Seit einigen Jahren ist die Geschichte der Medien und der Kommunikation ein boomendes Thema. Allenthalben wird gefordert, Medien von ihrer Genregeschichte zu lösen und in eine neue, andere Geschichte der Kommunikation der Gesellschaft zu integrieren. Auch der vorliegende Tagungsband widmet sich dieser Aufgabe, Kommunikation und ihre Medien als Konstituenzien von Gesellschaft zu begreifen. Mittels einer kulturgeschichtlichen Fragestellung soll das Verhältnis und die wechselseitige Einflussnahme zwischen Perzeptionshaltung, Medien und ihrer Theoriebildung, das heißt der Selbstthematisierung von Medien in der Gesellschaft, beleuchtet werden.
In der Einleitung formulieren die Herausgeber, beide an der Universität Göttingen, ein kulturwissenschaftliches Arbeitsprogramm, das sich nicht lange an herkömmlichen Fragestellungen der Mediengeschichte inhaltlicher oder genregeschichtlicher Art aufhält, sondern nach der sozialen Bedeutung der Genese der verschiedenen medialen Kommunikationsformen fragt. Sich an den begriffsgeschichtlichen Studien Reinhart Kosellecks orientierend, machen sie für den Zeitraum zwischen 1880 und 1930 eine "massenmediale Sattelzeit" aus, mit deren Vorlauf und Ausläufer der Untersuchungszeitraum auf 1880 bis 1960 ausgedehnt wird. In dieser Zeit, so die Autoren in der Einleitung, sei ein massenmediales Ensemble entstanden, das dem "Verhältnis von 'Medien' und 'Gesellschaft' eine neuartige Qualität" (10) verliehen habe. Begründet wird diese Phase mit der technischen Entwicklung der Medien, ihrer sozialen Integration bis hin zum Fernsehen und der Entstehung einer eigenen Wissenschaft, mithin der eigentlichen Selbstthematisierung der Gesellschaft über Medien und mit Medien. Mit der Konstituierung der Medienwissenschaft als "Normalwissenschaft" sei ein Historisierungsschub der Medien verbunden, vermelden sie; auch ein weit überschießender Theoretisierungsschub, möchte man beim Lesen der Einleitung hinzufügen. Knoch und Morat verstricken sich etwas in den theoretischen Ausführungen, in denen sie mit Vilem Flusser eine "historische Kommunikologie" begründen möchten: "Der Mensch wird auf diese Weise zum medial vermittelten Medium seiner selbst, weil sich so die den Medienreflexionen innewohnenden Selbstbeschreibungen über die Medien wiederum sozial einschreiben" (17).
Die drei Felder von massenmedialer Entwicklung, ihrer praktischen sozialen Be- und Verarbeitung und die Reflexion und Rückkopplungen beider Entwicklungen sollen in den verschiedenen Beiträgen miteinander in Beziehung gesetzt werden. In der Aufteilung des Buches erweist es sich dabei als ein schwieriges Unterfangen, die 80 Jahre mit dieser systematischen Fragestellung abzudecken. Den Auftakt bildet ein theoretischer Einstieg Wolfgang Ernsts in die "Medienarchäologie" als einem von Foucault inspirierten Ansatz zu einer Geschichte der Kommunikation, die die technische Eigenlogik ins Zentrum der Überlegungen stellt. Die übrigen acht Beiträge sind chronologisch geordnet und werden in zeitliche Abschnitte eingegliedert, die jeweils mit einem Motto versehen sind. Die gewählten Überschriften erscheinen dabei nicht immer schlüssig, wie gleich am ersten Teil, "Massenmedien und die Politisierung des Beobachtens im 19. Jahrhundert", deutlich wird. Aus den überzeugenden Beiträgen von Alexa Geisthövel zu Wilhelm I. in der illustrierten Familienpresse und Uffa Jensen über die Rolle der Flugschriften im Antisemitismus-Streit seit den 1870er-Jahren geht zwar deutlich die politische Funktion der jeweiligen Beobachtung und deren Kommunikation in Illustrierten und Flugschriften hervor, aber was das Spezifische einer "Politisierung" in dem Teil des Jahrhunderts darstellt, ist nicht das vornehmliche Erkenntnisinteresse der beiden Beiträge.
Im darauf folgenden Abschnitt, "Die Medialisierung von Produkten als kommunikative Praxis", beschreibt Andreas Mai die Bewerbung der Ferienwohnungen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, wobei er entlang der massenmedialen Entwicklung operiert. Die Anzeigenwerbung wird als kommunikative (Werbe-)Praxis analysiert, in deren Entwicklung das Symbolsystem der Werbung komplexer, die mitgeteilten Aussagen jedoch standardisiert werden. Er dokumentiert mit seiner Analyse aufs Trefflichste die sozialhistorische Entwicklung des Tourismus, die jedoch kaum Erwähnung findet. Rainer Gries plädiert in seinem Beitrag für eine Analyse der "Produktkommunikation", mit der sowohl das Objekt der Konsum- und Werbungsgeschichte erfasst als auch die Frage ihrer medialen werblichen Verbreitung im Zusammenhang analysiert werden können. Darauf aufbauend, entwickelt Gries ein ambitioniertes mehrdimensionales Modell, das darauf abzielt, die Materialität des Produkts und seine mediale Durchwirkung durch Gestaltung sowie Zuschreibung durch Konsumenten zu erfassen.
Der größte Abschnitt des Bandes widmet sich den "Medientheorien und der Medialisierung der Sinne 1920 bis 1950". Die drei Beiträge sind gleichermaßen der Ideen- und Diskursgeschichte von Medientheorien verpflichtet. Während Habbo Knoch die Diskussionen um das Radiohören und die Programmatik des Radios darlegt und beides miteinander verknüpft, um die gesellschaftlichen Selbstthematisierungstechniken und -formen anhand des neuen Mediums offen zu legen, begibt sich Daniel Morat auf das Feld der nicht explizit vorhandenen Medientheorien von Walter Benjamin, Ernst Jünger und Siegfried Kracauer. In einem akribischen ideengeschichtlichen Vergleich fördert er wenige Gemeinsamkeiten, jedoch eine allen gemeinsame "innere Medialität" (177 f.) zu Tage. Die drei entwickelten keine expliziten Medientheorien, bedienten sich aber der medialen Selbstbeobachtung, die in allgemeinere philosophisch-politische Deutungsmuster Eingang fand, ohne die medialen Grundlagen zu verlieren. Damit liefert Morat einen Beleg für die mediale Aufmerksamkeit der intellektuellen Gesellschaftsbeobachter, die Kernaspekte späterer expliziter Medientheorien beinhalteten. Demgegenüber liefert Detlev Schöttker eine intellectual history der expliziten Medientheorie und -ästhetik der Frankfurter Schule, deren Entstehung im Exil und deren Auswirkungen in die Entwicklung der bundesrepublikanischen Medienwissenschaft er verfolgt.
Im letzten Abschnitt schließlich geht es um spezifische Formen von Beobachtung und Kommunikation, nämlich um die der Parteien (auch hier weist die Überschrift "Selbst- und Fremdbeobachtung in der Politischen Kultur nach 1945" einen anderen Weg). Till Kössler macht eine spezifische Verbindung zwischen Kommunikation und Organisation in der KPD aus, die in den besonderen Bedingungen der Partei und der Situation in der frühen Bundesrepublik begründet lag, aber auch Teil der kommunikativen Vorstellungen der Partei war. Ausgehend von der spezifischen Konstitution von Kommunikation als Selbstbeobachtungsparadigma der KPD analysiert er die zunehmende Abschottung der Kommunikation und das darauf fußende kommunikative Scheitern der Partei. Demgegenüber konzentriert sich Frank Bösch in seinem Beitrag auf die Selbstbeobachtung der Partei durch Meinungsforschung. Auf dieser Anpassung an neue Techniken der Beobachtung fußte eine Modernisierung der Kommunikation nach außen mittels PR-gesteuerter Massenmedien. Gerade im Vergleich dieser beiden Beiträge lässt sich ein Erkenntnisgewinn durch den in der Einleitung vorgestellten Ansatz, den Medienwandel mit einem Wandel der Gesellschaftsbilder zu verknüpfen, ausmachen. Dieser reicht über modernisierungstheoretische Vorstellungen einer medialen gesellschaftlichen Fortentwicklung hinaus und zielt stattdessen auf eine Fokussierung des Verhältnisses von politischer Organisation zur Umwelt und deren notwendigerweise über Medien hergestellte Kommunikation. In dieser Perspektive würden die spezifischen Kommunikations- und Ordnungsmodelle politischer Parteien sichtbar und dabei sowohl mit allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen als auch untereinander vergleichbar werden.
Bezeichnenderweise macht die Untersuchung aber gerade an dem Zeitpunkt, an dem die gesellschaftlichen Folgen dieses neuen Medienensembles sichtbar zu Tage treten, Halt. Dies liegt zwar in dem Anliegen, eben eine "Sattelzeit" zu konstruieren, offenbart aber andererseits die Grenzen eines solchen Anspruchs, der sich auf grundlegende Fragen der Medienperzeption beschränkt und dabei die Strapazierung der Sinne im Auge hat, statt auf soziale Folgen und Praktiken der Kommunikation zu schauen. Dass die Massenmedien wie TV oder Telefon sich danach weiterentwickelten und in der Informatik die Entwicklung in Richtung einer Telematik ging bis hin zur Integration des Internets in die alltägliche Kommunikationspraxis und damit wiederum eine andere Theoretisierung (und nicht nur eine Fortsetzung oder Durchsetzung zur "Normalwissenschaft") stattfand, wird dabei ausgeblendet und lässt die Periodisierung wie das Projekt, dieses knappe Jahrhundert der massenmedialen Sattelzeit insgesamt nebulös werden, zumal die Beiträge zeitlich jeweils darüber hinausgehen. Dennoch ist es ein spannender, da provokativer Ansatz zu einer medialen Gesellschaftsgeschichte, zu dem die einzelnen Beiträge viele interessante Punkte als Einstieg liefern.
Habbo Knoch / Daniel Morat (Hgg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München: Wilhelm Fink 2003, 251 S., ISBN 978-3-7705-3822-5, EUR 32,90
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