Mit seiner 1982 erschienenen Studie "Das gesellige Jahrhundert" ist Ulrich Im Hof zweifellos ein Klassiker gelungen. Immer wieder zitieren ihn die Autoren dieser Aufsatzsammlung, und auch in der Einleitung wird das Zeitalter in seinem Sinne konzeptualisiert. Sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht steht es für die Herausgeber "außer Frage, daß keine Epoche zuvor dem 18. Jahrhundert diesen Rang streitig machen kann" (2). Eine längerfristig-vergleichende Beweisführung erfolgt allerdings nicht, obschon die jüngere Forschung auch für andere Epochen - etwa das gesellschaftlich weniger polarisierte Spätmittelalter - eine große Vielfalt von originellen Soziabilitätsformen mit politisch relevanten Implikationen herausgearbeitet hat. [1]
Zu besprechen sind zwei Dutzend Aufsätze in neun etwas willkürlich zusammengestellten Sektionen. Knappe, eher impressionistische Skizzen stehen neben empirisch gesättigten, fast fünfzigseitigen Abhandlungen. Minimal ist leider das Dienstleistungsangebot: über die Autoren erfährt man nichts, es gibt weder ein Register noch ein Abbildungsverzeichnis, und auch nach zusammenfassenden, wertenden Ausführungen sucht man vergeblich. Diesbezüglich dürften sich mit der Region, Epoche oder Thematik weniger vertraute Leserinnen und Leser ziemlich allein gelassen fühlen. Angesichts des stattlichen Bandumfanges mag ganz einfach kein Platz mehr vorhanden gewesen sein, man darf sich aber fragen, ob eine etwas selektivere Auswahl möglich gewesen wäre. War es essenziell, bereits anderswo erschienene Aufsätze nochmals zu publizieren (Helga Brandes, "Die Oldenburger 'Literarische Damen-Gesellschaft' um 1800") oder einen vor über vierzig Jahren gehaltenen Vortrag (Paul Raabe, "Die Gesellschaft der Freien Männer. Ein Freundschaftsbund in Jena 1794-1799") aufzunehmen? Musste den "klassischen" Sozietäten nochmals so viel Platz eingeräumt werden? Hätten regional oder konzeptionell schärfer definierte Kriterien zur Anwendung kommen können?
Umgekehrt liegt in der thematischen Breite auch wieder der Reiz des Bandes. Er weckt das Verständnis für "die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", das heißt die Koexistenz verschiedenster formeller und informeller Geselligkeitsformen in geschlechter- und schichtenübergreifender Perspektive. Ins Blickfeld kommen neben gelehrten Zirkeln wie der Oldenburgischen Literarischen Gesellschaft von 1799 (Claus Ritterhoff) auch religiös inspirierte, anti-aufklärerische Zusammenschlüsse (Manfred Jakubowski-Tiessen, "Die Christentumsgesellschaft in Nordwestdeutschland"), Vereinigungen reformerischer Berufsgenossen (Hanno Schmitt, "Lehrergeselligkeit und Landschulreform in der Provinz Brandenburg 1809-1816") oder kurzlebige Assoziationen im Umfeld adliger Eliten (Hans Erich Bödeker, "Der Kreis von Münster - Freundschaftsbund, Salon, Akademie?"). Positiv hervorzuheben ist die Beleuchtung des Musiklebens (Ernst Hinrichs, "'Öffentliche Concerte' in einer norddeutschen Residenzstadt im späteren 18. Jahrhundert: Das Beispiel Oldenburg") oder der Blick über die sozialen Eliten hinaus auf die populäre Festkultur (Hans-Heinrich Ebeling über das Duderstädter Schützenfest um 1800). Meist liegt das Schwergewicht auf empirischer Quellenforschung, vor allem anhand von Selbstzeugnissen, und der Klärung von Mitgliederstruktur und Aktivitätsspektrum der jeweiligen Gruppierungen, doch kommen gelegentlich auch theoretische Aspekte zur Sprache: so definitorische Schwierigkeiten mit dem Begriff "Geselligkeit" (im Aufsatz von Otto Ulbricht zum akademischen Milieu Kiels in den 1790er-Jahren) oder "Christian Garves Theorie des Umgangs" (im abschließenden Beitrag von Rudolf Vierhaus). Letztere sollte dem aufstrebenden Mittelstand trotz Wahrung sozialer Unterschiede über Vernunft und verfeinerten Geschmack schichtenübergreifende Beziehungen ermöglichen.
Die detaillierte Lektüre belohnen zahlreiche Einsichten. In ihrem Beitrag zum "Pempelforter Kreis" um Friedrich Heinrich Jacobi erhellt etwa Carmen Götz die Bedeutung einer zunächst marginal erscheinenden Geselligkeitsform. Im Anschluss an Klopstock und Goethe, die den Eislauf als "Symbol des Hinaustretens aus der Stadt" und des Eintretens in die "freie Natur" verherrlichten, erschien er Zeitgenossen als Sinnbild von Autonomie und als Möglichkeit, Wasser gleichsam gottgleich zu überschreiten. Hier lokalisiert Götz - mit Bezug auf Lothar Müller - das für die Empfindsamkeit der Epoche charakteristische "Leben im Zitat". So war es für Wilhelm Heinse, einen langjährigen Hausgenossen der Jacobis, eine "himmelerhebende Adlerwonne für uns, so auf der Blitzesschnelle des Stahls über das Eis zu fliegen und zu schweben" (Brief von 1776; 191). Deutlich wird auch die unverändert große Bedeutung des altehrwürdigen Gastgewerbes für die Sattelzeit um 1800. In seinem Überblick über die ersten Braunschweiger Jahre von Johann Anton Leisewitz beleuchtet Andreas Herz keinesfalls nur das aufklärerische Flagschiff Kaffeehaus, sondern auch Spiele und Tanzveranstaltungen im noblen Hôtel d'Angleterre, zahlreiche Besuche in gewöhnlichen Wirtshäusern und 1778 sogar einen Ausflug mit Lessing und weiteren Notablen "in einen der elendesten hiesigen Bauernkrüge [...] um in einem erbärmlichen Marionettenspiele zu sehen, wie der Prinz Castilio aus Castilien seine Prinzeßin Emelia von einem ungeheurigen Drachen erlöset" (240). Stringent folgert Herz, dass die "Geschichte der Geselligkeit im Aufklärungsjahrhundert [...] auch an den kleinen alltäglichen Vergnügungen der Menschen nicht vorübergehen [darf], stellen sie doch eine kontrapunktische Begleitung der Kultur des kritisch-aufgeklärten Räsonnements dar" (241). Weiter untermauert wird die enge Verzahnung von traditionellen und neuen, elitären und populären Geselligkeitsformen im Beitrag von Peter Albrecht zum Braunschweiger Gastgewerbe um 1810. Auf der Basis von obrigkeitlichen Erhebungen und Zeitungsannoncen entsteht ein eindrückliches Panorama von Betrieben und Attraktionen, doch ohne Gerichtsakten und Reiseberichte mangelt es bezüglich Gästeprofil und -verhalten an Tiefenschärfe. Zudem verzichtet Albrecht auf eine Auseinandersetzung mit der mittlerweile stattlichen Wirtshausforschung. Aus einschlägigen Studien von Gunther Hirschfelder zu Köln, B. Ann Tlusty zu Augsburg, Angela Giebmeyer zu Wesel oder Roland Linde zu Lippe wäre zu Aspekten wie Ausstattung, Konsumangebot und Preise - laut Albrecht "alles Dinge, über die wir heute nicht viel wissen" (324) - eine ganze Menge zu erfahren gewesen.
In der Gesamtbeurteilung beeindruckt der Band durch seine thematische Breite und die detailreichen Analysen der Fallbeispiele. Worin aber liegt das Spezifische der Region "Nordwestdeutschland" und die singuläre Qualität der Aufklärung in der Geschichte der Geselligkeit? Diesbezüglich finden sich höchstens Streiflichter, etwa wenn Jürgen Stenzel im Fall des "Göttinger Hains" die "Gruppenkultur der Klopstockjünger" über Standes- oder regionale Prägungen stellt (369). Wer sich für die Soziabilitätsgeschichte dieses Zeitalters interessiert, darf viele Informationen und Anregungen erwarten, die weitergehende Kontextualisierung bleibt allerdings ein Desiderat der Forschung.
Anmerkung:
[1] Erwähnt sei hier nur Simon Teuscher: Bekannte - Klienten - Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln 1998.
Peter Albrecht / Hans Erich Bödeker / Ernst Hinrichs (Hgg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750-1820 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; Bd. 27), Tübingen: Niemeyer 2002, 548 S., ISBN 978-3-484-17527-3, EUR 108,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.