Daryle Williams (ed.): Slave Society in Nineteenth-Century Rio de Janeiro, in: Enslaved. Journal of Slavery and Data Preservation 2,1 (2021)

Von Stephan Conermann, Bonn

Vor einem Jahr (2020) wurde online die erste Ausgabe des Journal of Slavery and Data Preservation (https://jsdp.enslaved.org/) veröffentlicht. Bevor hier auf die einzelnen Beiträge des letzten Themenheftes (Slave Society in Nineteenth-Century Rio de Janeiro) eingegangen wird, noch ein paar Informationen zum Hintergrund der Zeitschrift. Sie ist Teil der an der Michigan State University (und dort insbesondere am Department of History) beheimateten digitalen open-access Plattform Enslaved: Peoples of the Historical Slave Trade (https://enslaved.org/). Diese ging 2011 aus der von dem National Endowment of the Humanities geförderten Datenbank Slave Biographies: The Atlantic Database Network (http://slavebiographies.org/) hervor. Man beabsichtigte, aus möglichst vielen digitalisierten Beständen Daten zusammenzuführen, um dadurch an einem Ort so viele Informationen über Sklav*innen, Sklavenhalter*innen und am Sklavenhandel beteiligte Personen vom frühen 15. Jahrhundert bis zur Abschaffung der Sklaverei in Basilien 1888 wie möglich der interessierten Öffentlichkeit wie auch der akademischen Gemeinschaft bereitstellen zu können. Seit 2017 erhält die Initiative von der Andrew W. Mellon Foundation eine großzügige Förderung (zunächst bis 2023), so dass man 2019 mit der Einspeisung von Kerndatensätzen aus dem Slave Biographies-Projekt beginnen konnte. Sehr schnell wurden weitere relevante digitale Sammlungen, unter anderem die African American National Biography (https://hutchinscenter.fas.harvard.edu/aanb), integriert. Um eine nachhaltige Sicherung der Datenbank zu gewährleisten, wurde Enslaved in enger Kooperation mit Matrix: Center for Digital Humanities & Social Sciences at Michigan State University aufgebaut. Diese Struktur findet sich auch in den Personen wieder, die das ganze Projekt federführend leiten, nämlich die Historiker Dean Rehberger und Walter Hawthorne und der Anthropologe Ethan Watrall von der University of Michigan sowie der Brasilienexperte Daryle Williams von der University of Maryland. Konnte Williams seine persönlichen Erfahrungen aus dem Slave Biographies-Projekt und der African-American History and Culture and Digital Humanities-Initiative (https://aadhum.umd.edu/asante/about/) einbringen, so stellten Rehberger und Watrall (er war bis 2020 Associate Director) die Verknüpfung zu Matrix her.

Neben der Datenbank wollten die Initiatoren aber auch eine wissenschaftliche Zeitschrift mit peer-reviewed Artikeln zu einem integralen Bestandteil von Enslaved machen. Sie sollte Forscher*innen die Möglichkeit bieten, neue, für die Plattform interessante digitale Projekte zu präsentieren, deren Datensätze dann in Enslaved integriert werden. Es war möglich, das Vorhaben zu realisieren. Wie am Anfang bereits erwähnt, erscheint seit 2020 zweimal im Jahr eine Ausgabe des Journal of Slavery and Data Preservation. Als Herausgeber fungieren Daryle Williams und Walter Hawthrone.

Schauen wir uns nun einmal die von dem Erstgenannten verantwortete letzte Ausgabe an, die sechs Projekte zum Thema hat, die sich mit der gesellschaftlichen Situation von Sklaven im Rio de Janeiro des 19. Jahrhunderts befassen. (1) Flávio Gomes von der Universidade Federal do Rio de Janeiro hat zusammen mit einigen Kolleg*innen in der Zeit von 2015 bis 2017 Informationen (Alter, letzter Wohnort, Geschlecht, Rechtsstatus, Todesursache etc.) über Afrikaner*innen aus 4636 Einträgen in den Verstorbenenregistern des Friedhofs von São Francisco Xavier in Rio de Janeiro aus der Zeit von 1845 bis 1880 zusammengetragen. Keila Grinbeg (University of Pittsburgh) und Mariana de Aguiar Ferreira Muaze (Universidade Federal do Estado do Rio de Janeiro) ließen 2018-2020 Studierende 6540 Anzeigen in der Tageszeitung Journal do Commercio aus dem Jahr 1840 in Bezug auf dort enthaltenen Aussagen über den Verkauf und Kauf sowie die Vermietung und Versteigerung und die Flucht oder das Verschwinden von Sklav*innen und freien Afrikaner*innen auswerten. Bei dem dritten Projekt, das 2002-2005 Ricardo H. Salles von der Universidade Federal do Estado do Rio de Janeiro leitete, dienten 923 Inventurlisten, die nach dem Tod von Großgrundbesitzer*innen in der 80 km nordwestlich von Rio gelegenen Region Vassoures zur Ermittlung des Erbvermögens angefertigt wurden, als Quelle. Da Sklav*innen bis zu 50% des Besitzes ausmachen konnten, legte man auf eine genaue Beschreibung der Personen (Allgemeiner Gesundheitszustand, Verletzungen, körperliche Gerbrechen, Krankheiten, Arbeitswille und -fähigkeit etc.) großen Wert. Insgesamt sind in diesen Dokumenten 30533 Sklav*innen erfasst worden.

Zwei Datenbanken stammen von Daryle Williams selbst. Zum einen (4) sammelte er aus den drei wichtigsten (digitalisierten) Tageszeitungen aus Rio für den Zeitraum von 1835 bis 1863 alle dort publizierten öffentlichen Bekanntmachung, in denen die Bevölkerung dazu aufgerufen wurde, den Behörden Informationen über den Verbleib von 600 freien, "verschwundenen" Afrikanern zu liefern. Obgleich nämlich diese Personen de jure frei waren und nominell unter staatlichem Schutz standen, mussten sie in der Regel in privaten Haushalten, religiösen Institutionen oder unter strenger Kontrolle von ihnen zugewiesenen Privatpersonen in öffentlichen Einrichtungen arbeiten. Zum anderen (5) befasste er sich mit der 111-Seiten dicken, handgeschriebenen Relação de todos os Africanos livres que athé o presente data ainda se acham sob a responsabilidade dos particulares a quem foram confiados. Extrahidos em o mez de Março de 1860 ["Register aller freien Afrikaner, die sich bis zum jetzigen Zeitpunkt in der Verantwortung derjenigen Privatpersonen befinden, denen sie zugewiesen worden sind. Erstellt im Monat März 1860"]. Es handelt sich um ein Namensregister von 849 der eben erwähnten Kontrolleure, einschließlich der 1342 ihnen überantworteten freien Afrikaner*innen.

Das letzte Projekt, das in der Ausgabe des Journal of Slavery and Data Preservation beschrieben wird, stammt von Kari Zimmermann (University of St. Thomas). Im Mittelpunkt steht eine Analyse von Annoncen aus den Jahren von 1850 bis 1880 in dem in Rio herausgegebenen Jornal do Commercio. In den Anzeigen wurden ca. 1700 Sklav*innen zur Miete angeboten. In der von Zimmermann zwischen 2003 und 2006 erstellten Datenbank finden sich alle in den Texten verfügbaren Angaben zu den angebotenen Personen.

Die Datensätze aller hier kurz skizzierten Projekte werden von dem Harvard Datavers Repositorium (oder einer vergleichbaren Einrichtung) verwaltet und so schnell wie möglich in die von Enslaved: Peoples of the Historical Slave Trade erstellte interaktive und durchsuchbare Plattform eingepflegt.

Alles in allem ist die Zeitschrift und die die zugehörige Plattform (oder andersherum) ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. Die zahlreichen angefangenen, aber bisher nicht veröffentlichten, und die vielen laufenden, aber finanziell nicht nachhaltig gesicherten Digitalisierungsprojekte müssen auf zuverlässigen und öffentlich nutzbaren Datenbanken zusammengebracht werden. Ein Problem ergibt sich allerdings, wenn es sich um private Sammlungen handelt. Darüber hinaus möchte auch nicht jede Forscherin/jeder Forscher seine Daten bedingungslos einem übergeordneten Repositorium zur Verfügung stellen.