Rezension über:

Christine Thumm: Erzählen und Überzeugen. Rhetorischer Impetus protestantischer Literatur bei Kaspar Goldtwurm (1524-1559) im Zeitalter der Konfessionalisierung (= Gratia. Tübinger Schriften zur Vormoderne, Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft; Bd. 65), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, 398 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11449-3, EUR 84,00
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Rezension von:
Thomas Fuchs
Universitätsbibliothek Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Fuchs: Rezension von: Christine Thumm: Erzählen und Überzeugen. Rhetorischer Impetus protestantischer Literatur bei Kaspar Goldtwurm (1524-1559) im Zeitalter der Konfessionalisierung, Wiesbaden: Harrassowitz 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/07/35193.html


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Christine Thumm: Erzählen und Überzeugen

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Die germanistische Dissertation von Christine Thumm widmet sich dem schriftstellerischen Werk des in Weilburg in der Grafschaft Nassau-Weilburg tätigen Superintendenten Kaspar Goldwurm (die normierte Form des Namens lautet nach der GND Goldwurm). Zu Recht, wenn auch sehr häufig, betont die Verfasserin, dass Goldwurm in der bisherigen Reformationsforschung eher vernachlässigt wurde. Dass die Verfasserin keine neuen Quellen zu Goldwurm präsentieren kann, könnte allerdings auch in dem Sinne gelesen werden, dass die älteren Arbeiten des 19. und 20. Jahrhunderts viele Dinge um Person und Werk Goldwurms klären konnten.

Die Arbeit ist strikt werkgeschichtlich orientiert. Nach einem Forschungsüberblick folgen die Biografie Goldwurms sowie ein Überblick über seine Publikationen. Goldwurm wurde nur 35 Jahre alt; neben einer sehr interessanten, handschriftlich überlieferten Autobiografie wurden acht gedruckte Werke in 24 Ausgaben von ihm publiziert. Eine letzte Ausgabe erschien 1612. Danach wurden keine Werke mehr von Goldwurm gedruckt. Er war demnach ein wenig erfolgreicher Autor. Eigentlich nur seine Heiligenkalender und Prognostiken fanden eine gewisse Berücksichtigung im Druckschaffen des 16. Jahrhunderts.

Die Arbeiten Goldwurms lassen sich in vier inhaltliche Kategorien unterteilen: "Wissenschaftliches Fachschrifttum zu Rhetorik und Predigtlehre", "Bibelauslegungen", "Kalenderliteratur" und "Prodigienliteratur und Prognostik". Die Behandlung dieser vier Werkbereiche im schriftstellerischen Schaffen Goldwurms stellt den Hauptteil der Arbeit dar. Den Abschluss der Studie bilden sozusagen die germanistischen Analysen der Texte unter dem Titel "Rhetorische Funktionalisierung des Erzählens".

Mit seinen "Schemata rhetorica", seinem Erstlingswerk von 1545, publizierte Goldwurm ein Buch zu dem Themenkomplex "Rhetorik und Predigtlehre". Das Anliegen dieses Buches ist "grundlegend homiletisch und pastoral ausgerichtet". (32) Goldwurm stellte sich in die Tradition der klassisch lateinischen Rhetorik von Cicero und Quintilian sowie den entsprechenden Arbeiten Melanchthons. Sprachlich orientierte sich Goldwurm an dem Lutherdeutsch der Bibelübersetzung. Durch "Anschaulichkeit und Evidenzerzeugung bei gleichzeitiger Stimulierung von Ratio und Affekt" sollte der Prediger seine Zuhörer überzeugen. "Imitatio" und "Exempla" waren dafür die methodischen Werkzeuge. Beide Prinzipien durchzogen das weitere Werk Goldwurms.

Die Bücher zur Bibelauslegung umfassen drei Werke. Die Trostschrift "Historia von Joseph", ein Genesiskommentar sowie eine "Biblische Chronica", also eine Einleitungsschrift zum Alten Testament, die als eine Art Fürstenspiegel richtiges moralisches Handeln dem Leser vor Augen stellen sollte. Diese Texte rezipierten die von Luther und Melanchthon formulierten Exegesekonventionen. Die Genesisauslegung wird von der Verfasserin als deutlich abhängig von den exegetischen Arbeiten Luthers zum 1. Buch Mose charakterisiert. Der exegetische Text will zum einen Trost in einer für die evangelischen Gläubigen schweren Zeit spenden, zum anderen die Rechtgläubigkeit der lutherischen Kirchen auch aus dem Alten Testament nachweisen. Goldwurm selbst hatte unter dem Interim zu leiden, so dass Trost und Nachweis der eigenen Rechtgläubigkeit zentrale Herausforderungen seiner Theologenbiografie waren.

Der dritte Teil der Werkanalyse behandelt die von Goldwurm geschriebene Kalenderliteratur, mit der er seine größte publizistische Reichweite erlangte, sofern die Auflagenzahlen Auskunft darüber geben können. Dabei handelt es sich um zwei Werke: "Calendarium historicum" und "Kirchenkalender". Melanchthons Geschichtsbild und Paul Ebers "Calendarium historicum conscriptum" werden als Grundlagen für Goldwurms Arbeit ausgemacht. Nicht alle in diesem Abschnitt getroffenen Aussagen können überzeugen: Als "hauptsächliche Inspirationsquelle" für die Kalenderliteratur im Protestantismus gilt Melanchthon "und sein vom Gedenken der memoria geprägtes Verständnis von 'Geschichte' im Sinne von Historiographie" (151). Hier wird mehr Verwirrung als Aufklärung gestiftet. Das "Calendarium historicum" ist ein evangelischer Heiligenkalender. An diesem Punkt wirft die Verfasserin Heiligenkalender und Martyriologien zusammen, was meines Erachtens nicht zulässig ist, weil die Heiligenkalender eine diametral gegensätzliche Funktion und auch einen anderen Inhalt als die Martyriologien besaßen. Auch der "Kirchenkalender" von 1559 gehört in die Textgattung der Heiligenkalender, die der "Glaubensstärkung" dienten und eine "Vorbildfunktion" für die evangelischen Christen besaßen (199).

Der letzte Abschnitt der Werkanalyse behandelt die Prodigienliteratur und die Prognostiken Goldwurms, also Wunder- und Vorhersagenliteratur. Auch in diesem Bereich reiht sich Goldwurm ungezwungen in die vorreformatorischen und reformatorischen Erzähltraditionen ein.

In dem abschließenden dritten Teil der Arbeit fragt die Verfasserin nach der "Rhetorischen Funktionalisierung des Erzählens". Alle Texte Goldwurms seien "Erzählungen", "in ihrer Grundform und einfachsten Struktur nach als mündlich oder schriftlich vermittelte Handlungen von Akteuren, von Ereignissen oder Gegebenheiten, die in Zeit und Raum verankert und 'geschehen' sind und eine Veränderung im weitesten Sinne darstellen" (283). Die Verfasserin konstatiert dabei vier zentrale Ziele des Erzählens: Didache als Belehrung, Paranäse als moralische Ermahnung, Erbauung und Identitätsstiftung. Die rhetorische Ausrichtung der Texte, die Betonung von "Exempla" und "Imitatio", durchziehen das Gesamtwerk Goldwurms, so dass die Verfasserin dies wie einen roten Faden herausarbeiten konnte.

Ein Werkverzeichnis Goldwurms, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Personen- und Sachregister runden das Buch ab. Die Verfasserin hat eine gelungene und überzeugend argumentierende Arbeit vorgelegt, die wichtige Erkenntnisse zum Werk Goldwurms, zur Wirkmächtigkeit antiker rhetorischer Traditionen und die Vorbildhaftigkeit Luthers und Melanchthons für die evangelischen Schriftsteller ihrer Zeit herausarbeitet. Weiterhin positiv zu bewerten sind die klare Strukturierung des Buches. Der Leser wird an die Hand genommen und durch das Werk Goldwurms geführt. Das Buch wird die Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit Kaspar Goldwurm bilden.

Thomas Fuchs