sehepunkte 22 (2022), Nr. 5

Romed Aschwanden: Politisierung der Alpen

In der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Geographie Europas spielt die Schweiz eine besondere Rolle. Das im Zentrum Europas gelegene Alpenland ist kein Mitglied der Europäischen Union (EU). Der Versuch in den frühen 1990er Jahren, zumindest dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beizutreten, wurde nach einem Referendum 1992 beendet. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von Verträgen mit der EU, die immer wieder in Schweizer Volksabstimmungen in Frage gestellt werden. Gleichzeitig grenzt die Schweiz an mehrere EU-Länder, ist mit ihnen kulturell, ökonomisch und durch den geteilten Naturraum der Alpen eng verknüpft. Auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft gibt es seit langem grenzüberschreitende Verbindungen, im Naturschutz und den Umweltbewegungen seit den 1970er Jahren oder beim transnationalen Protest gegen Atomanlagen.

Vor allem aber stellt die Schweiz neben Österreich die wichtigsten alpenquerenden Verkehrsverbindungen zwischen Italien und Deutschland bereit, deren Nutzung im Zuge des Ausbaus des europäischen Binnenmarktes stetig wuchs. Da sich der LKW-Verkehr auf wenigen Achsen konzentrierte, verursachte dies in den betroffenen Alpentälern außergewöhnliche Umweltbelastungen und gefährdete den wirtschaftlich bedeutenden Tourismus.

Wie die Schweizer Umwelt- und insbesondere die Alpenschutzbewegung in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hierauf reagierte, sich dabei intensiv mit der EU und ihrer Vorgängerinstitution, der Europäischen Gemeinschaft (EG) als externem Faktor und als "Bedrohung der Alpen" (13) auseinandersetzte und damit den Schutz der Alpen politisierte, ist das Kernthema der Studie von Romed Aschwanden, die auf seiner 2019 in Basel verteidigten Dissertation basiert. Diese entstand im Rahmen des deutsch-österreichisch-schweizerischen Forschungsprojekts "Issues with Europe" über transnationale Netzwerke im deutschsprachigen Alpenschutz - und deren Konflikt mit der EU. Aus diesem Projektzusammenhang erklärt sich der methodische Schwerpunkt auf Netzwerkforschung, der sowohl eine Stärke des Buches ausmacht, als auch für einige Schwächen in der Darstellung verantwortlich ist.

Für die Netzwerkanalyse und die weitere historische Untersuchung hat Aschwanden umfangreich und systematisch Archivmaterial und veröffentlichte Dokumente ausgewertet. Schweizer staatliche Quellen und Quellen der EU-Institutionen fanden keine Berücksichtigung. Stattdessen untersuchte Aschwanden die Bestände der einschlägigen internationalen Organisation für den Alpenschutz - nämlich der 1952 gegründeten Commission Internationale pour la Protection des Régions Alpines (CIPRA). Zudem griff der Autor auf verschiedene Privatarchive relevanter zivilgesellschaftlichen Akteure zurück, zum Beispiel das des Vereins Alpeninitiative. Überdies führte Aschwanden einige wenige Oral-History-Interviews durch.

Eine Stärke von Aschwandens Buch ist seine akteurszentrierte Analyse von Expertinnen und Experten und Zivilgesellschaft. Dabei geht es ihm neben dem tatsächlichen politischen Handeln vor allem um Sichtweisen und Ideen, die das Handeln informieren. So präsentierten Experten und Bewegung die Alpen als schützenswerte und bedrohte Natur, Landschaft und Region und deuteten die europäische Integration als eine zentrale Ursache dieser Bedrohung - eine Idee, die in der euroskeptischen Schweiz viel Mobilisierungspotential bot.

Auch Aschwanden sieht im untersuchten Zeitraum die Alpen zunehmender Europäisierung ausgesetzt. Diese Europäisierung habe auf drei Ebenen stattgefunden: Erstens habe es im Rahmen der Alpenkonvention von 1991 eine "Europäisierung der Umwelt- und Raumplanungspolitik" gegeben; zweitens hätten sich auch die "Ursachen von umwelt- und regionalpolitischen Problemen" europäisiert, durch "Massentourismus", "zunehmenden alpenquerenden Verkehr" und die damit einhergehenden europäischen Zentrum-Peripherie-Probleme. Während die ökonomischen Zentren in der EU profitierten, habe die alpenländische Peripherie vor allem die Nachteile des Verkehrs zu spüren bekommen. Drittens habe sich auch die "politische Mobilisierung" europäisiert (23). Hier unterstreichen Aschwandens Ergebnisse den bisherigen umwelthistorischen Forschungsstand, der eine zunehmend europäisch vernetzte Umwelt- und Naturschutzbewegung spätestens seit den 1970er Jahren diagnostiziert, nicht als linearen, sondern problembezogenen, und teils reversiblen Prozess.

Das Buch gliedert sich nach einem einleitenden ersten Kapitel in fünf inhaltliche Kapitel. Kapitel 2 "Netzwerke des Alpenschutzes" basiert auf einer Netzwerkanalyse von Kontakten, Sitzungsprotokollen und Teilnahmelisten von Veranstaltungen. Einschränkend hebt Aschwanden selbst hervor, dass die Aussagekraft durch Lücken in der Quellenüberlieferung begrenzt sei. Insgesamt hätte dieses Kapitel sehr von einer noch gründlicheren Erläuterung nicht nur der Methode, sondern vor allem der genaueren Bedeutung der Ergebnisse profitiert, zum Beispiel anhand weiterer Erläuterungen zu beispielhaften Akteuren oder Veranstaltungen.

In den folgenden Kapiteln gelingt es Aschwanden dagegen sehr gut, die Entwicklung des Alpenschutzes und die Veränderungen in der Problemwahrnehmung zu analysieren. Kapitel 3 untersucht die Rolle von damals überwiegend männlichen Alpen-Experten auf dem Weg hin zur Alpenkonvention von 1991, einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Alpenländern inklusive der EG, die Aschwanden als eine Form der Europäisierung der Alpen deutet. Expertennetzwerke waren dabei zunächst nicht unbedingt europäisch, geschweige denn auf die EG beschränkt, sondern reichten von der globalen bis zur nationalen Ebene. Die 1952 unter tätiger Beihilfe von Mitgliedern der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) gegründete CIPRA, der für Naturschutz zuständige Straßburger Europarat, das UNESCO-Programm "Man and the Biosphere" aus dem Jahr 1971 und das hierzu in der Schweiz 1978 aufgelegte Forschungsprojekt über "Sozioökonomische und ökologische Belastbarkeit im Berggebiet" bildeten die Foren, in denen sich die Veränderung der Problemwahrnehmungen in Richtung Ökologie vollzog.

Kapitel 4 betrachtet die Entstehung und Entwicklung der Schweizer Alpenschutzbewegung seit den 1970er Jahren. Ähnlich wie im Anti-Atom-Protest der damaligen Zeit verbanden sich in der Schweizer Opposition gegen Pumpspeicherwerke, Autobahnbau und Transitverkehr lokale mit links-alternativen auswärtigen Aktivistinnen und Aktivisten. Sie eigneten sich dabei existierende Alpenmythen an oder schufen sie neu: Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die auf dem Umschlag des Buches abgebildete archaisch wirkende "Steinfrau", die die Protestierenden 1985 als Mahnzeichen gegen den Bau eines Pumpspeicherwerkes zur Speicherung von Atomstrom errichteten. Diese Proteste führten zur Alpenschutzinitiative, die 1994 per Volksabstimmung in der Schweiz angenommen wurde und dem Transitverkehr durch die Schweiz enge Grenzen setzen sollte.

Kapitel 5 untersucht die Europäisierung der Alpenschutzbewegung, die sich im Gefolge der Alpenschutzinitiative entwickelte und eine europäische Vernetzung und Erweiterung des Schweizer Erfolgs zum Ziel hatte. Hierbei spielten transnationale sozialdemokratische Netzwerke eine wichtige Rolle. Aschwanden zeigt aber auch die Schwierigkeiten transnationaler Vernetzung und Mobilisierung auf. Anders als den Verkehrsclubs, die bereits 1990 mit "Transport and Environment" eine schlagkräftige Lobbyorganisation in Brüssel etabliert hatten, gelang es dem Alpenschutz nicht, eine entsprechende, pragmatisch agierende Organisation bei der EU zu etablieren, nicht zuletzt auch, weil die EU vielfach als Feindbild fungierte. Ende der 1990er Jahre zerfiel das europäische Netzwerk zunehmend.

Kapitel 6 diskutiert, wie die Schweiz versuchte, in den engen Grenzen, die die Alpenschutzinitiative setzte, auch für die EU akzeptable Regeln für den wachsenden Transitverkehr zu etablieren. Dem neoliberalen Zeitgeist entsprechend setzte auch der Alpenschutz dabei auf marktwirtschaftliche Instrumente. Inzwischen hatte sich in der Schweiz die "Avanti Initiative" gebildet, die einen weiteren Straßenausbau für die Schweiz forderte, dem die Alpenschutzinitiative einen Riegel vorgeschoben hatte.

Aschwanden fasst im Schlusskapitel die zentralen Argumente der Arbeit sehr differenziert - unter Rückgriff auf einschlägige Konzepte der Sozialen Bewegungsforschung - zusammen. So erzählt seine Studie weder eine Erfolgs- noch eine reine Niedergangsgeschichte für den Alpenschutz und dessen Europäisierung, sondern zeigt die Möglichkeiten und Grenzen der transnationalen Mobilisierung von Expertise und Zivilgesellschaft auf. Diese hatte zwar zu einer veränderten Problemwahrnehmung und einer "Politisierung der Alpen" geführt, konnte aber den ökonomischen Dynamiken und der strukturellen Macht von EU-Europa und dessen Nachfrage nach Transport nicht effektiv Grenzen setzen. Das ist ernüchternd, und zwar nicht nur aus Schweizer Perspektive. Aber gerade deshalb stellt dieses Buch einen wichtigen Beitrag zur politischen Umwelt- und Zeitgeschichte Europas dar, in der sowohl die Europäische Integration als auch Nicht-EU-Staaten oft aus dem Blick geraten.

Rezension über:

Romed Aschwanden: Politisierung der Alpen. Umweltbewegungen in der Ära der Europäischen Integration (1970-2000) (= Umwelthistorische Forschungen; Bd. 9), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 347 S., 33 Abb., 6 Tbl., ISBN 978-3-412-52134-9, EUR 60,00

Rezension von:
Jan-Henrik Meyer
Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Jan-Henrik Meyer: Rezension von: Romed Aschwanden: Politisierung der Alpen. Umweltbewegungen in der Ära der Europäischen Integration (1970-2000), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 5 [15.05.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/05/36018.html


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