Der Mediävist und Frankreichhistoriker Alexander Cartellieri ist im Gegensatz zu seinem Altersgenossen Friedrich Meinecke nicht in das Pantheon der deutschen Geschichtswissenschaft eingegangen. In Westeuropa hingegen, zumal in Frankreich, hatte Cartellieri zu seinen Lebzeiten eine sehr positive Resonanz erfahren. Drei thematische Schwerpunkte kennzeichnen sein Werk: Ausgehend von Arbeiten zur mittelalterlichen Kirchengeschichte, konzentrierte er sich danach vornehmlich auf Themen der französisch-westeuropäischen Geschichte. Wohl nicht zufällig galt Cartellieri "als der Franzose unter den Historikern des späten Kaiserreiches". Zuletzt trat er als Autor einer Weltgeschichte hervor. Dass man sich nach seinem Tod kaum an den Jenaer Historiker erinnerte, war unter anderem dadurch bedingt, dass seine umfangreiche Privatbibliothek von der Universitätsbibliothek Jena angekauft und danach gut abgeschirmt vor den Blicken interessierter Nutzer eingelagert wurde.
Angesichts dieser Lage kann es als ein Glücksfall gewertet werden, dass Matthias Steinbach in der deutschen Nachwendezeit gewissermaßen über den Jenaer Bestand Cartellieris 'gestolpert' ist. Steinbachs Finderglück und seine wissenschaftliche Neugier mündeten in die vorliegende Studie, die 1998/99 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität als Dissertation angenommen wurde. Als Grundlage seiner Recherchen dienen neben den gedruckten Hinterlassenschaften Cartellieris vor allem die zwischen 1878 und 1955 geführten Tagebücher sowie eine weitgefächerte Korrespondenz. Auf dieser Grundlage hat Steinbach eine gut recherchierte und flüssig geschriebene Biografie über einen 'etablierten Außenseiter' der deutschen Geschichtswissenschaft vorgelegt, die weit über den Protagonisten hinausreicht. Im Kern weiß Steinbach zu zeigen, dass in der Geschichtsschreibung des Jenaer Bildungsaristokraten eine Fülle moderner Ansätze angelegt waren: Das gilt für Fragen der Mentalitätengeschichte sowie für Untersuchungen zur Geschichte der öffentlichen Meinung und die neuere Nationalismusforschung. Etwas überspitzt formuliert Steinbach in diesem Zusammenhang: Das Schema "Lamprecht gegen den Rest der Welt" müsse relativiert werden (262).
Steinbach verfolgt mit seiner Biografie Cartellieris einen hoch gesteckten Anspruch, mit dem dieser "innerhalb des Jenaischen akademischen Milieus, der Bildungslandschaft zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus sowie der deutschen und europäischen Geschichtswissenschaft" verortet werden soll (6). Die Hauptachse der Darstellung bildet jedoch eine durchaus herkömmliche Schilderung des akademischen Werdegangs sowie der Forschung und Lehre Cartellieris. Hierbei irritiert gelegentlich eine geradezu unbekümmerte Begrifflichkeit des Autors, etwa da, wo er von den "beinhart-männlichen" (!) Ansätzen in den Dissertationen der Schüler Cartellieris spricht (270). Auch die fachdidaktischen Betrachtungen am Ende seines Buches wirken überflüssig. Gleichwohl hat Steinbach einen wichtigen Beitrag zur deutschen Wissenschaftsgeschichte vorgelegt.
In ihm schildert er zunächst den wirtschaftsbürgerlichen familiären Hintergrund und das kosmopolitane Aufwachsen Cartellieris in Odessa und Paris. Die anschließenden Etappen des akademischen Werdegangs führten Cartellieri an klassische Stationen der Sozialisation deutscher Geisteswissenschaftler. Im Ergebnis mündeten sie in ein andauerndes Spannungsverhältnis zwischen dem Festhalten an Rankes Idee einer germanisch-romanischen Kultureinheit auf der einen Seite und einer betont nationalen Gesinnung auf der anderen Seite. Steinbach erkennt hierin zu Recht die Grundlage für die vielfältigen Ambivalenzen im Werk, aber auch in den politischen Positionsnahmen Cartellieris. Dieser gehörte jedoch nicht zu den Präzeptoren der deutschen Geschichtswissenschaft, die selbstbewusst die Rolle eines Erziehers ihrer Nation einnehmen wollten. Das zeigte sich besonders in der Phase hoch aufgepeitschter nationaler Leidenschaften im Ersten Weltkrieg. Zwar beteiligte sich Cartellieri zeitweilig an der Verbreitung nationaler Kriegspropaganda, aber an der Konstruktion eines wesensmäßigen Gegensatzes zwischen Westeuropa und dem Deutschen Reich wollte er nicht mitwirken. Auch nach 1918 äußerte sich seine reservierte Haltung darin, dass er einerseits gegen die Ergebnisse des Versailler Vertrages agitierte, andererseits aber im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Historiker nicht auf ein national verengtes Geschichtsbild einschwenkte. Im Nationalsozialismus wiederum trat er nicht als Propagandist des Gewaltregimes hervor, obwohl er sich durchaus von Hitlers außenpolitischen Erfolgen angetan zeigte (231).
Nicht der politische Historiker steht folglich im Vordergrund der Betrachtungen Steinbachs, sondern der Politikhistoriker, der mit einer mehrbändigen Biografie des Kapetingerkönigs Phillipp II. August (1165-1223) sein wichtigstes wissenschaftliches Werk verfasste. Nach seiner Dissertation über die Jugendzeit Phillips II. entstand dieses insgesamt vierbändige Werk bis 1922, dessen Fragestellung sein gesamtes Forscherleben dominieren sollte. Während Cartellieri zunächst vornehmlich das politische Umfeld des Kapetingerkönigs nachzeichnete, legte er bald auch das Bestreben an den Tag, über die Lebensbeschreibung einer Herrschergestalt hinauszugelangen und diese zur Darstellung einer politischen Epoche auszuweiten. Im Gesamturteil ist Steinbach sich nicht ganz einig. Einerseits sei Cartellieri seinem individualistisch-chronologischen Paradigma des Historismus bis zuletzt treu geblieben (116), andererseits aber sei in seinem Hauptwerk das Bemühen um eine universale Ausrichtung im Sinne Rankes in einer bislang nur wenig beachteten Spielart der Rankerenaissance innerhalb der deutschen Mediävistik angelegt (50). Dass Cartellieri aus veränderten politischen Rahmenbedingungen historiografische Konsequenzen zu ziehen wusste, zeigte sich vor allem im Ersten Weltkrieg, als er den Plan zu einer Weltgeschichte niederlegte. Konkret entstand in den Jahren 1927 bis 1947 eine politische Geschichte der Entstehungs- und Anfangsphase der westlichen Welt im Mittelalter in ihrer Verzahnung mit der orientalischen und arabischen Entwicklung (244).
Neben den Werkbetrachtungen stechen in dem Buch Steinbachs Ausführungen zur Lage der historischen Forschung an der Friedrich-Schiller-Universität, aber auch zum persönlichen Netzwerk des Forschers hervor. Zu den historiographisch besonders wertvollen Ausblicken in diesem Zusammenhang zählt der Austausch Cartellieris mit Henri Pirenne, der ab 1916 als Zivilinternierter in Jena weilte. Zu den nicht geringen Verdiensten Steinbachs gehört außerdem, dass sein Buch auf bestehende Forschungsdesiderate aufmerksam macht. So liegt bis heute keine profunde Geschichte der internationalen Beziehungen innerhalb der Geistes- und speziell der Geschichtswissenschaften vor, für die Cartellieris Lebens- und Berufsweg einen hervorragenden Gegenstand abgibt. Außerdem zeigt Steinbachs Arbeit wie nutzbringend es sein kann, die Geschichte der ostdeutschen Universitäten tiefergehend zu erforschen. Sein Hauptverdienst aber ist es, einen Westeuropahistoriker in einer Zeit "wieder entdeckt" zu haben, in der die grenzüberschreitende Neuorientierung nationalstaatlich eingehegter Historiografien zu einer aktuellen Herausforderung geworden ist.
Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867-1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland (= Jenaer Beiträge zur Geschichte; Bd. 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, 340 S., ISBN 978-3-631-37496-2, EUR 45,50
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