin Gessler vor Gericht. Eine mikrohistorische Studie über Gewalt, Geschlecht und Gutsherrschaft im Königreich Preußen 1750 (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz - Forschungen; 14), Berlin: Duncker & Humblot 2019, VIII + 291 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-428-15234-6, EUR 89,90
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Rezension von:
Heide Wunder
Bad Nauheim
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Heide Wunder: Rezension von: Sonja Köntgen: Gräfin Gessler vor Gericht. Eine mikrohistorische Studie über Gewalt, Geschlecht und Gutsherrschaft im Königreich Preußen 1750, Berlin: Duncker & Humblot 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 1 [15.01.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/01/33091.html


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Sonja Köntgen: Gräfin Gessler vor Gericht

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Als "Bauernschinder" bezeichnete Johannes Ziekursch Graf und Gräfin Gessler. Das widerrechtliche und gewalttätige Verhalten des Grafen gegenüber den Bauern hat er selbst in seiner kritischen Darstellung der schlesischen Agrargeschichte (1915) nachgewiesen.[1] Bei Gräfin Eleonora (1695-1774), die mehr als zehn Jahre einen Teil der Gesslerschen Güter im Königreich Preußen ("Ostpreußen") selbständig bewirtschaftete, ging es aber um mehr als um adlige Willkür und Gewalt. Sie wurde 1750 wegen der "grausamen" und "unmenschlichen" Züchtigung ihrer 19-jährigen Magd Anna Deppin mit Todesfolge zunächst zu fünf Jahren Haft und dem Entzug der Gerichtsbarkeit verurteilt; ein Urteil, das auf Veranlassung von König Friedrich II. in ein Todesurteil verwandelt wurde, dem sich die Gräfin jedoch durch Flucht entzog. Ihr Gerichtsprozess, der zeitgenössisch großes Aufsehen erregte, in der Fachliteratur hingegen - abgesehen von Ziekursch - bislang nur in den Fußnoten (z. B. bei Stadelmann, Aubin, Hennig) auftaucht, hat nunmehr Sonja Köntgen erstmals ausgewertet, methodisch geleitet von den Fragestellungen und Konzepten der Gewalt- und Geschlechterforschung.

Ziel der Studie ist ein Beitrag zur Vielfalt der Gutsherrschaftsgesellschaften ausgehend vom Beispiel des Adelshofs Perkau mit den zugehörigen Gütern in den Hauptämtern Preußisch Eylau und Bartenstein (südöstl. von Königsberg). Da die meisten Gutsarchive des ostpreußischen Adels verloren sind, bieten die umfangreichen Akten des Prozesses gegen Eleonora Gräfin Gessler die seltene Möglichkeit, Einblicke in die Funktionsweisen der Gutsherrschaft im östlichen Ostpreußen zu gewinnen, wobei die Erbuntertanen (Bauern, Gärtner, Instleute und das Hofgesinde) mit ihren Sichtweisen ebenso zu Wort kommen wie die angeklagte Gutsherrin. Ergänzend werden die archivalische Überlieferung zur Personen- und Gütergeschichte sowie die Fachliteratur zur Verwaltungs- und Rechtsgeschichte herangezogen.

Die Stärke der Untersuchung liegt in der Offenlegung und "dichten Beschreibung" von häuslicher Gewalt als Teil der Gutsherrschaft im östlichen Ostpreußen. Die Zeugenaussagen dokumentieren die erschreckenden Einzelheiten und das Ausmaß der Züchtigungen des weiblichen Hofgesindes, wobei die Gräfin teilweise selbst Hand anlegte, aber auch die Selbstverständlichkeit und Akzeptanz der physischen Strafpraxis. Doch die Gräfin überschritt die Grenzen des Erträglichen, so dass sich die Mägde ihr durch die Flucht zu entziehen suchten, meist erfolglos, da sie in der Gutslandschaft des östlichen Ostpreußen von den benachbarten Gutsherren wieder ausgeliefert wurden und nach ihrer Rückkehr harte Strafen zu erwarten hatten. Eltern, Geschwister und nahe Verwandte der Geflohenen wurden in die Bestrafung einbezogen, bis die Geflohene zurückgekehrt war. Das ging so weit, dass Väter selbst die verhängte Prügelstrafe ausführen mussten oder andere Mägde anstelle der Gutsherrin das Prügeln übernahmen. Eine weitere Strategie der Gräfin bestand darin, schon 5-jährige Kinder aus den untertänigen Familien zu nehmen und auf andere Güter zu verschicken, um sie dort - ohne familialen Rückhalt - zur Magd zu erziehen. Dazu gehörte das tägliche Prügeln auch ohne Begründung, weil es nach Überzeugung der Gräfin unerlässlich für die Erziehung zum Gehorsam war. Es darf wohl gefolgert werden, dass die auf Perkau lebenden jungen Comtessen, die Augen- und Ohrenzeuginnen vieler Quälereien wurden, damit von ihrer Mutter "zum Herrschen" erzogen werden sollten. Als Motiv für das Verhalten der Gräfin gibt die Verfasserin deren Aussage an, dass sie allein, d. h. ohne ihren Ehemann, der als hoher preußischer Militär meist abwesend war, die Güter zu verwalten hatte. Damit wollte sie wohl zum Ausdruck bringen, dass sie als Frau ihre Autorität vor Ort nur mit der Demonstration von äußerst rigider Strenge und Härte durchsetzen konnte. Allerdings dürften Gründe für die grausame Strafpraxis der Gräfin auch in ihrer Persönlichkeit zu suchen sein. Jedenfalls kann hier nicht von der oft angeführten wohlwollenden patriarchalen Herrschaft die Rede sein, die auf erprobten persönlichen Beziehungen zwischen Gutsherrn und Gutsuntertanen beruhte, denn die Perkauschen Güter waren erst seit 1724 in Gesslerschem Besitz und die Familie lebte erst seit 1732 (S. 45, Anm. 285) auf dem Adelshof. In dieser Situation setzte die neue 'fremde' Herrschaft, Graf und Gräfin Gessler, offenbar nicht darauf, das Vertrauen der Untertanen zu erwerben, sondern auf unerbittliche Strenge und die Strategie, einige ausgewählte Personen, z. B. einen Pächter und den Hofmann, zu privilegieren, um sich deren Loyalität für die prompte Ausführung ihrer Befehle zu versichern, was sich ebenfalls bei ihren Aussagen im Prozess zugunsten von Gräfin Gessler bewährte.

Das 'System Gessler' beruhte - so weist die Verfasserin nach - auf der Erbuntertänigkeit des Hausgesindes und der meisten Bewohner des Adelshofes, die deren Bewegungs- und Handlungsfreiheit weitestgehend einschränkte sowie auf dem legitimen Züchtigungsrecht der Hausherrin, verstärkt durch die niedere Gerichtsbarkeit. Obwohl die exzessive Gewaltpraxis der Gräfin bekannt war, gab es keine rechtlichen Möglichkeiten, dagegen vorzugehen, außer wenn wie im vorliegenden Fall ein Mensch zu Tode kam und es gelang - hier mit Unterstützung des Schullehrers -, das Verbrechen in Königsberg vor dem Hofgericht anzuzeigen, womit der Prozess gegen die Gutsherrin in Gang kam. Der Prozessbeginn wurde in allen Besitzungen bekannt gemacht, um weitere Kläger und Klägerinnen gegen die Gräfin ausfindig zu machen. Bedauerlicherweise nennt die Verfasserin weder die Namen der zwölf Hauptzeugen noch den Katalog der Fragen, den die Kommission ihnen und der Gräfin vorlegte. Auch die Aussagen der Zeugen und der Angeklagten werden nur ausschnitthaft mitgeteilt. Die Zusammenschau des Zeugen- und Aussagenspektrums mit den Listen der Untertanen von 1750 hätte es der Verfasserin erlaubt, ihren akteurszentrierten Ansatz zu vertiefen und zu präzisieren.

Trotz mancher Defizite bei der Quellenauswertung und einer Reihe fragwürdiger Interpretationen (z. B. die Bedeutung von Blut in den Aussagen einiger Zeuginnen, 119) wird die Studie ihrem Anspruch gerecht, einen innovativen Beitrag zur Erforschung der Gutsherrschaft zu leisten, denn im Mittelpunkt steht erstmals die Situation des häuslichen Gesindes im herrschaftlichen Haushalt des Adelssitzes, nicht länger die Lage der bäuerlichen und unterbäuerlichen Erbuntertanen. Allerdings versäumt es die Verfasserin, ihre Ergebnisse in die verschiedenen Gutslandschaften des Königreichs Preußen ("Ostpreußen") und den umfassenderen Kontext der Gutsherrschaftsgesellschaften einzuordnen. Denn die verstreuten Hinweise auf die Verhältnisse in anderen Gutsherrschaftsgesellschaften, z. B. in der Mark Brandenburg, können den expliziten Strukturvergleich verschiedener Gutsherrschaftsgesellschaften nicht ersetzen.

Offenbar hat kein Lektorat stattgefunden. Zahlreiche Interpunktionsfehler wären ebenso vermeidbar gewesen wie unabgestimmte Erläuterungen von Sachverhalten in den Fußnoten (z.B. zum Schulzenamt: 41, Anm. 266 und 61, Anm. 400, 401, 402), nicht zuletzt die Wiederholung eines langen Zitats kurz nacheinander (234, 236, Anm. 1438).


Anmerkung:

[1] Johannes Ziekursch: Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung (= Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte; Bd. 20), Breslau 1915, 125-128.

Heide Wunder