Rezension über:

Lodewijk Jozef Engels / Christine Vande Veire (eds.): Petrus Abaelardus. Sermones (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 286), Turnhout: Brepols 2020, CXXV + 503 S., ISBN 978-2-503-57701-2, EUR 365,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Lodewijk Jozef Engels / Christine Vande Veire (eds.): Petrus Abaelardus. Sermones, Turnhout: Brepols 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 1 [15.01.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/01/35363.html


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Lodewijk Jozef Engels / Christine Vande Veire (eds.): Petrus Abaelardus

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Lodewijk Jozef Engels (1932-2017) gehörte zu den großen Abaelard-Forschern der vergangenen Jahrzehnte. Bereits 1975 hatte er in einer Reihe von Artikeln die Möglichkeit einer Neuedition der Predigten Abaelards ausgelotet. Dass dieses Projekt zum "life's work" (IX) werden sollte, konnte er damals noch nicht ahnen. Rund 40 Jahre später bereitete er in seinen letzten Lebensmonaten noch den Boden dafür, dass die zwar weit fortgeschrittene, aber noch immer unvollendete Edition zu einem guten Abschluss kommen konnte. Mit Christine Vande Veire wurde (mit Billigung Engels') eine erfahrene Editorin gewonnen, die sich des Manuskripts annahm und für den Druck vorbereitete. Das nun vorliegende Ergebnis kann sich sehen lassen.

Von kleineren Ausnahmen (Sermones 32 und 34) abgesehen, wurden die Predigten wohl zusammen mit einem an Heloise gerichteten Widmungsbrief von Abaelard als Block zusammengestellt und an die Nonnen des von ihm gegründeten Klosters Paraklet gesandt. So präsentierten sie sich jedenfalls in einer heute verlorenen Handschrift der Sorbonne, auf der die editio princeps beruhte. Folgt man dem Ende des 13. Jahrhunderts für den Paraklet-Konvent entstandenen Ordinale Paraclitense (BnF, ms. fr. 14410), dann müssen die Nonnen zwei Handschriften mit Predigten Abaelards ihr Eigen genannt haben, aus denen an Festtagen während der Kapitelssitzungen, im Refektorium oder im Rahmen der nachmittäglichen collatio vorgelesen wurde. Diese beiden Handschriften, so der Editor, sind aber eben nicht mit derjenigen Handschrift identisch, auf der die Druckausgabe beruht. Sie dürfte als das uolumen Petri Abaelardi in quo continentur sermones ad uirgines Paraclitenses et alia quaedam zu identifizieren sein, das von Jean l'Huillier, Bischof von Meaux, 1550 der Sorbonne übergeben worden war. [1]

Die eigentliche "Editionsgeschichte" der Predigten begann 1577, als Papire Masson den in den Jahren 1131-37 verfassten Widmungsbrief Abaelards zum Druck brachte. Vier Jahrzehnte brauchte es dann noch, bis die von François d'Amboise und André Duchesne besorgte editio princeps erscheinen konnte, die neben dem Widmungsbrief 32 Sermones umfasste. Während der erste Teil die nach dem Kirchenjahr geordneten Predigten (per circulum anni) umfasste, war der zweite Teil den Predigten zu Heiligenfesten vorbehalten. Einige waren von Abaelard bereits zuvor gehalten worden, so etwa Sermo 27 zu Ehren des Papstes und Märtyrers Marcellinus, der sich ursprünglich an die Mönche der in der Diözese Vannes gelegenen Abtei von Redon richtete.

In einem ausführlichen Vorwort wird auf die für ein solches Editionsprojekt alles andere als günstige Handschriftenüberlieferung eingegangen. Seit dem 19. Jahrhundert sind drei Handschriften bekannt, die einzelne Predigten separat überliefern (BnF, ms. lat. 14511; Einsiedeln, Stiftsbibliothek ms. 300; Colmar, Bibliothèque municipale ms. 128; vgl. zu einer Beschreibung der Textzeugen S. XIX-XLVI). Nicht alle dieser Predigten waren im codex deperditus der Sorbonne (seinerseits Grundlage der editio princeps) enthalten. "With all due respect", so der Editor überzeugend, "the quality of the text of the major part of the sermones in the existing editions remains unsatisfactory." (XVI)

Hauptgrund für diese mangelnde Textqualität war die Fülle an Fehlern, die viele der in der editio princeps entfalteten Gedankengänge schlichtweg unverständlich werden ließen. Die korrupten Lesarten fanden dann ihren Weg in die nachfolgenden Editionen eines Victor Cousin und bzw. Jean-Paul Migne.

Das Hauptanliegen des Editors wird angesichts dieser Gemengelage verständlich: "Attentive and careful reading of the texts in the witnesses, with particular attention to the kinds of errors that have crept in, forms the cornerstone of this research." (XVII)

Dreh- und Angelpunkt des Editionsgeschehens bleibt die editio princeps, die viele Predigten singulär überliefert. Ausgesprochen aussagekräftig ist in dieser Hinsicht ein Appendix (LXXXVII-XC), in dem für jede Predigt die entsprechende Überlieferung aufgelistet wird. Ob sich einzelne Fehler bei der Transkription des Textes aus der Handschrift oder im Laufe des Editionsprozesses einschlichen, also etwa auf Versehen der Schriftsetzer oder Korrekturleser zurückzuführen sind, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Unbestritten ist jedoch, dass es angesichts einer solchen Ausgangslage nicht nur enormer Vertrautheit mit dem Sprachstil Abaelards, sondern auch intimer Kenntnis seiner "conceptual world" (XXXVII) bedarf, um Korruptes zu tilgen. Nicht immer sind Fehler so einfach wie im Falle von Sermo XVII aufzulösen, wo drei sollemnitates sanctae, d.h. drei Autoritäten aus dem Alten Testament, angeführt wurden, es bisher aber niemandem aufgefallen war, dass in der ursprünglichen Transkription wohl ein Zeilensprung stattgefunden hatte, durch den der Text verstümmelt zurückblieb. Verständlich war das daraus resultierende Satzgebilde nicht, gedruckt wurde es im Laufe der Jahrhunderte aber immer wieder. Auch das dichtgespannte Interpunktionsnetz, mit dem Editoren (oder Schriftsetzer) den Text überzogen hatten, diente nicht immer dem Verständnis, sondern verdunkelt häufiger den Wortsinn. Außerordentliches hat der Editor immer dann geleistet, wenn es darum ging, Worte, die ineinandergeflossen waren, korrekt zu trennen und so erneut Sinn zu schaffen. Großer editorisch-paläographischer Fähigkeiten bedarf es, um etwa ein sinnentstellendes vitae als in te oder ein probitando als pro uitando zu identifizieren. Auch falsch aufgelöste Abkürzungen (etwa mulieres für martyres oder virtus für uterus) galt es zu korrigieren.

Vorliegende Edition verfügt neben dem apparatus criticus über drei weitere, ausgesprochen sorgfältig gearbeitete Apparate: apparatus biblicus, apparatus fontium, apparatus locorum similium. In ihnen gibt der Editor erschöpfend Einblick in seine Entscheidungsfindung. Im Similienapparat wird nicht nur auf gleichlautende (bzw. sehr ähnliche) Stellen in anderen Werken Abaelards, sondern auch auf Parallelstellen innerhalb der Predigten selbst verwiesen.

Wie so häufig bei mittelalterlichen Predigtcorpora der Fall, ist es - von wenigen Ausnahmen (etwa einer längeren Passage aus Gregors Moralia in Hiob in Sermo 24) abgesehen - nur schwer möglich festzustellen, ob Abaelard für die von ihm angeführten Autoritäten auf die originalen Texte oder auf Florilegien zurückgriff.

Adnotationes im Anschluss an den Editionstext dienen der Erläuterung schwieriger Sachverhalte innerhalb der einzelnen Predigten. Oftmals sind sie eine unverzichtbare Verständnishilfe. Zwei Indices (Index locorum S. Scripturae; Index fontium) leisten darüber hinaus bei der weitergehenden Erschließung gute Dienste.

Neben sermonialer "Alltagskost" in Gestalt der sermones per circulum anni finden sich so interessante Texte wie etwa Sermo 29 (De sancta Susanna ad exhortationem virginum), Sermo 30 (De elemosina pro sanctimonialibus de Paraclito), Sermo 31 (In natali sancti Stephani vel ceterorum diaconorum qui ab apostolis deputati sunt obsequio sanctarum viduarum) oder der Sermo contra Cistellenses. Chrysogonus Waddell hatte diesen Text einst als "so called sermon" bezeichnet und Abaelard bescheinigt, er habe sich darin "at his worst" gezeigt. [2] Tatsächlich folgt der Sermo zwar den rhetorischen Vorgaben der Predigtlehren, ist aber wohl überzeugender als scharfe (und zeitlich äußerst frühe) Diatribe gegen die Zisterzienser zu verstehen.

Summa summarum: zum ersten Mal sind Abaelards Predigten nun in einer Ausgabe zu benutzen, die einen zuverlässigen, editorisch über (fast) jeden Zweifel erhabenen Text bietet. Nicht nur die Predigtforschung wird zukünftig mit großem Gewinn darauf zurückgreifen.


Anmerkungen:

[1] Papire Masson verwies im dritten Buch seiner 1577 in Paris gedruckten Annalium libri quattuor auf die Handschrift mit folgenden Worten: "Seruatur in bibliotheca collegii Sorbonici liber sic inscriptus: Petri Abaelardi sermones per annum legendi, ad uirgines Paracletenses, in oratorio constitutas."

[2] Chrysogonus Waddell: Adtendite a falsis prophetis. Abaelard's earliest known anti-cistercian diatribe, in: Cistercian Studies Quarterly 39 (2004), 371-398, hier 397.

Ralf Lützelschwab