Die landesgeschichtliche Erforschung der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen hat in den letzten zwei Jahrzehnten erstaunliche Fortschritte gemacht. Nur noch wenige "weiße Flecken" auf der Karte einer imaginierten "Forschungslandschaft" sind geblieben, einige davon im ost- und mitteldeutschen Raum. Inzwischen jedoch liegt die Dissertation von Ronald Füssel zu den Thüringer Verfolgungen im Druck vor, Katrin Moellers Doktorarbeit zu den Mecklenburger Zauberei- und Hexenprozesse steht kurz vor der Publikation. Angekündigt sind außerdem gleich zwei Dissertationen zu der so genannten "Annaberger Krankheit" (Gabor Rychlak, Falk Brettschneider). Die von Manfred Wilde an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz vorgelegte Habilitationsschrift fügt sich ein in diese regen Forschungsaktivitäten.
Wie der Autor im Vorwort darlegt, entstand die hauptsächlich der Sächsischen Landesgeschichte verpflichtete Arbeit auf der Basis eines seit 1996 laufenden Forschungsvorhabens zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfassungs- und Rechtsgeschichte in den mitteldeutschen Landesherrschaften. Mit explizitem Verweis auf seine Kontakte zu zwei der großen internationalen Foren der "Hexenforschung", dem Arbeitskreis interdisziplinäre Hexenforschung (AKIH) und der Mailingliste zur Erforschung der Geschichte der Hexenverfolgungen, wird gleichfalls im Vorwort die angestrebte Interdisziplinarität seiner Forschungen sowie eine "verstärkte Berücksichtigung der Wechselbeziehungen Kursachsens zu benachbarten Landesherrschaften und zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" betont (IX). Dieses ehrgeizige Vorhaben wird in der Einleitung (1-14) knapp umrissen. So soll der normative, straf- und policeyrechtliche Rahmen der Hexereiverfahren in Kursachsen sowie deren konkrete Durchführung im Zusammenspiel von lokalen Gerichten und übergeordneten Dikasterien untersucht werden. Daran schließt sich die Frage nach der Gerichtsstruktur und den beteiligten Amtspersonen an, von denen einige offenbar persönlich verantwortlich zu machen sind für die Ausbildung von Verfolgungsschwerpunkten. Daneben wird eine soziale Verortung der Opfer und 'Täter' im Beziehungsgeflecht von Schuldzuweisungen und Hexendeutungsmustern angestrebt. Da die sächsische Landesgesetzgebung das Delikt der Zauberei beziehungsweise der Hexerei sehr differenziert beurteilte (so wurde beispielsweise zwischen giftmischender oder schädlicher Zauberei, Aberglaube, Wahrsagerei und Segenssprechen unterschieden), entschloss sich der Autor, nicht nur alle darunter gefassten Verfahren, sondern auch so genannte Kombinationsdelikte zu untersuchen, bei denen neben Hexerei auch Ketzerei, Blasphemie, Diebstahl oder Ehebruch verhandelt worden sind.
Das quantifizierende Verfahren sowie die prosopografische Beschreibung, in deren Mittelpunkt die Erstellung von Gruppenbiografien und die Darstellung berufsständischer Netzwerke (Gelehrte, Juristen, Amtsinhaber) steht, wurden vom Autor als Methoden der Analyse herangezogen. Der Untersuchungszeitraum der Arbeit reicht vom 13. (erste Bestimmungen gegen Zauberei im Sachsenspiegel) bis zum 18. Jahrhundert (Ende der Verfahren in Kursachsen). Als Untersuchungsraum wird das Kurfürstentum Sachsen in seiner territorialen Ausdehnung von 1750 zugrunde gelegt.
Zusammenfassend gelangt Wilde in seiner umfangreichen, in zwölf Großkapiteln klar gegliederten Arbeit zu folgenden Ergebnisse: In über 50 Archiven, Museen und Bibliotheken ließen sich insgesamt 905 Hexen- und Zaubereiverfahren ermitteln, darunter mindestens 284 mit Todesurteilen (151). Der Anteil der Frauen an den Hingerichteten betrug rund 90 % (308). Die Auswertung dieses Quellencorpus ergibt für Kursachsen und die bis 1750 erworbenen Gebiete insgesamt drei Verfolgungshöhepunkte (1540-1550, 1570-1630 und 1655-1670) (158). Durch die strikte Pflicht zur Aktenversendung an eine Juristenfakultät oder einen Schöffenstuhl (bevorzugt Leipzig), die auch für die mit obergerichtlichen Befugnissen ausgestatteten Patrimonial- und Stadtgerichte galt, und infolge der zunehmenden Besetzung der Gerichte mit gelehrten Amtsschössern blieb bei formal geführten Inquisitionsverfahren die Trennung in eine verfahrensführende und in eine urteilsfindende Behörde gewährleistet. Diese staatliche Kontrolle der Hexereiverfahren hat eine sich perpetuierende Verfolgung in Kursachsen verhindert, nur in einigen, bei weitem nicht in allen landesherrlichen Ämtern sind endemisch begrenzte Verfolgungszentren festzustellen (159). Verantwortlich dafür war offensichtlich auch, dass sich die Vorstellung von einer mitgliederstarken Hexensekte nicht durchsetzen konnte, auch wenn in den Prozessverfahren gelegentlich die Rede vom Hexentanz, gedacht als Teufelshochzeit, ist (274-278). In den konkreten Verfahren scheint es deshalb nicht zur erzwungenen Besagung vieler Komplizen gekommen zu sein. Der Autor kann nur eine geringe Zahl von Kettenprozessen anführen, die - zieht man einen Vergleich mit Gebieten starker Verfolgung - auf der Grundlage nur weniger Besagungen beruhten (310-314). Allerdings scheint sich schon um 1500 die Vorstellung durchgesetzt zu haben, dass aus der Buhlschaft zwischen Teufel und Hexe so genannte 'böse Dinger' hervorgingen, die als krankmachende Bestandteile beim Schadenzauber eingesetzt werden könnten (279 f.) Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft wurden nachfolgend fast ausschließlich Frauen zugeschrieben (271). Im Mittelpunkt des strafrechtlich verfolgten Hexereideliktes stand gleichwohl der Schadenzauber. So wurden die meisten Zauberei- und Hexenprozesse durch Rügen vermeintlich geschädigter Personen vor den lokalen Gerichten in Gang gebracht, deren Amtsschösser verpflichtet waren, solchen Anzeigen ex officio nachzugehen (38). Mit zunehmender protestantischer Disziplinierung wurden auch die volksmagisch-religiösen Praktiken der Segenssprecherei, der Wahrsagerei und des so genannten Büsens kriminalisiert und strafrechtlich belangt (227-237). Besondere Aufmerksamkeit verdienen die gegen Totengräber und ihre Angehörigen geführten Verfahren wegen Pestzauber (199-202, 245 ff.), zu denen man sich ein zusammenhängendes Kapitel gewünscht hätte.
Insgesamt konnte der Straftatbestand der Hexerei weniger als 1% aller behandelten Zivil- und Strafsachen an einer Spruchbehörde ausmachen (417). Verantwortlich für diese niedrige Quote war nicht zuletzt die Frage der Kosten eines Hexenprozesses, die letztendlich, wenn weder Kläger noch Angeklagte aufgrund von Armut dafür aufkommen konnten, der Amtskasse zur Last fielen (177-179). Ohne Zweifel lässt sich damit das landesherrlich kontrollierte Gebiet Sachsens, da eingebunden in ein straff organisiertes, zentralistisch geführtes Justizwesen, den verfolgungsarmen Gebieten zu rechnen.
Ein etwas anderes Bild bietet allerdings der Blick auf jene Gebiete, die 1652 zu den Sekundogenituren umgewandelt wurden, oder auf die ehemalige Grafschaft Henneberg, deren Ämter nicht zu den kursächsischen Erblanden gehörten, sondern ihnen erst nach und nach zufielen (163, 398-409). So kam es allein in Henneberg zu 123 Hinrichtungen. Einige mögliche Gründe für diese signifikanten Unterschiede werden vom Autor nur knapp angesprochen: So konnte in den hennebergischen Ämtern die Begleichung der Prozesskosten auf die Familien der Hinterbliebenen abgewälzt werden (401), auch gewannen die Hexenprozesse eine (nicht näher spezifizierte) Bedeutung bei Jurisdiktionskonflikten in den gemeinherrlich verwalteten Ämtern (400).
Bei aller verdienstvollen Grundlagenforschung weist die Habilitationsschrift einige Schwachstellen auf. So scheint der Autor, was die Kenntnis der den ost- und mitteldeutschen Raum überschreitenden, einschlägigen Forschungsliteratur anbelangt, die Möglichkeiten des Zuganges zum Literaturdienst und zum Archiv der Mailingsliste "Hexenforschung" nur unzureichend genutzt zu haben, wie sein knapper Überblick zum derzeitigen allgemeinen Stand der "Hexenforschung" deutlich zeigt (5-11). Dass Wilde - möglicherweise wegen einer schwierigen Bibliothekssituation - bei der Ausarbeitung seiner Studie offenbar eher auf ältere Publikationen zurückgegriffen hat, zeigt exemplarisch Anmerkung 784: Hier werden Hinrichtungszahlen für das Herzogtum Lothringen und das Kurfürstentum Trier genannt, für deren Belegstellen er nur die 1991 erschienene Dissertation von Eva Labouvie angibt. Die an dieser Stelle wohl eher heranzuziehenden Arbeiten von Walter Rummel (1991), Elisabeth Biesel (1997) oder Johannes Dillinger (1999) sind augenscheinlich unbekannt. Auch bei den Vergleichen, die mit den frühen Hexenverfolgungen in der Schweiz gezogen werden (zum Beispiel 99), vermisst man die Erwähnung der seit 1989 im Umfeld der Lausanner Forschergruppe entstandenen Publikationen. Ähnliche schwer erklärbare Defizite offenbaren sich bei der Benennung angeblicher Forschungsdesiderate. So soll die allgemeine Erforschung familiärer Netzwerke bei Juristen und Amtsträgern "leider ein Desiderat" sein (284), doch hat beispielsweise Peter Arnold Heuser für Kurköln bereits einige differenzierte Ergebnisse vorgelegt. Schließlich behauptet Wilde gar, in den Forschungen zur europäischen Hexenverfolgung seien bisher die "sozialen, ökonomischen, agrargeschichtlichen und epidemischen Wechselwirkungen" zu wenig in Betracht gezogen worden (193). Die Rezensentin erspart sich an dieser Stelle den Hinweis auf einschlägige Literatur. Ebenso wenig originell erscheint die Überlegung, im Kontext der innerkirchlichen Reformansätze des 15. Jahrhunderts und der damit verbundenen, akzentuierten Ketzerproblematik sei bisher noch nie die äußere Initialwirkung der Türkeneinfälle beachtet worden (105 f.). Dass die Türkengefahr zu einer jener vermeintlich apokalyptischen Manifestationen gerechnet wurde, die einen Endkampf zwischen den Kohorten des Bösen, darunter besonders die "neue" Hexenketzersekte, und den 'Glaubenskriegern' (wie beispielsweise den Dominikanern) heraufbeschworen, haben bereits Bernd Moeller (1965), Bernd Hamm (1992) oder zuletzt Werner Tschacher (2002) festgestellt.
Irritierend sind darüber hinaus Wildes widersprüchliche Ausführungen zur "Verfolgung von Weisen Frauen" (209-221), in denen er die von Heinsohn / Steiger formulierte These zwar ablehnt, gleichwohl aber frühe Belege für eine solche Verfolgung gefunden haben will. Nicht weniger befremdlich muten seine Gedanken zum Gebrauch von haluzigenen (!) Drogen und Rauschmitteln an. Abgesehen davon, dass hier ein Blick in die rezenten Arbeiten von Franz-Josef Kuhlen oder Larissa Leibrock-Plehn sicher weitergeholfen hätte, erweist sich beispielsweise der von ihm referierte Fall einer "Biervergiftung" mit Bilsenkraut keineswegs als ein Zaubereiprozess (217), sondern vielmehr als ein Verfahren wegen verbotener Bierpanscherei. Bilsenkraut, ebenso wie Tollkirsche oder Taumellolch, wurden dem Bier neben Hopfen oder Grut zur Stabilisierung und zur Steigerung der berauschenden Effekte beigemischt, nicht aber um damit einen 'Schadenzauber' auszuführen. Auch die vom Autor vermutete, angeblich 1528 erfolgte erste Erwähnung einer Teufelsbuhlschaft in einem sächsischen Rechtsbuch stellt sich als Fehlinterpretation heraus. So heißt es in dem 1528 gedruckten Sachsenspiegel in der Glossierung zum Zauberei-Passus: "Dis sind dy mit warsagen vnd mit segene vnd mit bösen vmbgehen" (25). "[...] mit bösen umbgehen [...]" bedeutet nun nicht etwa, Umgang mit "dem Bösen" zu haben, sondern mit dem bösen (auch büsen genannt) wird eine Form des Segenssprechens verboten (vergleiche dazu die vielen, vom Autor selbst aufgelisteten Verfahren, in denen das "Büsen" bestraft worden ist, in der Tabelle 457-657).
Die Liste sprachlicher, terminologischer wie interpretatorischer Unsicherheiten könnte verlängert werden. Besonders fatal wirkt sich aber ein anderer Umstand aus: Obwohl der Autor die zivilrechtlichen Injurienverfahren, die aufgrund von Hexereibeschuldigungen angestrengt wurden, von den strafrechtlich geführten Inquisitionsprozessen wegen Hexerei durchaus zutreffend trennen möchte (58-63), gliedert er die insgesamt 24 bekannten Fälle der meist vor dem örtlichen Rügegericht geführten Injurienverfahren rätselhafter Weise (und falsch) seiner "Übersicht über die bekannten Hexenprozesse in Kursachsen" ein. Überdies beinhaltet diese Liste auch Doppelnennungen sowie Verfahren, die nichts mit Hexerei zu tun hatten. [1] Damit bleiben die statistischen Ergebnisse der Arbeit partiell zu revidieren; denn letztendlich ergibt sich, dass in Kursachen weitaus weniger als 905 Verfahren wegen Zauberei und Hexerei geführt worden sind.
Ohne Zweifel bietet Manfred Wilde in seinem voluminösen Buch eine aspektreiche, landesgeschichtlich orientierte Untersuchung. Gleichwohl bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiger Eindruck zurück; denn ob beim derzeitigen Stand der "Hexenforschung" eine Habilitationsarbeit auf eine tiefergehende Kenntnis der über das eigene Untersuchungsgebiet hinausgehenden Spezialliteratur weitgehend verzichten und damit auch die Chance verschenken kann, durch den einordnenden Vergleich zu weiterreichenden Erkenntnissen zu gelangen, mag füglich bezweifelt werden.
Anmerkung:
[1] Vergleiche dazu auch den Beitrag von Gabor Rychlak [15. Dezember 2003] im Archiv der Mailingliste zur Erforschung der Geschichte der Hexenverfolgungen <http://www.listserv.dfn.de/cgi-bin/wa.exe?
A2=ind0312&L=hexenforschung&O=D&F=&S=&P=2450>.
Manfred Wilde: Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, X + 734 S., ISBN 978-3-412-10602-7, EUR 69,00
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