In einem 1915 abgeschlossenen Aufsatz über "Das Problem des Stiles in der bildenden Kunst" nahm der gerade promovierte Erwin Panofsky kritisch Stellung zu dem Vortrag gleichen Titels, den Heinrich Wölfflin 1911 an der Preußischen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte. Panofksy betont die hohe methodische Bedeutung, die den Darlegungen Wölfflins zukomme, möchte sich aber dennoch gegen dessen Grundannahmen wenden. Gegen Wölfflins These von einer doppelten Wurzel des Stils - "einer psychologisch bedeutungslosen Anschauungsform und einen ausdrucksmäßig interpretierbaren Stimmungsgehalt" insistiert Panofsky darauf, dass sowohl das "individuelle Ausdrucksstreben" als auch jeder Stil einer Epoche erklärungsbedürftig seien. Das schwierige, zwischen Panofsky und Wölfflin strittige Problem der Fassbarkeit, Bedeutsamkeit und Interpretierbarkeit stilistischer Phänomene ist gerade in jüngerer Zeit wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und auch vonseiten der Literatur und Philosophie erörtert worden.
In seiner in den römischen Studien der Bibliotheca Hertziana publizierten Dissertation hat Ulrich Pfisterer die Frage nach dem Stil aufgenommen und zugleich weitergeführt, indem er Stil als historisches Phänomen untersucht. Ihn interessiert das Stilbewusstsein und die Möglichkeit einer absichtsvollen künstlerischen Stilwahl. Dieses Bewusstsein verortet er in der italienischen Kunst des frühen Quattrocento, wo es sich erstmals bei Donatello ausmachen lasse, das heißt einem Künstler, dessen Werk schon der Künstlerhistoriographie eines Vasari als Zeichen für den Beginn einer neuen künstlerischen Ära galt.
In einer durchdachten, von geradezu erschlagender Belesenheit zeugenden Argumentation wird die These von der Entdeckung des Stils im frühen 15. Jahrhundert anhand der Exegese einzelner Werke Donatellos entwickelt. Den Einzelinterpretationen vorangestellt ist ein einleitendes Kapitel, in dem die historische Genese des neuen Stilbewusstseins nachvollzogen wird. Als maßgeblicher Stimulus für seine Entstehung erweist sich jener für den frühen Humanismus so folgenreiche Fund antiker Handschriften, der die Textüberlieferung um rhetorische Schriften bereicherte und damit einen veränderten Blick auf die Antike nahe legte. Schon dieses Kapitel, das an Michael Baxandalls Forschungen zur frühhumanistischen Sicht auf die Kunst anschließt, kann durch seinen zusammenfassenden Charakter und seine auf Verständlichkeit zielende Stringenz als Einführung in die Kunsttheorie des Quattrocento dienen.
Methodischer Ausgangspunkt der gesamten Studie dürfte die Beschäftigung mit Donatellos in Holz geschnitzter Johannesstatue gewesen sein, deren Diskussion Pfisterer jedoch an das Ende seiner Arbeit gestellt hat. Eine 1972 erfolgte Restaurierung brachte an ihr eine Inschrift zu Tage, die neben dem Künstler auch das Jahr der Fertigstellung nennt: 1438. Damit musste dem Werk, das der Stilkritik bis dahin als Zeugnis des späten Schaffens des Künstlers galt, ein neuer Platz in der Chronologie seines Œuvres zugeschrieben werden. Angesichts der sich daraus ergebenden stilgeschichtlichen Aporien hat Artur Rosenauer 1989 erstmals vom Stilpluralismus bei Donatello gesprochen. Diesem Ansatz ist Pfisterer gefolgt, dabei aber auf eine Weise, die über Stilkritik und Künstlerbiographik hinausgeht, wiewohl er deren Methoden für seine Argumentation souverän zu nutzen weiß.
Für den Täufer, der von der Florentiner Kaufmannschaft in Venedig in Auftrag gegeben wurde, rekonstruiert Pfisterer nicht nur den möglichen Aufstellungsort. Er betont vielmehr die künstlerische Leistung Donatellos, die er zum einen im Sichtbarmachen von Sprache, dem visibile parlare ausmacht, denn dieser gibt den Täufer im Augenblick des Predigens wieder. Frappierender noch als das Moment scheinbarer Lebendigkeit ist aber, wie Pfisterer deutlich macht, die Hässlichkeit der Figur. Sie zeigt sich in der schonungslosen Betonung des asketischen Körpers wie des elenden Gewandes und findet sich gespiegelt in der Wahl des niedrigen Werkstoffes, dem Holz. Die so evozierte Bescheidenheit wird durch den prachtvollen goldenen Mantel, den Donatello dem Täufer über das zottelige Fellkleid legte, unterlaufen. (Man kann hier bedauern, dass sich der Verlag trotz der umfangreichen Bebilderung nicht zu einer Farbreproduktion entschließen konnte.) Einfaches wie kostbares Material einerseits und hohe künstlerische Fertigkeit andererseits fügen sich zu einem spannungsvollen Kontrast, der das Paradoxon der Schönheit eines gepeinigten Körpers unterstreicht und seine Deformierung in eine Visualisierung der Tugend des Dargestellten transformiert. Das Bild des Märtyrers dient so als exemplum, womit dem darstellerischen Pathos, dem movere, im Hinblick auf das religiöse Bild eine neue Funktion zukommt, die zu einer Angleichung von christlichen und antiken Darstellungsmodi führt. Um die Differenzen und die gleichzeitige Nähe zwischen humanistischen und christlichen Beurteilungskriterien von Kunst zu diskutieren, kann Pfisterer mit der Schrift De rationibus fidei des Antonio degli Agli (um 1465) und einem gegen Bernardin von Siena gerichteten Text des Andrea Biglia nahezu unbekannte literarische Quellen heranziehen, die neben eher lakonischen Einsichten wie der, dass "Buchstaben in Büchern ihren Platz haben, Bilder aber an den Wänden" von einer bisher zu wenig beachteten Auseinandersetzung um das religiöse Bild im Quattrocento zeugen.
Ganz andere Kriterien müssen dagegen für die fast zeitgleich entstandene Bronze des so genannten Amor Atys gelten. Die geflügelte nackte lachende Kindergestalt, aus deren Rücken ein Sartyrschwänzchen wächst, hat Kopf, Hände und Arme in einem tänzelnden Schritt erhoben. Der (lebensgroße) Kleine trägt ein Paar Flügelschuhe und ist zudem in eine eigenartige Lederhose gekleidet, die den Blick auf Gesäß und Genitalien freigibt. Gestützt durch eine breite Textkenntnis deutet Pfisterer die Figur, die Panofsky als Beleg für das Ende des so genannten Disjunktionsprinzips anführte, in einem ikonographischen Lehrstück als die Personifikation eines antiken Ortsgeistes. Sie ist den Donatellos Œuvre so dominierenden Putten zuzuordnen, die von den Zeitgenossen als "spiritelli" bezeichnet wurden. Pfisterer kann plausibel machen, dass diese spiritelli vor dem Hintergrund jener Fortschreibung der antiken Pneumalehre zu verstehen sind, auf deren Bedeutsamkeit für die Philosophie, Medizin und Theologie der Renaissance etwa Robert Klein hingewiesen hat. So sind auch die putti der Cantoria als Personifikationen der Lebensgeister zu verstehen, die mit ihren bewegten Körpern zugleich die Wirkungen der Lebenskräfte anschaulich vorführen. Anders als diese tanzenden Kindchen dürfte der bronzene spiritello, zu dessen Füßen sich eine Schlange windet, am ehesten im Garten einer Villa seine Aufstellung gefunden haben. Seine Hose wäre dann als Beinkleid eines Landarbeiters zu deuten, er selbst verkörperte als personifizierter spiritus den genius jenes Ortes. Da das Konzept des spiritus, wie Pfisterer zeigt, auch dazu diente, die Einwirkung von Geist auf Materie zu erklären, mag es überraschen, dass er hier zwar auf den Topos der Lebendigkeit des Bildes hinweist, den nahe liegenden Bezug zum Material der Figur aber nicht vollzieht. Denn gerade das Gussverfahren lässt sich, wie Michael Cole jüngst für Cellini nachgewiesen hat, mit dem Begriff des spiritus in Verbindung bringen.
Zwischen den beiden Polen der antik inspirierten Knabengestalt von circa 1440 und dem christlichen Johannes von 1438 situiert Pfisterer als drittes Kernstück des Buches den bronzenen David, dessen erste sichere Aufstellung auf einer Säule im Hof des Palazzo Medici dokumentiert ist. Der Autor plädiert für eine frühe Datierung des Werkes, wobei er eine Entstehung sogar noch vor 1440 wahrscheinlich machen kann. Neben der Deutung der Figur vor dem Hintergrund der Florentiner Lokalpolitik, die auch auf der erneuten gründlichen Lektüre des biblischen Textes basiert, konzentriert sich Pfisterer auf die künstlerischen Aspekte der Davidsikonographie. In Anlehnung an Lavin und Preimesberger zeichnet er jene Tradition nach, in der die alttestamentarische Figur zu künstlerischen Selbstdeutungen genutzt wurde, wozu er als frühsten Beleg einen David von Andrea del Castagno von circa 1450 heranzieht. Damit kann er die Möglichkeit eröffnen, auch in Donatellos David Momente künstlerischer Selbstreflexion auszumachen.
Pfisterer unternimmt den Nachweis, dass sich Donatello mit dem bronzenen David an demjenigen Künstler ausrichtete, der im 15. Jahrhundert als wichtigster antiker Bildhauer galt: Polyklet. Seinem Beispiel verdankt der bronzene David - wie der Autor nachvollziehbar macht - die Weichheit seines Fleisches, aber auch den fast antiken Kontrapost. Damit scheint das Standbild als eine Neugestaltung des polykletschen Kanon. Der Überlieferung zufolge wurde als Kanon ja sowohl eine Skulptur wie auch die verlorene Lehrschrift des Polyklet bezeichnet, wobei jene, den antiken Quellen nach "die Kunst durch ein Kunstwerk offenbart" habe. Die umstrittene Nacktheit des David ist daher als künstlerisch motivierte Voraussetzung für die fehlerlose Präsentation eines fast lebendig scheinenden, bewegten Körpers zu verstehen.
In den Bereich der Anlehnung an das Werk Polyklets ordnet Pfisterer auch die Cavalcanti-Verkündigung, die er außerdem überzeugend mit den Ekphrasen in Dantes Divina Commedia in Verbindung bringt. In den gleichen Zusammenhang der Polyklet-imitatio stellt er zudem die kleinen Puttenreliefs der Cantoria und das in Lille aufbewahrte Relief mit dem Tanz der Salome.
In einem längeren Exkurs, der vielleicht nicht zwingend gewesen wäre, widmet sich der Autor schließlich auch Leon Battista Alberti, den er als Diskussionspartner Donatellos und als Verfasser von "Della Pittura" ins Spiel bringt. Die Art des Austausches zwischen den beiden muss mangels aussagkräftiger Quellen für den Leser notwendig etwas abstrakt bleiben. Albertis Malereitraktat von 1434 deutet Pfisterer als Versuch der Antikenüberbietung und als Ausdruck des patriotischen Wunsches, in Florenz nie gesehene Künste - "arti mai vedute" - ins Leben zu rufen, was in Donatellos Werken seine bildhauerische Analogie gefunden habe.
Donatellos Beschäftigung mit der Antike ist in dieser Sicht nicht allein auf die visuelle Verarbeitung der erhaltenen antiken Kunstwerke beschränkt, sondern wird von Pfisterer auch als das künstlerische Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem literarisch überlieferten Wissen gedeutet. Seine Arbeit ist daher notwendig stark an Texten ausgerichtet. Stil und stilistische Momente begreift der Autor ähnlich wie Panofsky als Bedeutungsträger und damit als Teil oder Korrelat der Ikonographie, geht dabei aber zugleich von einem hohen Bewusstseinsgrad des Künstlers aus. Auch wenn man den Künstler als Gelehrten akzeptiert, scheint der für Donatellos Werke der dreißiger bis Vierzigerjahre rekonstruierte Dreischritt aus sukzessiver imitatio, aemulatio und superatio der Antike vielleicht als etwas zu forciert (wie auch die angenommene Konsequenz in der Selbstdeutung Donatellos als neuer Polyklet fast ein wenig zu stringent sein dürfte). Mit der Frage nach dem historischen Stilbewusstsein eröffnet seine beeindruckende Arbeit eine neue Sicht auf das Problem des Stils.
Ulrich Pfisterer: Donatello und die Entdeckung der Stile 1430-1445 (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana; Bd. 17), München: Hirmer 2002, 658 S., ISBN 978-3-7774-8130-2
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