Die Harmonisierungspolitik der europäischen Institutionen mag in vielen Bereichen ebenso notwendig wie vorteilhaft sein und positive Folgewirkungen zeitigen. Im Kultursektor wiese ein solches Ansinnen in die falsche Richtung. Dem trägt auch die Europäische Union, seit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam ausdrücklich mit eigener Kulturkompetenz ausgestattet, weitestgehend Rechnung, indem sie kulturpolitisch zurückhaltend und vorsichtig agiert, indem sie eigene Bemühungen als flankierend versteht, als Ergänzung mitgliedstaatlicher Aktivitäten auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene.
Auch auf dem Feld der Erinnerungskultur bilden Versuche der Vereinheitlichung ein heikles Unterfangen. Schon einem gemeinsamen nationalen Gedenken sind angesichts lokal- und regional-, gruppen- und generationsspezifisch unterschiedlicher Erfahrungen zumeist enge Grenzen gesetzt. Im europäischen Rahmen gilt dies erst recht. Dort kann und darf es zu einer Einschmelzung divergierender bis konfliktueller, nationalstaatlich geprägter Erinnerungsmodi nicht kommen. Angebracht und erstrebenswert wäre vielmehr eine europäische Streitkultur um Vergangenes, die damit produktiv umzugehen und entsprechende Schlüsse für die Zukunft zu ziehen weiß.
Ganz ähnlich lauten die Schlussfolgerungen der Genshagener Tagung "Gedenktage - Lieux de mémoire in europäischer Perspektive" aus dem Jahre 1998, deren Beiträge in dem vorliegenden Bändchen abgedruckt sind. Manche Ausführungen haben eher essayistisch-kursorischen Charakter. So äußert sich Etienne François pointiert zur Tragfähigkeit des französischen Konzepts der Erinnerungsorte in bezug auf die deutschen Verhältnisse, Adam Krzeminski zum polnischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit in den Oder-Neiße-Gebieten. Engagiert behandelt Maurice Agulhon die potenziell fatale Rolle volkspädagogisch verzerrter Gedenkpolitik für den französischen Geschichtsunterricht und die republikanische Staatsbürgerkunde, Jean-François Forges das Spannungsverhältnis von geschehener und erinnerter Geschichte am Beispiel der Shoah.
Andere Beiträge kommen elaborierter und ausführlicher daher. Der von Otto Gerhard Oexle etwa, ein weites erinnerungskulturelles Panorama seit der Antike, das den grundsätzlich gruppengebundenen Charakter jedes Gedenkens sowie die Dialektik von kulturellem Gedächtnis und Geschichte als Wissenschaft unterstreicht. Oder auch Reinhart Kosellecks reich bebilderter Artikel. Anhand von Darstellungen des gewaltsamen Todes auf deutschen und französischen Kriegerdenkmälern gelingt es ihm, den kausalen Nexus von moderner Kriegführung, veränderten ikonologischen Figurationen und dadurch neu aufgeladenen Gedenkinhalten aufzuzeigen. Ebenso Martin Sabrows Abhandlung zu den Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen in der DDR. Überzeugend arbeitet er das inhärente Instrumentalisierungspotenzial staatlich inszenierter Erinnerungskultur heraus, zugleich "die heimliche Privatisierung des Feiertags" durch die Menschen im Zeitverlauf, das heißt die zunehmende Aneignung der Veranstaltung und deren Umdeutung zu eigenen Zwecken und Logiken.
Als weniger vertraut und um so hervorhebenswerter erscheinen die abschließenden Überlegungen von Daniel Dayan und Elihu Katz. In "Handeln durch Rituale" widmen sie sich politischen Inszenierungen im Medienzeitalter, besonders den Interaktionsmustern dreier Gruppen, der Protagonisten, der Medien und des Publikums. Fünf Phasen lassen sich nach Dayan und Katz idealtypisch unterscheiden. Drei davon - das "angekündigte", das "eigentliche" und das "kommentierte" Ereignis - spielen sich innerhalb, die anderen beiden - das ex ante "undenkbare" und das ex post "gedeutete" Ereignis im Sinne einer kollektiven Interpretation - außerhalb der Zeremonie als solcher ab. Deutlich wird, dass politische Inszenierungen nicht per se in demokratischen Defizitkategorien zu denken sind, sondern durchaus Chancen bergen, beispielsweise auf eine Öffnung des öffentlichen Raumes hin zu denen, die ansonsten vielfach ohne Zugang blieben. Es gelte von Fall zu Fall zu prüfen, inwieweit solche Inszenierungen letztlich den Status quo zementieren oder emanzipatorische Wirkungen entfalten.
Wer sich in den vergangenen Jahren mit der erinnerungskulturellen Publikationsflut vertraut gemacht hat, wird kaum erwarten dürfen, ausschließlich auf Neues zu stoßen. Wer sich freilich erste profunde Einblicke in Aspekte historischer Erinnerungsproblematik verschaffen möchte, wird mit Gewinn auf die Artikel zurückgreifen können. Jeder einzelne bietet reichlich Material für weiteres Nachdenken und Forschen, bei allen Unterschieden nach Zeit und Raum, nach Formen, Konstellationen und Vektoren des Gedenkens. Diese erinnerungskulturelle Diversität positiv zu wenden und dialogisch zu nutzen, mit geschichtlichen Konfliktlinien in Europa zu leben, anstatt sie zu verwischen, betrachten die Herausgeber zu Recht als ein "Zeichen von Mündigkeit".
Alexander Escudier: Gedenken im Zwiespalt. Konfliktlinien europäischen Erinnerns (= Genshagener Gespräche; Bd. IV), Göttingen: Wallstein 2001, 166 S., ISBN 978-3-89244-425-1, EUR 14,00
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