Kohle war der Stoff, der die Industrialisierung in Gang gesetzt hat. Kohle trieb aber auch das Schwungrad für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an. Die Kohlewirtschaft in Deutschland, vor allem der Ruhrkohlebergbau, wurde jedoch Ende der 1950er, Anfang der 1960er-Jahre zu einer Krisenbranche, welche die strukturelle Anpassungsfähigkeit eines vormals eminent wichtigen Sektors der deutschen Volkswirtschaft, der Schwerindustrie, behinderte - nicht zuletzt auf Grund von politischen Entscheidungen und Interventionen. Die Krise im Bergbau leitete nicht nur das Ende des "Wirtschaftswunders" ein, sondern stellte Unternehmer, Gewerkschaftler und Politiker vor die große Herausforderung, einen ökonomischen Strukturwandel mittragen zu müssen, der bis heute ganze Industrielandschaften entscheidend verändert hat.
Die einzelnen Aspekte dieses Prozesses zu erforschen und zu analysieren ist das Anliegen des Buches von Christoph Nonn. Dazu lotet er im ersten großen Abschnitt die Position der Kohlewirtschaft innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft in der jungen Bundesrepublik Deutschland aus. Hier setzt sich Nonn mit Forschungsergebnissen auseinander, die seit längerem in der Literatur diskutiert werden: mit der Liberalisierung des westdeutschen Energiemarkts und der Rolle Erhards; dem Streit zwischen Adenauer und Erhard über die Wirtschaftsverfassung sowie über das Selbstverständnis der "Zechenbarone". Vieles in diesem Abschnitt ist nicht neu. Dennoch ist positiv zu bewerten, dass Nonn seine Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex auf die kommende Krise im Ruhrbergbau fokussiert und nicht - wie vielfach üblich - auf die besondere Rolle der Kohlewirtschaft für das "Wirtschaftswunder."
In den folgenden Kapiteln werden die industriellen Beziehungen und die Position der Gewerkschaft IG Bergbau sowie die Haltung der SPD und der CDU zur Entwicklung an der Ruhr und zur Energiewirtschaft schlechthin analysiert. Gegensätze innerhalb der beiden Parteien werden dadurch ebenso offen gelegt wie das Bemühen um Lösungen für die drohende Krise im Ruhrbergbau über die Parteigrenzen hinweg. Etwas quer zum Duktus der vorangehenden Kapitel liegen Nonns Ausführungen über die "Entindustrialisierung" und den Strukturwandel an der Ruhr. Wurden bis dahin vor allem die Position der Betroffenen und die Reaktion der Parteien auf die Bergbaukrise untersucht, so wechselt nun die Perspektive: In zwei Kapiteln werden sehr ausführlich infrastrukturelle Maßnahmen in Ruhrgebiet sowie siedlungs- und strukturpolitische Pläne der SPD, der CDU und der Interessenverbände behandelt. Erst dann kommt Nonn zur Bergbaukrise Anfang der 1960er-Jahre zurück und beschreibt deren Verlauf vom Sturz Adenauers und seines Düsseldorfer "Kö-Piloten", dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsident Meyers, bis hin zu Lösungsansätzen unter Meyers' Nachfolger Heinz Kühn sowie des Kabinetts Erhard beziehungsweise der Großen Koalition in Bonn.
Wahrscheinlich ist es eine Folge der Quellenlage, dass in der Analyse der Bergbaukrise einige wichtige Phasen am Anfang der 1960er-Jahre ausgeblendet und durch die Analyse der getroffenen beziehungsweise beabsichtigten Strukturpolitik im Revier ersetzt werden. Auch die vergleichsweise knappe Darstellung der kulminierenden Bergbaukrise Mitte der 1960er-Jahre und der Versuche zu ihrer Lösung lässt sich wohl auf diesen Tatbestand zurückführen. Andererseits ist zu loben, dass Nonn für seine Untersuchung viele neue und bisher unerschlossene Quellen herangezogen hat, die eine detaillierte Darstellung sowohl zur Position der beiden großen Parteien als auch der Interessenverbände und der Gewerkschaften erlauben. Gerade ihre Haltung und ihr Bemühen um eine Lösung der Krise, aber auch um einen notwendigen Strukturwandel im Revier lassen sich auf dieser Quellenbasis gut herausfiltrieren.
Dagegen erfährt man in Nonns Studie sehr wenig über die eigentlichen "Verursacher" beziehungsweise die Hauptbetroffenen der Bergbaukrise: Die Zechengesellschaften und ihre Belegschaften. Absatz- und Ertragslage, unternehmerische Strategien zur Marktpositionierung beziehungsweise zum Krisenmanagement werden ebenso wenig thematisiert wie die Personalentwicklung und -rekrutierung beziehungsweise der "labour turn-over" auf den Zechen. Nonns Darstellung konzentriert sich daher in erster Linie auf die politischen Dimensionen der Bergbaukrise und lässt die wichtigen ökonomischen Aspekte mehr oder weniger außer Acht. Ein politikhistorischer Zugriff auf die Bergbaukrise im Revier ist angesichts ihrer gravierenden Folgen für die Regierungsarbeit in Düsseldorf und Bonn sicherlich berechtigt, läutete die Krise ja nicht nur das Ende des bundesdeutschen "Wirtschaftswunders" der Nachkriegsjahre ein, sondern auch einen Macht- und Politikwechsel in Bonn. Die Rolle der Politik in diesem Prozess aufzuzeigen ist sicherlich der Verdienst von Nonns Studie. Dennoch: Außer der Ebene der Politik ist auch die der Wirtschaft, und zwar auf makro- und mikroökonomischer Ebene zu analysieren, will man überzeugende Antworten auf die Fragen erhalten, warum der Bergbau in die Krise geriet und wie er diese meistern wollte. Diese Fragen werden in Nonns Studie nicht beantwortet. Zumindest ein oder zwei Kapitel über die Lage der Zechengesellschaften und die diversen Versuche zur Krisenbewältigung hätten das Bild von Nonns Darstellung deutlich abgerundet, die sich so als Krisenbeschreibung aus Sicht der Politik präsentiert. Der Gesamteindruck wird dadurch ebenso etwas getrübt wie durch einige sprachliche Unebenheiten.
Christoph Nonn: Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958-1969 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 149), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 422 S., Anhang: 5 Tabellen, ISBN 978-3-525-35164-2, EUR 44,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.