Dass es in der Kunst der Renaissance in Nordeuropa noch immer vieles zu entdecken gibt, hat zuletzt 2002 die große Ausstellung zu Hans Vredeman de Vries in Lemgo und Antwerpen bewiesen. Ausstellung und Katalog präsentierten den "ganzen" Hans Vredemann de Vries: Den Maler, Architekten, Publizisten, Theoretiker, dessen unerschöpflich erfindungsreiche Architektur- und Ornamententwürfe seine Bedeutung für die Ausbildung des Stils der Renaissance in Nordeuropa belegen. Demgegenüber behandelt das gleichzeitig erschienene, als Habilitationsschrift angenommene Buch Zimmermanns nur einen zwar wichtigen, jedoch aufs Gesamtwerk bezogen kleinen Ausschnitt aus dem Schaffen des niederländischen, in ganz Europa tätigen Künstlers: Die "Architectura oder Bavvung der Antiquen aus dem Vitruvius". Das Werk erschien 1577 bei dem Antwerpener Verleger Gerard de Jode in einer deutschen und einer französischen Ausgabe; eine niederländische Ausgabe erschien erst 1581. Wie Zimmermann mehrfach betont, folgten zahlreiche Neuauflagen, die die Bedeutung des Werkes unterstreichen. Das Deutsch der ersten Auflage von 1577 ist jedoch kaum verständlich; besser ist die französische Ausgabe, die zum Teil auch genauere Informationen bietet. Die "Architectura" präsentiert in der Tradition Vitruvs, Serlios, du Cerceaus und Vignolas die fünf Säulenordnungen (Tuscana, Dorica, Ionica, Corinthia und Composita), die durch Anwendungsbeispiele (Ansichten und Grundrisse sowie Kamine) vornehmlich aus dem Profan- und Wehrbau ergänzt werden.
In vier Kapiteln führt Zimmermann zunächst in Leben und Werk Vredemanns ein (11-55), unterzieht dann die "Architectura" einer minutiösen Analyse (57-117), stellt drittens den Traktat in Beziehung zum druckgrafischen Werk Vredemanns und zu anderen von ihm explizit genannten Quellen (119-185), um abschließend die Position des Werkes innerhalb der Architekturtheorie Mitteleuropas auf nur fünf Druckseiten auszuleuchten. Bereits diese Gliederung lässt erwarten, dass Zimmermann nicht mit weit greifenden Interpretationen aufwartet, sondern dass sie wissenschaftliche Kernerarbeit leistet. Sie stellt ausgiebig die verschiedenen Ausgaben vor, vergleicht Aufbau von Text und Tafeln, die sich "zu einer theoretisch fundierten Abhandlung ergänzen" (129), was das Werk gegenüber anderen Publikationen auszeichnet. Ob es zu dieser Erkenntnis allerdings notwendig war, die Radierungen mit den Säulenordnungen einer computergestützen Bearbeitung zu unterziehen, um Übereinstimmungen zwischen den Angaben im Text und den Proportionen und Skalen auf den Tafeln zu prüfen (je zwei ganzseitige Abbildungen zu den einzelnen Ordnungen auf den Seiten 98-107), erscheint fraglich. Insbesondere ist dieses Vorgehen zweifelhaft, weil Vredeman gar kein kohärentes Modulsystem anbieten will, sondern ganz bewusst - wie auch Zimmermann weiß - "frei und spielerisch" mit den kanonischen Vorlagen umgeht: Warum dann also dieses penible Abmessen!? Überzeugender ist Zimmermanns Verortung des Traktats zwischen "Theorie und Praxis", es ist anwendungsbezogen und selbstreferentiell, da es eine "innere Logik" besitzt und Ansprüche erfüllt, "die vorrangig in ihm selbst begründet sind." (115) Hervorhebenswert ist auch die Korrespondenz und Kohärenz von Innen und Außen in den Entwürfen; selbst die Kamin-Entwürfe sind in derselben Ordnung gehalten wie die Fassaden.
Nun ist Zimmermann nicht die erste, die sich dem Opus zuwendet (zuletzt hat dies 1997 Peter Fuhring für "Hollstein's Dutch Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450-1799" getan), sondern sie steht in einer Wissenschaftstradition, die spätestens seit den frühen Schriften Erik Forssmanns über die Säulenbücher des 16. und 17. Jahrhunderts immer wieder auch Hans Vredemann de Vries ins rechte Licht gestellt hat. Forssmann hatte bereits vor fast einem halben Jahrhundert im Jahr 1956 eine unübertroffene Formulierung gefunden: Er charakterisierte die "Architectura" damals als den "Griff des Nordländers um den kalten Marmorschaft, die Eroberung der Materie ohne klassizistische Bedenken." Erst Vredeman de Vries, so Forssmann weiter, "vermählte die Theorie mit dem angeborenen Geschmack des Nordens" und anverwandelte die klassisch proportionierte Säule so, dass "die nordischen Handwerker Freude daran" hatten. Zimmermanns Analyse und Kontextualisierung der "Architectura" ist der langatmige und mehrfach redundante Beleg für die wissenschaftliche Richtigkeit von Forssmanns so leichthändig umschriebener Charakterisierung. Man muss allerdings auch einräumen, dass die "Architectura" von de Vries auch nicht vielmehr hergibt, wenn man sie allein unter dem Aspekt der Architekturtheorie und dem Spezialfall der Säulenbücher untersucht.
Ziel von Zimmermann ist es, der Auffassung entgegenzutreten, "dass die Renaissancearchitektur Mitteleuropas nur als 'Derivat' der Kunst Italiens angesehen werden kann." (8) Doch rennt sie damit bloß offene Türen ein, denn niemand wird heute ein solches Primat der Kunst des Südens gegenüber der des Nordens noch verteidigen wollen. Problematisch ist es auch, wenn sie Stilbegriffe historisiert und de Vries die Intention unterstellt, "die Renaissance in ihrer mitteleuropäischen Ausprägung zu spezifizieren" (183). Was wusste er von "Renaissance", was bedeutete "Mitteleuropa" im späten 16. Jahrhundert, und gab es ein bewusstes Verständnis davon, was eine eigenständige Renaissance ist? So bleibt Zimmermanns abschließende Charakterisierung unverbindlich: Die "Architectura" wird als niederländisches Amalgam der italienischen Säulenlehren interpretiert, die für die Praxis der nordischen Handwerker aufbereitet sind. Dabei versucht er eine Neudefinition verschiedener Gebäudetypen (Fortifikation, Brücken, Zeughaus, Wohn- und Geschäftshäuser, Paläste, Kirchen) in Einklang mit der niederländischen Baupraxis, aber mit Anspruch auf mitteleuropäische Wirkung.
Insgesamt bleibt die Arbeit rein deskriptiv, scheut sich vor fast jeder weiterführenden Interpretation, die freilich auch den Blick hinter die zu eng gestreckten Grenzen der Architekturtheorie und der Säulenbücher hätte zulassen müssen. Zu eng bleibt Zimmermann allein dem Bereich der Architekturtheorie verhaftet. Anstatt sich in langatmigen Beschreibungen, propädeutischen Aufzählungen und Vergleichen zu ergehen, hätte Zimmermann von diesen Vorarbeiten ausgehend Gelegenheit gehabt, die "Architectura" und andere Publikationen von Hans Vredemann de Vries unter neuen Aspekten zu befragen. Statt nochmals die Frage nach dem Primat der italienischen und der nordischen Renaissance zu traktieren, hätten insbesondere Fragen nach der Kontinuität einer selbstbewussten humanistischen Tradition in Nordeuropa seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit der Renaissance Italiens gestellt werden können. An wen konkret wandten sich die Publikationen Vredemanns, wer waren seine potenziellen Auftraggeber und wer die Käufer der Publikationen?
Gerade von einer Habilitationsschrift erwartet man einen hohen Grad an methodischer Durchdringung und vielleicht auch Wegweisung: Frau Zimmermann verbleibt jedoch bei einer reinen werkimmanenten Stilanalyse ohne über deren Sinnfälligkeit für ihren Gegenstand zu reflektieren. So hinterlässt das Buch den Leser unbefriedigt: Zum einen wird er minuziös in die "Architectura" von Hans Vredemann de Vries eingeführt und ist dankbar für den Reprint der deutschen und niederländischen Ausgabe, zum anderen wird die im Untertitel annoncierte "Entwicklung der Renaissancearchitektur in Mitteleuropa" nicht mit neuen Inhalten gefüllt.
Petra Sophia Zimmermann: Die Architectura von Hans Vredeman de Vries. Entwicklung der Renaissancearchitektur in Mitteleuropa (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 99), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002, 262 S., 90 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06370-9, EUR 49,80
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