Als Paul Fridolin Kehr (1860-1944) im Jahr 1896 das Göttinger Papsturkundenwerk ins Leben rief, glaubte er in absehbarer Zeit eine Edition aller Papsturkunden von der Gründung der Kirche bis zum Jahr 1198 vorlegen zu können. Der Einschnitt war nicht, wie man angesichts der Bedeutung Innocenz' III. (1198-1216) für das Papsttum meinen könnte, historisch bestimmt, sondern durch die Überlieferungssituation des päpstlichen Urkundenmaterials. Mit dem Jahr 1198 setzt die fast lückenlose Reihe der Registerbände im Vatikanischen Archiv ein, in die (bei weitem nicht alle) auslaufenden Briefe und Urkunden sowie bedeutende eingegangene Stücke eingetragen sind. Die Register aus der Zeit vor 1198 sind dagegen von zwei Ausnahmen abgesehen sämtlich noch im 13. Jahrhundert verloren gegangen. Das Anliegen des Protestanten Kehr war vornehmlich politischer Natur. Anhand der Sammlung und Publikation des frühen Materials sollten Bedeutung und Wirken des Papsttums in der mittelalterlichen Welt demonstriert werden [1].
Im 21. Jahrhundert glaubt niemand mehr an ein Erscheinen dieser Urkundenedition in absehbarer Zeit. Zu umfassend ist die Aufgabe, etwa 25-27.000 bis über die Grenzen Europas hinaus verstreute Urkunden nach dem wissenschaftlichen Standard der Kaiser- und Königsurkunden-Bände der Monumenta Germaniae Historica, die Kehr als Vorbild ansah, zum Druck zu bringen. Zu gering sind auch die Möglichkeiten einzelner Forscherinnen und Forscher, sich ausschließlich dieser Aufgabe widmen zu können, zumal dem stets unter deutscher Leitung befindlichen Unternehmen von Anfang an eine solide Langzeitfinanzierung fehlte. Bescheiden sind die Mittel der 1931 von Papst Pius XI. (1922-1939) ins Leben gerufenen Stiftung, unter deren Namen das Papsturkundenwerk seitdem firmiert.
Inhaltlich aufbauen konnten Kehr und seine Mitarbeiter auf die zuerst unter dem Titel "Regesta Pontificum Romanorum" erschienenen Bände von Philipp Jaffé (1819-1870) in der zweiten, hauptsächlich von Samuel Loewenfeld (1854-1891) überarbeiteten Auflage von 1888 mit etwa 18.000 Kurzregesten von Papsturkunden. Die erforderliche Nachlese wurde in den Archiven der Institutionen (Erzbistümer, Bistümer, Pfarreien, Kirchen, Klöster, Stifte und Städte) und Personen, die Briefe oder Urkunden empfangen hatten, durchgeführt und nach Ländern (in ihren modernen Grenzen) organisiert. Als Ertrag dieser Arbeit erschienen zunächst ausführliche Archivberichte samt Edition von bisher nicht oder nur unzureichend gedruckten Urkunden und Briefen von Päpsten, aber auch von päpstlichen Legaten und delegierten Richtern. Erst durch deren Berücksichtigung wird die Intensität der Beziehungen zwischen dem Papsttum sowie den Ortskirchen und Klöstern offenkundig. Diese Berichte wurden größtenteils unter dem Titel "Papsturkunden in [...] (Italien, Frankreich, England, Spanien usw.)" publiziert [2]. Als wesentlich schwieriger erwies sich der zweite Schritt: die Aufarbeitung des Materials in Form von ausführlich kommentierten Regesten mit Angaben zur handschriftlichen Überlieferung sowie bisherigen Drucken und älteren Regestenwerken, wiederum länderweise nach Empfängern geordnet. Bezeichnenderweise wurde dieser Weg über viele Jahrzehnte nur von Kehr selbst sowie seinem Schülerkreis beschritten und mündete in zehn Bände für Italien (Italia Pontificia, erschienen zwischen 1906 und 1975) sowie bisher sieben Bänden für Deutschland (Germania Pontificia, erschienen zwischen 1911 und 1992). Der erste Band für Frankreich (Gallia Pontificia: Erzdiözese Besançon) erschien erst 1998.
Zu den letzten Mitarbeitern von Kehr am Papsturkundenwerk gehörte Theodor Schieffer (1910-1992). Zwischen 1963 und 1987 hatte er selbst nach Kehr und Walther Holtzmann die Leitung der Pius-Stiftung inne, bevor ihn Rudolf Hiestand in dieser Funktion ablöste [3]. In den 24 Jahren von Schieffers Führung wurde besonders die Germania Pontificia maßgeblich vorangetrieben, indem er die Bände für die Kirchenprovinz Hamburg-Bremen (Germ. Pont. VI, zusammen mit Wolfgang Seegrün) und für die Erzdiözese Köln (Germ. Pont. VII) selbst erstellte und seine Schüler Hermann Jakobs und Egon Boshof für die Bearbeitung der Bände über die Kirchenprovinzen Mainz und Trier gewinnen konnte [4]. Nach einer Bearbeitungsdauer von lediglich vier Jahren lieferte Schieffer schließlich wenige Wochen vor seinem Tod das druckfertige Manuskript für den neunten Band der Germania Pontificia über die nördlichen, rechts des Rheins gelegenen Kölner Suffraganbistümer Utrecht, Münster, Osnabrück und Minden ab und schloss damit die geografische Lücke zwischen Köln und Hamburg-Bremen [5]. Auf Grund der späten Christianisierung dieser Gegenden durch angelsächsische Missionare und der späten Bistumsgründungen erst gegen Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts blieben die Beziehungen zum Papsttum bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts spärlich; wirklich bedeutsam wurden sie erst im 12. Jahrhundert.
Gewisse Hindernisse ("varia impedimenta iterum iterumque ex novo obstiterunt", wie es im Vorwort von Rudolf Hiestand heißt) haben eine zügige Drucklegung dieses Bandes verhindert, weshalb das Erscheinungsjahr 2003 nunmehr mit dem Namen eines bereits 1992 verstorbenen Forschers verbunden ist. Der langen Zeitspanne zwischen Fertigstellung und Drucklegung wurde aber insofern Rechnung getragen, als die einschlägige Forschung bis zum Jahr 2000 berücksichtigt ist und sich daraus ergebende notwendige Korrekturen und Ergänzungen eingearbeitet sind. Überdies werden als Nachtrag alle relevanten Nummern des erst jüngst in der Reihe der Regesta Imperii erschienenen ersten Bandes der Regesten Papst Lucius III. (1181-1185) für die Zeit von 1181 bis 1184 geboten [6].
Was Theodor Schieffer geleistet hat, lässt sich in schlichten Zahlen ausdrücken: Nahezu 300 kommentierte Regesten auf 228 Druckseiten enthält dieser Band. Davon betreffen 154 die Päpste selbst, 54 ihre Legaten sowie die von der Kurie delegierten Richter. 87 Regesten fassen Briefe von verschiedenen Personen an die Kurie zusammen. Aufgelistet und zugewiesen sind sämtliche Regesten in zwei chronologisch angelegten Listen am Anfang des Bandes ("Elenchus pontificum Romanorum quorum acta in hoc volumine continentur", p. IX-XIX, zugleich die Konkordanz mit dem Regestenwerk von Jaffé in der zweiten, überarbeiteten Auflage; "Elenchus personarum quae Romanis pontificibus litteras miserunt", p. XX-XXVI). Gemäß dem Anspruch des Unternehmens auf möglichst lückenlose Erfassung aller Aktionen der Päpste, ihrer Legaten und ihrer delegierten Richter wurden nicht nur die noch erhaltenen Urkunden und Briefe (117, davon 26 im Original) berücksichtigt, sondern auch die verlorenen Urkunden (Deperdita) und die Nachrichten über Regierungshandlungen in historiografischen Quellen (87, mit * vor der Nummer gekennzeichnet). In der Dokumentation dieses Materials liegt auch der wesentliche Erkenntnisfortschritt gegenüber der zweiten Auflage des Jaffé, wo Deperdita und chronikalische Nachrichten weitgehend unbeachtet blieben. Von den original oder abschriftlich heute noch erhaltenen Papsturkunden wurden, soweit ich sehe, letztlich nur drei nicht bei Jaffé-Loewenfeld verzeichnet: Germ. Pont. IX, S. 123 Nr. 39a zu Calixt II.; S. 55 Nr. 5 zu (Gegenpapst) Viktor IV.; S. 35 Nr. 12 zu Alexander III. Der Neufund eines andernorts weder gedruckten noch als Regest vorgestellten Schriftstücks ist für diesen Band nicht zu vermelden. Von den 14 hier verzeichneten (mehrheitlich für die Zeit vor 1000) gefälschten Papsturkunden verdient besonders das noch im Original erhaltene, auf Hadrian IV. (1154-1159) gefälschte Exemtionsprivileg für das Kanonissenstift Fischbeck (an der Weser) Beachtung (JL 10407, Germ. Pont. IX, S. 185 Nr. 14). Die Echtheitsdiskussion um dieses außerordentliche Stück ist mitsamt den unterschiedlichen Auffassungen, die Theodor Schieffer und Rudolf Hiestand in diesem Zusammenhang vertreten, im ausführlichen Kommentar zu dem Regest wiedergegeben (S. 185 f.).
Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass die Bände des Papsturkundenwerks einen eigenen, von der strengen Norm der Papstregesten abweichenden Charakter aufweisen. Nicht die päpstliche Zentrale steht im Vordergrund, sondern die empfangende Institution in ihrem Verhältnis zum Papsttum. Entsprechend werden zu den 32 in Germania Pontificia IX berücksichtigten geistlichen Institutionen, die heute in den Niederlanden, in Westfalen und in Niedersachsen liegen, einleitend deren Geschichte (bis in die jüngste Zeit) und die Archivverhältnisse erörtert [7]. Man würde diesen sehr präzise formulierten und inhaltsreichen Vorbemerkungen, die mit Quellen- und Literaturangaben versehen sind, eine breite Rezeption wünschen, doch dürfte ihre Abfassung in Latein dem entgegenstehen. Von dieser Festlegung auf das Lateinische, die sich aus dem selbstverständlichen Umgang mit Latein als Wissenschaftssprache im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie aus dem grenzüberschreitenden Ansatz der Papsturkundenforschung erklärt, ist man erstmalig mit Band 1 der Gallia Pontificia abgewichen (nur der Regestentext selbst ist noch in lateinischer Sprache gehalten, der Kommentar zu den Regesten und die Einleitungen sind französisch abgefasst). Mit dem Erscheinen der ersten Bände für Südosteuropa wird man sich aus nahe liegenden Gründen aber zumindest auf eine moderne Wissenschaftssprache einigen müssen.
Germania Pontificia IX gehört zu den klassischen Hilfsmitteln der historischen Mediävistik, die für das ausgebildete Fachpublikum konzipiert sind. Der exakten Gestaltung der Regesten entspricht deren knappe, auf die wesentlichen Fragen der Forschung zielende Kommentierung. Theodor Schieffer konnte das Erscheinen seines Werkes nicht mehr erleben, nachkommenden Forschungsgenerationen hat er ein erstrangiges Produkt historischer Grundlagenforschung hinterlassen. Sie werden es ihm danken.
Anmerkungen:
[1] Zur Geschichte des Göttinger Papsturkundenwerks hat der jetzige Leiter Rudolf Hiestand mehrere Publikationen vorgelegt. Vergleiche zuletzt Rudolf Hiestand: Die Göttinger Akademie als Trägerin eines internationalen Forschungsunternehmens: Das Papsturkundenwerk, in: Rudolf Smend / Hans Heinrich Voigt (Hg.): Die Wissenschaften in der Akademie. Vorträge beim Jubiläumskolloquium der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen im Juni 2000, Göttingen 2002, S. 321-341 auch zum Folgenden.
[2] Die bis 1983 erschienenen Archivberichte und Vorarbeiten sind zusammengestellt bei Rudolf Hiestand: Initienverzeichnis und chronologisches Verzeichnis zu den Archivberichten und Vorarbeiten der Regesta Pontificum Romanorum (MGH Hilfsmittel; 7), München 1983. Zu den seither erschienenen Bänden vergleiche ders.: Die Leistungsfähigkeit der päpstlichen Kanzlei im 12. Jahrhundert mit einem Blick auf den lateinischen Osten, in: Peter Herde / Hermann Jakobs (Hg.): Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert (Archiv für Diplomatik; Beiheft 7), Köln / Weimar / Wien 1999, S. 1-26, hier S. 3, Anm. 7.
[3] Zu Schieffers Verdiensten um das Papsturkundenwerk vergleiche Rudolf Hiestand: Theodor Schieffer und die Regesta Pontificum Romanorum, in: Theodor Schieffer 1910-1992, o.O. und o.J. [München 1993], S. 29-36 (im Handel nicht erhältlich).
[4] Von Hermann Jakobs liegt bisher Germ. Pont. IV für die Erzdiözese Mainz vor (mit der Reichsabtei Fulda und den Regesten für den hl. Bonifatius). Band V für die nördlichen Suffragane von Mainz wird geteilt. Kurz vor dem Erscheinen steht Germ. Pont. V/1 für die Diözesen Paderborn und Verden. Hildesheim und Halberstadt sollen in Germ. Pont. V/2 erscheinen. Eugen Boshof hat 1992 Germ. Pont. X für die Erzdiözese Trier vorgelegt und bearbeitet Germ. Pont. XI für die Suffragane von Trier. Jürgen Simon, ein Schüler von Rudolf Hiestand, bearbeitet für Germ. Pont. XII die Kirchenprovinz Magdeburg. Die Kirchenprovinz Salzburg sowie die südlichen Suffraganbistümer von Mainz hatte Albert Brackmann bereits zwischen 1911 und 1935 in den Bänden Germ. Pont. I, II/1, II/2 und III vorgelegt. Die Bearbeitung der Mainzer Suffraganbistümer Prag und Olmütz ruht.
[5] Die ebenfalls Köln unterstehende linksrheinische Diözese Lüttich wird auf Grund der Materialmenge als eigener Band (Germ. Pont. VIII) von Wolfgang Peters bearbeitet. Vergleiche die Hinweise auf den Bearbeitungsstand sämtlicher Reihen des Papsturkundenwerkes jeweils am Ende des zweiten Jahrgangsheftes des Deutschen Archivs für Erforschung des Mittelalters.
[6] J. F. Böhmer: Regesta Imperii IV.: Lothar III. und ältere Staufer, 4. Abteilung: Papstregesten 1124-1198, Teil 4: 1181-1198, Lieferung 1: 1181-1184, erarbeitet von Kartrin Baaken und Ulrich Schmidt, Köln / Weimar / Wien 2003.
[7] Im Inhaltsverzeichnis sind 31 Bistümer, Kirchen, Klöster und Stifte genannt (S. VII f.), die Kirche von Hameln ist im Nachtrag behandelt (S. 227 f.). Für Utrecht und Osnabrück sind außerdem die Grafen von Holland und von Tecklenburg eigens berücksichtigt, für die sich jeweils im 12. Jahrhundert Beziehungen zum Papsttum nachweisen lassen. Am Anfang jedes Großabschnitts stehen die Quellen und die einschlägige Literatur, welche das gesamte Bistum betreffen. Häufiger genannte Titel sind im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgelöst (S. 207-223).
Theodor Schieffer (ed.): Regesta Pontificum Romanorum iubente Academia Gottingensi congerenda. Germania Pontificia. Band IX: Provincia Coloniensis. Pars III: Dioeceses Traiectensis, Monasteriensis, Osnabrugensis et Mindensis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, XXVI + 228 S., ISBN 978-3-525-36033-0, EUR 112,00
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