sehepunkte 4 (2004), Nr. 2

Rezension: Stalinscher Terror 1934-41

Der Sammelband "Stalinscher Terror 1934-1941" präsentiert Beiträge einer Konferenz, die, organisiert vom Verein Helle Panke e.V. und von Memorial Moskau, im November 2001 in Berlin stattfand. Ihr Ziel war, Forscher zusammenzuführen, die zum Exil, zum GULag, zur Komintern und zu angrenzenden Themen arbeiten, um so einer um sich greifenden Fragmentierung der Stalinismusforschung entgegenzuwirken. Der Band enthält Aufsätze deutscher, österreichischer, schweizerischer, russischer und ukrainischer Autoren, die auf laufenden oder jüngst abgeschlossenen Arbeiten basieren. Der Untertitel "Eine Forschungsbilanz" ist vielleicht etwas hoch gegriffen; vollständige thematische und personelle Repräsentativität zu erreichen, ist indes bei dem Differenzierungsgrad, den die Forschung erreicht hat, ein Ding der Unmöglichkeit. Fragen wirft eher die dem Band zugrundegelegte, jedoch nicht thematisierte Periodisierung auf. "Am Anfang starb Genosse Kirow", hat uns die deutsche Ausgabe von Robert Conquests Pionierwerk über den Großen Terror (1970) belehrt, und sicherlich kommt dem Mord an dem Leningrader Parteivorsitzenden am 1. Dezember 1934 eine bis heute nicht ganz genau geklärte Schlüsselfunktion bei der Inszenierung des Großen Terrors zu. Jedoch verweisen jüngere Forschungen sehr viel stärker auf die Kontinuität von Stalins Revolution von oben, insbesondere der Zwangskollektivierung und der durch sie induzierten katastrophalen Hungersnot 1932/33 zur Verhaftungs- und Mordkampagne der Jahre 1937/38. Diese Kontinuität kommt hier allenfalls am Rande, in einzelnen Beiträgen in den Blick.

Dem Anspruch einer Forschungsbilanz kommt Barry McLoughlins Beitrag über die sogenannten Massenoperationen des NKWD 1937/38 am nächsten. Er synthetisiert die Forschung des vergangenen Jahrzehnts, die das Bild des Großen Terrors erheblich verändert hat. Weitgehend entschieden ist die Frage nach dem Anteil des Kremls und untergeordneter Instanzen. Stalins Unterschrift wurde auf zu vielen Dokumenten gefunden, als dass noch Anlass zu einer Debatte darüber bestünde, ob er der Verbrecher Nr. 1 war. Er hatte die Fäden in der Hand, und daher ist auch der langlebige Topos von der Jeschowschtschina, die den Terror an die Amtszeit des NKWD-Chefs Jeschow bindet, fragwürdig, auch wenn Jeschow zweifellos Stalins wichtigster Exekutor war. Auch das alte, aufgrund der sehr eingeschränkten Verfügbarkeit von Quellen und persönlichen Zeugnissen entstandene Bild, wonach vor allem die Partei-, Regierungs-, Wirtschafts- und Militärelite vom Terror betroffen war, ist überholt. Der Große Terror traf zwar auch die Partei, vor allem aber das eigene Volk. Der zentrale operative Befehl des NKWD Nr. 00447, der selbstverständlich vom Politbüro sanktioniert war, zählt unter den zu Verhaftenden und zu Erschießenden neben "Kulaken", die aus der Verbannung heimkehrten, ehemalige politische Oppositionelle jeglicher Couleur, inhaftierte religiöse Aktivisten und besserungsunwillige Kriminelle und andere "sozial gefährliche Elemente" auf. Weitere elf operative Befehle, die die "Massenoperationen" dirigierten, richteten sich jeweils gegen ethnische Minderheiten und Emigrantengruppen. Von den 1,34 Millionen Menschen, die nach McLoughlin vom Terror erfasst wurden, galten 767.000 als "Antisowjetschiki" gemäß dem Befehl 00447, 335.000 wurden Opfer der elf "nationalen Operationen". Sie wurden besonders gnadenlos verfolgt. Betrug bei den als antisowjetisch Eingestuften das Verhältnis zwischen Todes- und Lagerstrafen bereits 1:1, so fiel es bei den nationalen Kontingenten mit 4:1 noch erheblich mörderischer aus. Beide Gruppen zusammen machten 82 Prozent der Opfer des Terrors aus, und unter ihnen entstammten viele den unteren Gesellschaftsschichten.

Die übrigen Opfer stammten zum Teil aus der Partei- und Regierungselite, insbesondere die 40.000 mit persönlicher Sanktionierung Stalins und anderer Politbüromitglieder vom Militärkollegium des Obersten Gerichts Verurteilten. Weder waren also Parteimitglieder die primäre Opfergruppe, noch war der Terror völlig unspezifisch. Er war ein Ausdruck der Bedrohungsphantasien Stalins und seiner Entourage, die "Menschenvernichtung als 'geschichtliche Prophylaxe'" (McLoughlin) betrieben.

Zwei Motivbündel hierfür werden derzeit vor allem diskutiert: Zum einen die Beunruhigung, die in Parteikreisen mit der Rückkehr verbannter "Kulaken" nachhause eintrat, die nicht selten ihre Lebensläufe verfälschten. Die in der Stalinschen Verfassung vorgesehene Abschaffung des Klassenwahlrechts und die 1937 bevorstehenden Wahlen weckten Befürchtungen, sowjetfeindliche Elemente könnten sich in die Institutionen der bolschewistischen Diktatur einschleichen. Ein zweiter Erklärungsansatz, den Oleg Chlewnjuk vorgeschlagen hat, betont die Verunsicherung durch die internationale politische Lage, insbesondere den spanischen Bürgerkrieg und den japanischen Eroberungskrieg in China, und das Bestreben, jegliches Risiko einer "fünften Kolonne" auszuschließen.

Am Ende des Großen Terrors war nicht nur die Zahl der GULag-Gefangenen stark gestiegen, auch die der Mitarbeiter der Staatssicherheitsorgane war auf das doppelte angewachsen. Das ist dem Beitrag von Nikita Petrow über das NKWD 1936-1939 zu entnehmen, der auch Legenden widerlegt, wonach in der "Jeschowschtschina" in hohem Maße auch operative Mitarbeiter des NKWD verfolgt worden seien. Ein wirklicher Einschnitt, so kann Petrow zeigen, fand erst mit dem Wechsel von Jeschow zu Berija statt: "Die Mehrheit der unter Jeschow in den Apparat gekommenen Leute wurde unter Berija herausgesäubert."

Ein Opfer von Jeschows Säuberungen und Verschwörungsphantasien wurde hingegen der ukrainische NKWD-Chef Balizkij, dessen Aufstieg und Fall Jurij Schapowal anschaulich schildert. Balizkij, der an allen kommunistischen Unterdrückungs- und Verfolgungskampagnen getreulich mitgearbeitet hatte, wurde im Mai 1937 auf Weisung Jeschows verhaftet. Zu den Beschuldigungen, die man gegen ihn erhob, zählte neben zum Teil erfundenen politischen Anklagen, unrechtmäßige Bereicherung sowie seine Neigung zu Saufgelagen und sexuellen Exzessen. Schapowal weist darauf hin, dass nicht nur Balizkij, sondern auch sein Ankläger Jeschow die nämlichen Interessen verfolgte, und das keineswegs als einziger Tschekist.

Alexander Vatlin veranschaulicht am Beispiel des Rajons Kunzewo am Rande Moskaus, wie der Terror vor Ort ins Werk gesetzt wurde, während der Herausgeber Hedeler in einem Abriss der Verwaltungsgeschichte des Lagers Karaganda nahe der gleichnamigen Stadt in Kasachstan einen Eindruck von den riesigen Dimensionen des sowjetischen Lagersystems vermittelt. Die Opferperspektive kommt in Meinhard Starks Beitrag über Frauen im GULag zum Tragen. Mit der Zwangsarbeit von Millionen korrespondiert das Zerbrechen vieler einzelner durch erzwungene Selbstkritik und Folter, über die Berthold Unfried und Reinhard Müller berichten.

Gerd Kaiser geht am Ende seines Beitrag über die Erschießung polnischer Offiziere in Katyn auf aktuelle Verdrängungstendenzen in Russland ein. Noch 1999 bestritt das russische Außenministerium offiziell, dass es 1939 überhaupt eine sowjetische Aggression gegen Polen gegeben habe. Allerdings ist Kaisers Kritik allzu pauschal, wenn er eine Kontinuität der Verdrängung seit Gorbatschow behauptet. Immerhin übergab 1992 der damalige Chef der russischen Archivverwaltung, Pichoja, im offiziellen Auftrag Präsident Jelzins dem polnischen Staatschef Walesa Katyn betreffende Dokumente. Die russische Historikerin Natalja Lebedjewa wurde für ihre Verdienste um die Erforschung dieses finsteren Kapitels von der polnischen Republik sogar ausgezeichnet.

Wer am Ende des Bandes in dem Beitrag "Deutungsmuster des stalinistischen Terrors" des Philosophen Jens-Fietje Dwars einen Überblick über historische Interpretationen erwartet, wird enttäuscht werden. Der Beitrag beginnt als postkommunistischer Besinnungsaufsatz und endet, ohne die einschlägige wissenschaftliche Diskussion wahrgenommen zu haben, in der Aufwärmung der alten These vom Stalinismus als Modernisierungsdiktatur.

Auch in seiner Chronik der Moskauer Schauprozesse lässt Hedeler einen Philosophen zu Wort kommen, den jüngst als Kant-Biographen hervorgetretenen Steffen Dietzsch mit Überlegungen "Zur Genealogie des Schreckens. Moskau 1936-1938". Abgesehen von dem einen oder anderen Gedanken zum hypertrophen System der Täuschung und Selbsttäuschung ist deren Erkenntniswert allerdings recht begrenzt, zumal es keinen Rückbezug zur aktuellen historischen Forschung gibt. Die Frage nach der Funktion von Dietzsch' Beitrag ist allerdings nicht das einzige Rätsel, das dieses Buch aufgibt. Welchem Ziel und Zweck es dient, vermag auch der Autor in seinen Vorbemerkungen nicht wirklich plausibel zu machen. Eine Chronik ist natürlich irgendwie immer eine nützliche Sache, und Hedeler hat eine immense Arbeitsleistung aufgewandt, publizierte Dokumente, Archivquellen und Literatur auszuwerten [wenngleich man einzelne einschlägige Titel vermisst, etwa Reinhard Müllers "Menschenfalle Moskau" (2002) oder die materialreiche Dokumentation "The Road to Terror" von J. Arch Getty und Oleg Naumov (2001)]. Doch ob er mit der von ihm gewählten Darstellungsform den Anspruch einlösen kann, die Verzahnung der Verhaftungswellen im Zusammenhang mit den drei Schauprozessen, das Ineinandergreifen von Anklagefabrikation, Propagandakampagnen und Redaktion der Prozessberichte auf oberster Ebene darzustellen - das muss bezweifelt werden.

Den Hauptteil des Buches macht eine 350 Seiten starke Tageschronik aus, die sich vom 1. Januar 1936 bis zum 31. Dezember 1938 erstreckt und durch eine Reihe von Verzeichnissen, vor allem ein kommentiertes Namensverzeichnis und verschiedene Register im Text zitierter Dokumente, erschlossen wird. Hier wird manches geboten, was als Arbeitshilfe von Nutzen sein kann, aber was nur soll der Leser aus einer Darstellung lernen, die politische Entwicklungen, in kleinste Einzelteilchen zerlegt, in der Form eines Abreißkalenders präsentiert? Welcher Erkenntniswert ergibt sich aus der Zusammenstellung von Tagebucheinträgen des Historikers Vernadskij, der am 24. Februar 1938 die Verhaftung des Arztes Levin notiert, oder der Professorengattin Stange, die am selben Tag vermerkt: "Im Kindergarten eine Aufführung zum 20. Jahrestag der Roten Armee"? Das mag ein Extrembeispiel sein, aber es ist kein Einzelfall. Dass ausgerechnet Hedeler, der in einer früheren Publikation, darauf hingewiesen hat, dass Jeschow schon lange vor 1936 an seinen Verschwörungsszenarien gearbeitet hat1, jetzt die Geschichte dem Kalender unterordnet, erstaunt. Das Konstruktionsprinzip seiner Chronik erinnert an Kempowskis "Echolot", aber dieser tritt mit einem literarischen nicht mit einem wissenschaftlichen Anspruch an. Im wissenschaftlichen Bereich hat Hedelers Werk einen Vorläufer in der von Karl Schlögel und anderen herausgegebenen "Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918 - 1941" (Berlin 1999), von der die Herausgeber meinten, sie gebe ein "beeindruckend vielfältiges und dichtes Bild [...], wie es selbst die glänzendste narrativ verfahrende Geschichtsschreibung kaum liefern könnte". Ein analytischer Anspruch ist hierbei aber nur noch schwer erkennbar. Bei aller wissenschaftlichen Methodenvielfalt: Zwischen Mikroskop und Teleskop hat das Kaleidoskop nichts verloren.

Rezension über:

Wladislaw Hedeler: Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung. Mit einem Essay von Steffen Dietzsch, Berlin: Akademie Verlag 2003, XXXVIII + 695 S., ISBN 978-3-05-003869-8, EUR 69,80

Wladislaw Hedeler (Hg.): Stalinscher Terror 1934-41. Eine Forschungsbilanz, Berlin: BasisDruck Verlag GmbH 2002, 372 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-86163-127-9, EUR 22,00

Rezension von:
Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Zarusky: Stalinscher Terror 1934-41 (Rezension), in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/02/5168.html


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