Der Jahresband 2002 der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik bildet den Auftakt eines neuen Periodikums, das im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik künftig regelmäßig erscheinen soll. Im eigenen Verständnis möchte diese neue Zeitschrift eine Lücke schließen, die in der Tat besteht. Die bereits vorhandenen geschichtsdidaktischen Zeitschriften thematisieren häufig und gewinnbringend eher unterrichtspraktische und methodologische Fragen. Ein Forum aber, das den wissenschaftlichen Diskurs der Geschichtsdidaktik in der Weise in den Mittelpunkt stellt, wie es in diesem Jahresband 2002 zu sehen und wie es auch weiterhin geplant ist, fehlte bisher. Während 2003 noch einmal ein Jahresband erscheinen soll, werden sich die dann zweimal jährlich publizierten Ausgaben ab 2004 in einen Themenschwerpunkt mit drei bis vier Aufsätzen und einen umfangreichen Rezensionsteil gliedern. Diesem Muster folgt im Prinzip auch schon der Jahresband, wenngleich dieser natürlich umfangreicher ausgefallen ist als die projektierten Einzelhefte. In elf Beiträgen wird eine kompakte Übersicht über Stand und Aufgaben der gegenwärtigen deutschen Geschichtsdidaktik gegeben. Im Anschluss daran folgt noch ein Rezensionsteil, in dem die wichtigsten Neuerscheinungen der Jahre 1999 und 2000 besprochen werden.
Den Auftakt des Jahresbandes bildet Hartmut Voit mit seinen "Vorüberlegungen zu einer Didaktik der Zeitgeschichte", die, wie Voit feststellt, in den schulischen Lehrplänen einen breiten Raum einnimmt. Er vermutet aber, dass dies auch an einem zuweilen "kurzschlüssigen und deshalb fragwürdigen Aktualitätsverständnis" liegen könne, "das Geschichte nur als unmittelbare Vorgeschichte der Gegenwart begreift" (9). Die Konsequenz aus diesen Beobachtungen und Vermutungen ist die Forderung einer Didaktik der Zeitgeschichte, die im Ganzen noch Desiderat ist. Unter den Punkten, die Voit als "besondere Chancen" dieser Epoche "für das historische Lernen auf allen Ebenen" (13) aufführt, ist insbesondere der Hinweis auf die "prinzipielle Unabgeschlossenheit der Zeitgeschichte" (14) und die daraus resultierende "Unfertigkeit des historischen Urteils" (14) von Bedeutung. Dieser Umstand ermögliche es den Lernenden, "aus der Rolle der Adressaten und Abnehmer einer interpretierten Geschichtsdarstellung herauszutreten und ihre eigene Vergangenheit selbständig und kommunikativ zu verhandeln" (14). Als besonders wichtige Quellen für einen schulischen Unterricht der Zeitgeschichte nennt Voit "Zeitzeugenbefragungen", "Photographie" und "Film".
Waltraut Schreiber bietet in ihrem Beitrag "Reflektiertes und (selbst-) reflexives Geschichtsbewusstsein durch Geschichtsunterricht fördern - ein vielschichtiges Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik" einen Überblick über die Genese des anspruchsvollen und häufig missverstandenen Begriffs "Geschichtsbewusstsein". Ausgehend von Karl-Ernst Jeismann, dem es zu verdanken ist, dass die Förderung von Geschichtsbewusstsein zentrales Ziel historischen Lernens geworden ist, über Jörn Rüsen, Peter Schulz-Hageleit, Hans-Jürgen Pandel, Bernd Schönemann bis Bodo von Borries skizziert Schreiber zuerst die Weiterentwicklung der Diskussion. Anschließend stellt sie aber noch ein tiefer gehendes Konzept zur zeitgemäßen schulischen Umsetzung der Sensibilisierung von Geschichtsbewusstsein vor, das im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts entwickelt wurde.
Bodo von Borries bietet in seinem Beitrag eine Übersicht empirischer Zugriffe auf den Begriff "Geschichtsbewusstsein", wobei er in der Beschäftigung der deutschen Geschichtsdidaktik mit diesen empirischen Daten jedoch Mängel sieht. Er fordert daher vehement eine stärkere Berücksichtigung der außerdeutschen Entwicklungspsychologie, die Erstellung komplexer Konzepte "einer gleichsam klinischen Erprobung (54f.) und die Durchführung einer "empirischen Studie großen Ausmaßes" (55). Allerdings macht sich von Borries keine Illusionen über die Verwirklichungschancen seiner Forderungen: "Angesichts der deutschen Wissenschaftskultur und -finanzierung sowie der Tradition der deutschen Geschichtsdidaktik bleibt das sicherlich zurzeit ein Wunschtraum" (55). Der Hinweis auf diese Tradition als vermeintlicher Hemmschuh seiner Wünsche bleibt allerdings etwas rätselhaft.
"Methoden geschichtsdidaktischer Forschung" zeigt Wolfgang Hasberg auf. Er liefert einen präzisen Überblick über deren grundsätzliche Methoden und Anliegen, der durch die beigefügten Grafiken noch zusätzlich an Wert gewinnt. Dieser Beitrag könnte sicherlich in Seminaren sinnvoll eingesetzt werden, verstehen die meisten Studierenden Geschichtsdidaktik doch tatsächlich auch heute noch hauptsächlich als Methodenlehre der Schulpraxis. Dass das Erkenntnisinteresse dieses Faches jedoch weit darüber hinaus reicht, zeigt Hasberg überzeugend auf.
Einen sehr wichtigen Aspekt der Forschung spricht Bernd Schönemann mit seinem Beitrag "Geschichtskultur als Forschungskonzept der Geschichtsdidaktik" an. Der vor über 25 Jahren erfolgte Paradigmenwechsel weg von einer Wissenschaft der Schulmethode hin zu einer Wissenschaft, die sich mit dem "Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft" beschäftigt, rückte den Aspekt der Geschichtskultur geradezu zwangsläufig in das Blickfeld der Geschichtsdidaktiker. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Frage nach den Formen, den Wirkungen und Zielsetzungen außerschulischen Umgangs mit Geschichte, wie er sich in Museen, Archiven oder Denkmälern, aber eben auch in Film, Fernsehen, Comic oder Werbung zeigt. Mit Nachdruck wirbt Schönemann für die Bedeutung dieser Auseinandersetzung für jedes Berufsfeld, in dem mit Geschichte gearbeitet wird. Dem Wunsch Schönemanns, dass die Kategorie "Geschichtskultur" auch für Studierende, die kein Lehramt anstreben, einmal selbstverständlicher Teil ihres Studiums sein wird, kann man sich im Übrigen nur anschließen.
Eine Kritik der "real praktizierten Methoden" des Geschichtsunterrichts (92) entwickelt Gerhard Henke-Bockschatz in seinem Beitrag "Von den Lehrmethoden zu den Lernmethoden: Konsequenzen für die geschichtsdidaktische Forschung". Er sieht in der Methodenreflexion der deutschen Geschichtsdidaktik Defizite, denn diese hat es in seinen Augen "nur ansatzweise und in groben Umrissen zu einer Methodik gebracht, die dem neuen theoretischen Profil entspricht" (93). Ausgehend von diesem Befund stellt Henke-Bockschatz Forderungen an die Forschung, die insgesamt dann eine Berechtigung haben, wenn man seiner Grundannahme folgt. Unter anderem stehen für ihn noch "intensivere Untersuchungen zu den einzelnen Phasen eines geschichtsunterrichtlichen Artikulationsschemas aus, das sich dem didaktischen Konzept der Förderung des Geschichtsbewusstsein verpflichtet weiß" (96).
Ein Plädoyer für den stärkeren Einbezug der Weltgeschichte in Unterricht und geschichtsdidaktische Forschung hält Susanne Popp in ihrem Beitrag "Geschichtsbewusstsein jenseits der Nationalhistorie?". Der Umstand, dass Weltgeschichte trotz der unübersehbaren Präsenz einer weltweiten politischen und ökonomischen Veränderung durch die so genannte "Globalisierung" im Geschichtsunterricht und in den Lehrplänen eine noch immer untergeordnete Rolle spielt, ist in der Tat bemerkenswert. Dass diese Frage jedoch eine Fülle an Schwierigkeiten aufwirft, zeigen die von Popp selbst angeführten Problemfelder deutlich auf. Das Verhältnis von Nationalgeschichte und Weltgeschichte ist dabei nur ein Problemfeld von vielen. Die Forderung an die Geschichtsdidaktik, sich damit zu beschäftigen, gewinnt angesichts der Fülle ungelöster Fragen aber nur an Gewicht.
Dem Thema "Interkulturelles Geschichtslernen" widmet sich Bettina Alavi in ihrem gleichnamigen Beitrag. Gerade die jüngste deutsche Geschichte seit der Wiedervereinigung zeigt deutlich, dass interkulturelles Lernen grundsätzlich eine wichtige Aufgabe schulischer Erziehung sein sollte. Die historische Perspektive kann dabei wertvolle Dienste leisten. Die Veränderungen durch den zunehmend multiethnischen Charakter der deutschen Gesellschaft, durch die Schaffung eines gemeinsamen Europa und, wie schon bei Popp angeklungen, durch die Globalisierung verlangen nach Alavi auch eine Beschäftigung des Geschichtsunterrichts und der Geschichtsdidaktik mit allen Formen interkulturellen Lernens.
"Geschichte als Steinbruch?", fragt Klaus Bergmann in seinem Beitrag, in dem er eine Auseinandersetzung thematisiert, die nicht immer ohne und, wie Bergmann selbst zeigt, auch heute noch mit Polemik geführt wird. Die Gegner eines Gegenwartsbezuges werfen diesem eine "unzulässige Politisierung des Geschichtsunterricht" vor, der sich in der Vergangenheit als Steinbruch nur dort bediene, wo das historische Exempel unliebsame, aber selektiv herausgegriffene Phänomene der Gegenwart erklären und verurteilen helfe. Bergmann hält diesen Vorwürfen ein sinnvolles Konzept entgegen, das die Vorwürfe eigentlich mit einer sehr simplen Feststellung bereits entkräftet: "Der Gegenwartsbezug ist immer da, weil historisches Denken nun einmal in der Gegenwart stattfindet" (148).
"Die Curriculumforschung ist tot - es lebe die Interessenpolitik!", ruft Hans-Jürgen Pandel in seinem überaus kämpferischen Beitrag aus. Strittige, allerdings von Pandel auch schon an anderer Stelle geäußerte Kernthese seines Beitrags ist die pauschale Behauptung, dass bei der Erstellung von Lehrplänen zunehmend politische, universitäre oder vereinsgebundene Interessenspolitik zu Lasten der tatsächlich wichtigen Lehr- und Lerninhalte betrieben werde. Kann man Pandels Ausführungen über den Wandel der politischen Rahmenbedingungen für die Erstellung von Richtlinien und Lehrplänen durchaus noch folgen, sind seine Ausführungen zum Thema Interessenspolitik inhaltlich und in der gewählten Form der Auseinandersetzung doch fragwürdig. Insbesondere die so genannten "Epochenlobbyisten" (155 ), von denen ihm Althistoriker und Mediävisten am verdächtigsten zu sein scheinen, geraten in den Blickpunkt seiner Kritik. Pandel, der seit vielen Jahren Erfahrung als Mitglied von Richtlinienkommissionen hat, wähnt diese in einem Pakt mit Interessenspolitikern, die zur Durchsetzung partikularer Wünsche die legitimen Ansprüche der Schüler geradezu mit Füßen treten. Dass bei der Erstellung von Lehrplänen viele Köche den Löffel in die Suppe halten wollen, dürfte ebenso hinlänglich bekannt sein, wie der Umstand, dass man sich jeden Lehrplan in manchen Dingen anders wünschen könnte. Wie man sich diesen aber anders wünscht, scheint doch auch in vielerlei Hinsicht wieder von den eigenen Belangen abhängig zu sein. Es bleibt unklar, ob Pandel hier nicht nur die vermeintliche Interessenspoliktik der einen Seite gegen die der anderen ausspielen möchte. Die Berufung auf die wahren Schülerinteressen wirkt hier wie jede hehre Forderung in einer polemisch geführten Diskussion eher rhetorisch denn überzeugend. Den Umstand zu übersehen oder zu verschweigen, dass Althistoriker und Mediävisten in der Tat in Bezug auf ihre Bedeutung für schulisches historisches Lernen in die Defensive geraten sind und sie sich eben nicht nur aus reinem Selbsterhaltungstrieb, sondern auch aus der Einsicht heraus, in gleichem Maße wie die Neuzeit etwas für den Geschichtsunterricht leisten zu können, gegen ihre Marginalisierung wehren, ist wenig fair und schadet der Argumentation Pandels. Die zum Teil richtigen weiteren Beobachtungen und Forderungen gehen in der Polemik und dem doch etwas manichäischen Erklärungsschema leider unter.
Den letzten Beitrag des Jahresbandes hat Andreas Körber beigesteuert. Er erschließt der Geschichtsdidaktik das Feld "Neue Medien und Informationsgesellschaft". Von der wachsenden Bedeutung des Internets für historisches Lernen oder Nichtlernen kann sich jeder Lehrer in seiner Klasse, jeder Dozent in seinem Seminar überzeugen. Dass dieser Bereich also künftig eine wichtige Rolle auch für die Forschung spielen muss, ist eine berechtigte Forderung Körbers.
Insgesamt ist der Jahresband 2002 der neuen "Zeitschrift für Geschichtsdidaktik" ein gelungener Einstieg. Wenngleich die meisten Aufsätze letztlich nicht mehr bieten wollen als einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand, sind es gerade diese Beiträge, die dem Leser das weite Feld der Geschichtsdidaktik sehr gewinnbringend strukturieren. Insbesondere der Universitätslehrer wird in diesen Beiträgen wertvolles Material finden, um in seinen Seminaren grundlegende Fragen verständlich machen zu können. Doch auch die Beiträge, die Perspektiven entwerfen, bieten gute Anregungen und markieren Forschungsfelder, um die sich die Geschichtsdidaktik in Zukunft kümmern muss und kümmern wird. Und auch daran, dass in einen lebendigen Wissenschaftsdiskurs zuweilen ein Schuss Polemik gehört, wird der Leser nachdrücklich erinnert.
Bernd Schönemann / Waltraud Schreiber / Hartmut Voit (Hgg.): Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Jahresband 2002, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2002, 244 S., ISBN 978-3-87920-360-4, EUR 26,80
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