Ziel der anzuzeigenden Arbeit, die im Rahmen des Projekts "Die Erinnerungskultur der Stadt vom 14. bis zum 18. Jahrhundert" im Sonderforschungsbereich "Erinnerungskulturen" an der Justus-Liebig-Universität Gießen entstanden ist und im Jahr 2002 vom Gießener Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaft als Dissertation angenommen wurde, ist es, das "Erinnerungsgeschehen" in der frühneuzeitlichen Reichsstadt Frankfurt am Main "anhand der überlieferten Chronistik des 16. bis 18. Jahrhunderts nachzuvollziehen und die Funktionsweisen der chronikalischen Erinnerung zu analysieren" (11).
Ohne sich auf eine allgemeine Definition des recht unscharfen Begriffs "(Stadt)Chronik" einzulassen, grenzt Stephanie Dzeja das ihrer Arbeit zugrunde liegende Quellencorpus nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten pragmatisch ab. Eine Voraussetzung dafür, dass sie Chroniken in ihre Untersuchung einbezieht, ist, dass deren Verfasser "in enger Verbindung zu Frankfurt standen und wenigstens einen Teil ihres Lebens in der Stadt verbracht hatten" (16). Die Beschäftigung mit der Mainmetropole soll im Vordergrund der herangezogenen Texte stehen (17), und sie sollen "weit in die Tiefen der (Stadt-) Geschichte zurück reichen" (ebenda). Enge formale Beschränkungen bezüglich des zugrunde liegenden Quellencorpus werden nicht getroffen. "Entscheidend [...] ist, dass die Erinnerung an die Geschichte der eigenen Stadt einer Konstruktion und Formulierung unterzogen wurde" (18).
Die in einer Stadt überlieferten Chroniken begreift Dzeja als "Produkte eines kulturellen Gedächtnisses", wobei der jeweilige Chronist "Stellvertreter seines sozialen Milieus" sei (20). Neben den Mitgliedern der städtischen Führungsschicht, die "in erster Linie als Produzenten von Stadtchronistik in Frage kommen", sei prinzipiell jede gesellschaftliche Gruppe in der Stadt in der Lage gewesen, die städtische Erinnerung gemäß ihren spezifischen Interessen mitzugestalten (20).
Die mit Blick auf Größe und Bedeutung der Stadt zunächst nicht besonders hoch erscheinende Zahl von 45 Frankfurter Stadtchroniken (im weitesten Sinne) erklärt Dzeja damit, dass in Frankfurt zwar "nicht wenig geschrieben, sondern lediglich wenig abgeschrieben worden" sei (29). Originalchroniken gebe es dagegen ähnlich viele wie in vergleichbaren Städten. Bemerkenswert im Fall Frankfurt ist, dass eine Leitchronik fehlt und dass die einschlägige, inhaltlich in die Anfänge der Stadt zurückreichende Chronistik erst relativ spät einsetzt.
Ihrer Fragestellung geht Dzeja in drei Schritten nach. Zunächst stellt sie die wichtigsten Frankfurter Chroniken vor (Kapitel II). Gleich der erste von ihr vorgestellte Autor ist ein Außenseiter. Johannes Latomus, Katholik und Stiftsherr am Dom St. Bartholomäus (43-50). Der Großteil der Frankfurter Chronistik aber ist protestantisch geprägt, ob es sich nun um "Chronistik aus der städtischen Verwaltung" (50-61), "Schreibende Patrizier" (61-80), "Gedruckte Chronistik" (80-93) oder ratsferne Chroniken (93-103) handelt. Von den Verfassern der Chroniken werden neben Latomus insbesondere diejenigen patrizischen Standes als Persönlichkeiten fassbar. So verfassten bemerkenswerterweise gleich drei Mitglieder der Familie Faust von Aschaffenburg Arbeiten zur Geschichte der Stadt Frankfurt. Dzeja findet ihre Auffassung bestätigt, dass es in Frankfurt, anders etwa als in Nürnberg, keine Groß-Chroniken gebe, die eine umfassendes, Allgemeingeltung beanspruchendes Bild der Frankfurter Stadtgeschichte vermittelten. Vielmehr handelte es sich zumeist um schlichte, teilweise unvollendet gebliebene Werke, die in der Regel weniger nach systematischen Gesichtspunkten aufgebaut als in annalistischer Form abgefasst waren.
In einem zweiten Schritt wendet sich Dzeja den "Themen der Stadtgeschichte" zu. Dieses Kapitel (III) macht mit etwas über hundert Seiten (111-213) knapp die Hälfte des Gesamtumfangs der Studie aus. Besonders ausführlich widmet sich Dzeja dem Thema der Frühgeschichte der Stadt ("Der Eintritt in die Geschichte", 112-134). Hier richtet sie ihr Augenmerk unter anderem auf den kritischen Umgang mit Gründungsmythen - insbesondere demjenigen der Gründung an der Stelle der Vorgängersiedlung Helenopolis durch den Herzog der Hogier Franck. Stattdessen herrscht unter den von ihr untersuchten Chronisten Einigkeit darüber, dass Frankfurt eine Gründung der Franken sei. Hinsichtlich des genauen Zeitpunkts und der Umstände variieren ihre Darstelllungen dagegen.
Das Gewicht der Darstellung der Frankfurts als Reichsstadt, Tagungsort von Reichsversammlungen und Wahlstadt ist in den verschiedenen Chroniken unterschiedlich. Insbesondere für den letztgenannten Punkt macht Dzeja eine vom jeweiligen Standort des Chronisten abhängige, unterschiedliche Wahrnehmung aus. Die Frage, ob die Frankfurter Chronisten als "Privilegsgenossenschaft" (175) wahrgenommen hätten, verneint sie. Es werde nicht "versucht, die Stadt über die Privilegien als Rechts- und Untertanenverband darzustellen" (178). Vielmehr seien - "wenn auch nur in sehr geringem Ausmaß" - "Erinnerungskonkurrenzen" festzustellen, in der Weise, dass nur die Privilegien einzelner Gruppen behandelt würden. Auch hinsichtlich der Wahrnehmung der städtischen Obrigkeit, der Dzeja anhand mehrerer Fallbeispiele nachgeht (179-199), unterschieden sich die Perspektiven. Dass die 1527 letztmals begangene Maria-Magdalena-Prozession von dem Katholiken Latomus anders als in den Werken protestantischer Chronisten geschildert wird, kann kaum verwundern. In den Chroniken des 18. Jahrhunderts wird sie zumeist nicht einmal mehr erwähnt.
Insgesamt kommt Dzeja zu dem Ergebnis, "dass es keine einheitliche Vorstellung von der eigenen Vergangenheit" gebe. Allerdings seien sich die untersuchten Chronisten "über die grundsätzliche Positionierung und die Fundamente der Stadt" weitgehend einig. Die weitere Geschichte der Stadt wird jedoch durchaus unterschiedlich dargestellt. Die festzustellenden Differenzen sieht Dzeja im Zusammenhang mit den von ihr "in Kapitel zwei beschriebenen Trägerschichten" (209).
In einem letzten Schritt widmet sich die Verfasserin den "Intentionen und Funktionen" (215) der Frankfurter Chronistik. Basierend auf den Ergebnissen der vorangegangenen Kapitel, fasst sie diese unter den Stichworten "Sammeln und Speichern" (217), "Identitätsstiftung" (223) und "Traditionsbildung" (235) zusammen. Auch in diesem Teil dominiert die Frage nach den "Möglichkeiten und Voraussetzungen städtischer Identität" (224). Als besonders bemerkenswert hebt Dzeja an dieser Stelle hervor, dass es den Chronisten "um die Darstellung der Stadt als Ganzes" geht (227), auch wenn sie diesen Anspruch zumeist nicht einzulösen vermögen und ihrer jeweils besonderen Perspektive verhaftet bleiben. Die eigentliche Schlussbetrachtung fällt mit knapp drei Seiten bemerkenswert kurz aus.
Die Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der frühneuzeitlichen Frankfurter Chronistik. Diese Einschätzung wird nicht grundsätzlich durch die Einschränkung relativiert, dass manche ihrer Ergebnisse wenig überraschend sind (Außenseiterrolle des Katholiken Latomus) und man sich bei anderen gelegentlich eine Überprüfung anhand weiterer Quellen wünschen würde - wie dies Dzeja ja auch selbst angeregt hat (245). Zu begrüßen wäre gewesen, wenn die Situation in Frankfurt systematischer zu der in anderen Reichsstädten in Beziehung gesetzt worden wäre - dies hätte etwa in einem ausführlicheren Schlussteil geschehen können. Ein Register fehlt bedauerlicherweise.
Stephanie Dzeja: Die Geschichte der eigenen Stadt. Städtische Chronistik in Frankfurt am Main vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 946), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, 294 S., ISBN 978-3-631-50419-2, EUR 45,50
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