Rezension über:

Johannes M. Knoblach: Museum und Migrationserfahrungen. Empirische Erkundungen zu den Interessen Jugendlicher im Freilandmuseum (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 22), Göttingen: V&R unipress 2020, 297 S., ISBN 978-3-8471-1225-9, EUR 50,00
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Rezension von:
Martin Schlutow
Institut für Didaktik der Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Martin Schlutow: Rezension von: Johannes M. Knoblach: Museum und Migrationserfahrungen. Empirische Erkundungen zu den Interessen Jugendlicher im Freilandmuseum, Göttingen: V&R unipress 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 1 [15.01.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/01/35592.html


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Johannes M. Knoblach: Museum und Migrationserfahrungen

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"Museum und Migrationserfahrungen" - mit diesem Titel fügt sich die Dissertation Johannes M. Knoblachs gleich in zweifacher Weise in hochaktuelle Forschungsfelder ein. Erstens wird bereits seit einigen Jahren im Museumswesen und in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen intensiv über die (Re-)Präsentation von Migration im Museum diskutiert. Damit wird vor allem die Angebotsseite geschichtskultureller Institutionen in der Migrationsgesellschaft beleuchtet. Zweitens interessiert sich eine Reihe jüngerer geschichtsdidaktischer Studien aber auch verstärkt für die Nutzer*innen historischer Museen mit ihren lernortspezifischen Lernvoraussetzungen und Aneignungsweisen [1]. Das wesentliche Anliegen Knoblachs besteht darin, beide bislang unverbundenen Diskurse zusammenzuführen, indem er Schüler*innen mit Migrationserfahrungen bei einem Besuch des 'Fränkischen Freilandmuseums Bad Windsheim' begleitet und ihre Interessen im Umgang mit den dort präsentierten Inszenierungen und Objekten erkundet.

Die Studie Knoblachs ist folgerichtig als empirische Untersuchung der museumsbezogenen Interessenhandlungen von insgesamt 18 Schüler*innen mit eigener Migrationserfahrung angelegt. Im Mittelpunkt stehen Jugendliche, die im Kontext der "Flüchtlingskrise" seit 2015 nach Deutschland migriert sind und im Rahmen einer so genannten D-Klasse auf die Teilnahme am Regelunterricht der Mittelschule in Bad Windsheim vorbereitet werden. Das tendenziell auf Assimilation zielende Konzept der D-Klassen wird von Knoblach dabei einerseits kritisch diskutiert, andererseits aber als sinnvoller Ausgangspunkt für das Erkenntnisinteresse der Studie gesehen. Im Mittelpunkt stehen für den Autor drei Fragen: In welchen Kontexten des Museums nehmen Jugendliche mit eigener Migrationserfahrung Interessenhandlungen vor? Welche Orientierungen lassen sich dabei fallspezifisch und fallübergreifend beobachten? "Und welche Folgerungen ergeben sich hieraus für die museale Vermittlungsarbeit mit Jugendlichen mit eigener Migrationserfahrung?" (122 / 123).

Zur Klärung dieser Fragen folgt die Arbeit der klassischen Gliederung qualitativer empirischer Studien von der Entfaltung des theoretischen Rahmens über die Begründung des gewählten Methodendesigns (von Knoblach allerdings als "Methodologie" bezeichnet) bis zur Darstellung und Einordnung der erhobenen Befunde. Im theoretischen Teil skizziert der Autor dabei zunächst das Museum als außerschulischen Lernort und als Ort der Dinge, der das Lernen mit allen Sinnen ermögliche. Im Mittelpunkt steht jedoch die Ausschärfung des Konstrukts "Interesse", das er mit der "Person-Gegenstands-Theorie" nach Krapp pädagogisch-psychologisch sowie mit den Kategorien "Geschichtsbewusstsein" und "historische Identität" geschichtsdidaktisch ausdifferenziert. Das Methodendesign der Studie, das Knoblach im Design-Based Research verortet, wird ausführlich und schlüssig begründet. In drei Gruppen à sechs Proband*innen begleitete der Forschende die Jugendlichen bei ihrem Rundgang durch das 'Freilandmuseum' (einem Freilichtmuseum, das agrarische sowie proto- und frühindustrielle Lebens- und Arbeitswelten Frankens präsentiert). Die Datenerhebung erfolgte während dieser Besuche mittels einer Kombination aus Gruppendiskussionen und fokussierten Interviews sowie durch teilnehmende Beobachtung; zur Auswertung wurde die Dokumentarische Methode verwendet.

Aus den Daten arbeitet Knoblach insgesamt 15 Orientierungen mit je unterschiedlichen Ausprägungen bei den Objektbegegnungen der Jugendlichen heraus. Auffällig sind dabei vor allem die Suche der Proband*innen nach Anknüpfungspunkten der Objekte an ihre eigenen Erfahrungen, Vorkenntnisse und Assoziationen sowie Vergleiche der musealisierten Lebens- und Produktionsweisen mit entsprechenden Verfahren in ihren Herkunftsländern. Auch eine Konnotation von Neuerem als tendenziell Besserem sowie kulturelle Stereotype (etwa über Deutschland als Land des Bieres) und geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen werden artikuliert, um weitere Beispiele zu nennen. Das zentrale Analyseergebnis wird abschließend in einer Basistypik festgehalten, der zufolge Jugendliche mit eigener Migrationserfahrung vor allem dann Interesse an der musealen Überlieferung artikulieren, "wenn diese ein Bedürfnis nach Struktur, Orientierung, Kontrolle und Sicherheit befriedigt" (200). Damit bestätigt Knoblach bereits vorhandene Befunde der pädagogisch-psychologischen Interessenforschung und perspektiviert sie mit Rüsen geschichtsdidaktisch, indem er eine starke Betonung traditionaler Sinnbildungen in den Schüleräußerungen erkennt. Knoblach endet mit einigen Überlegungen zur musealen "Vermittlungsarbeit" für Besucher*innen mit eigenen Migrationserfahrungen, die im Wesentlichen auf Aspekte des entdeckenden Lernens im Museum abheben.

Überzeugen kann die Studie damit vor allem durch die minutiöse Darstellung der eigenen Analyseergebnisse sowie durch das transparente und reflektierte Schildern des gewählten methodischen Vorgehens. Die Einbettung der eigenen Studie in den geschichtsdidaktischen und interdisziplinären Forschungsdiskurs ist indes weniger gelungen. Dies kommt zunächst im Kapitel mit der Überschrift "Forschungsstand" zum Ausdruck, das zwar einen kenntnisreichen Überblick über migrationsbezogene Museumsprojekte der jüngeren Vergangenheit gibt, auf bereits vorhandene Erkenntnisse zum Konstrukt "Interesse" aber ebenso wenig eingeht wie auf relevante Befunde der Forschung zu Schülervorstellungen im Fach Geschichte, der musealen Besucherforschung und der geschichtskulturellen Rezeptionsforschung. Studien zum letztgenenannten Themenbereich werden im Kapitel zum theoretischen Rahmen der Arbeit immerhin erwähnt, ohne jedoch konkret auf ihre Befunde einzugehen. Dabei wären diese Kontextualisierungen äußerst erhellend gewesen, um die empirischen Ergebnisse Knoblachs diskutieren zu können. Schließlich würden sich mit Verweisen auf das auch andernorts beobachtete primär erfahrungsbezogene historische Denken vieler Schüler*innen [2] oder auf das mitunter fehlende Verständnis für die Besonderheiten des Lernortes Museum [3] Fragen nach der Lernortspezifik ebenso stellen wie nach der migrationsbedingten Spezifik [4] der von Knoblach erhobenen Interessenhandlungen. Derartige Fragen werden im vorliegenden Buch jedoch nicht aufgeworfen.

Alles in allem leistet der Band also einen wichtigen Beitrag zur vertieften Beschäftigung mit einer bislang weitgehend vernachlässigten Zielgruppe historischer Museen. In der detaillierten Analyse der Gruppendiskussionen kommen Leser*innen den beforschten Subjekten nahe und werden zum Nachdenken über vielfältige Aneignungen musealer Objekte in einer von kultureller Heterogenität geprägten Gesellschaft angeregt. Wünschenswert wäre allerdings eine breitere Kontextualisierung dieser Interessenhandlungen gewesen.


Anmerkungen:

[1] Vergleiche zuletzt beispielsweise Hannah Röttele: "Objektbegegnungen" im historischen Museum. Eine empirische Studie zum Wahrnehmungs- und Rezeptionsverhalten von Schüler_innen, München 2020; Julia Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung. Eine Bestandsaufnahme von Elementen historischen Denkens bei Besuchenden der Ausstellung "14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg" (= Geschichtsdidaktik heute; Bd. 12), Bern 2020.

[2] Vergleiche zum Überblick Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb, in: Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, hgg. von ders. / Meik Zülsdorf-Kersting, 8. Aufl., Berlin 2019, 24-49, hier 28-33.

[3] Vergleiche Christian Kohler: Schülervorstellungen über die Präsentation von Geschichte im Museum. Eine empirische Studie zum historischen Lernen im Museum (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 16), Berlin 2016, 222.

[4] Vergleiche hierzu beispielsweise Carlos Kölbl: Auschwitz ist eine Stadt in Polen. Zur Bedeutung der NS-Vergangenheit im Geschichtsbewusstsein junger Migrantinnen und Migranten, in: Michele Barricelli / Julia Hornig (Hgg.): Aufklärung, Bildung, "Histotainment"? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt a. M. 2008, 161-173.

Martin Schlutow